Rechtspopulismus verstehen: Worum geht es? (Teil 1)

In meinem Kommentar zum Ibiza-Video mit den Herren Strache und Gudenus habe ich die These formuliert, das eigentliche Problem seien die Wähler, die derartigen „Politikern“ ihre Stimme geben.1)https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/strache-ibiza-und-das-eigentliche-problem/ Figuren wie Strache und Gudenus sind austausch- und relativ leicht ersetzbar.2)Das zeigen die Beispiele Frauke Petrys oder André Poggenburgs. Für beide war der Weg von der „Spitze der Bewegung“ in die Bedeutungslosigkeit sehr kurz. Die eigentliche Gefahr ist die mittlerweile recht verbreitete und stabile Stimmungs- und Meinungslage bei Wählern, die derartigen Personen politische Karrieren ermöglichen. Und ich habe angekündigt, Vorschläge anzubieten, wie wir mit diesen Wählerschichten umgehen sollten. Den ersten Teil dieser Ankündigung löse ich mit dieser Folge von Beiträgen zum „Rechtspopulismus“ ein: Die Analyse des „Rechtspopulismus“ aus philosophischer Perspektive.

Mein Vorgehen im Überblick

Zuerst geht es mir um eine Klärung des Begriffes und der Kerninhalte des „Rechtspopulismus“:

  • In Teil 1 nehme ich eine kurze Phänomenbeschreibung vor: Worum geht es eigentlich? Gemeint ist das, was oft und ungenau als „Rechtspopulismus“ bezeichnet wird.3)https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/warum-der-populismusbegriff-ueberfluessig-ist/ 
  • In Teil 2 entwickle ich meine ideologische Diagnose: Worin liegen die Gemeinsamkeiten der diversen Spielarten des „Rechtspopulismus“?

Dann beantworte ich die Frage nach der dynamischen Entwicklung des „Rechtspopulismus“: Wie kam es zu diesem Phänomen? Autoritäre, nationalistische und rassistische Meinungsbilder gab es schon immer. Es wird sie vermutlich auch immer geben. Neu ist ihr zur Zeit beachtlich hoher gesellschaftlicher Verbreitungs- und Akzeptanzgrad. Wie ist das zu erklären? Der erste Teil der Antwort weist nach, dass und wie unser Wohlfahrtsstaat dem Rechtspopulismus den Weg bereitet hat:

  • In Teil 3 entwickle ich meine These, die politische Kultur unseres Wohlfahrtsstaates habe dem „Rechtspopulismus“ konsequent den Weg geebnet.
  • In Teil 4 erläutere ich, wie dadurch eine „rechtspopulistische“ Mentalität gefördert wird. 

Anschließend erkläre ich, wie der „Rechtspopulismus“ diese Steilvorlagen des Wohlfahrtsstaates konsequent für seine fragwürdigen Zwecke nutzt: 

  • Teil 5 skizziert, wie der „Rechtspopulismus“ Schwachstellen unseres Staates nicht nur als Staats-, sondern darüber hinaus als Systemversagen interpretiert. 
  • In Teil 6 beleuchte ich zum Abschluss die rechtspopulistische Taktik, sich als Retter in der Not zu verkaufen. 

Im Anschluss an diese recht ausführliche, sechsteilige Analysephase werde ich dann konkrete kurz- und langfristig angelegte Lösungs- bzw. Handlungsmöglichkeiten anbieten: Wie kann dieser „Rechtspopulismus“ wirkungsvoll entschärft und minimiert oder eingedämmt werden?4)Das kann allerdings noch etwas dauern: Ich habe sehr intensiv an dieser Analysephase gearbeitet, gönne mir eine Pause und hoffe auf einen prima Bergsteiger-Herbst. 

Worum geht es?

Der russische Präsident Putin beschreibt die Entwicklungen, um die es mir geht als „Niedergang des Liberalismus“.5)https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wladimir-putin-gibt-financial-times-vor-g-20-interview-16259499.html Für ihn steht eine westlich-europäisch-freiheitlich geprägte Gesellschaftsform vor der Auflösung, die den Kampf gegen traditionelle, hierarchische, religiöse und autoritäre Werte-Ordnungen in den Augen der eigenen Bürger verloren hat und rapide zerfällt. Seine seelisch-geistigen Verbündeten wie Orban mit seiner illiberalen christlichen Demokratie, Strache mit seiner Verachtung liberaler Rechte oder Trump mit seinem primitiven Nationalismus, der deutlich christliche und rassistische Züge trägt, sehen das ganz ähnlich, arbeiten hoch motiviert daran, den vermeintlichen Zerfall zu beschleunigen und finden damit großen Anklang bei breiten Wählerschichten. Was ist da los?

Im Grunde haben wir es aktuell in vielen Ländern bzw. Staaten mit dem selben Konglomerat an Einstellungen und Geisteshaltungen bei breiten Wählerschichten zu tun:

  • Nationalismus als Gegenhaltung zur wirtschaftlichen Globalisierung, politischen Internationalisierung (z.B. im Rahmen der EU) bzw. zur Orientierung an übernationalen Normen wie Menschenrechten. 
  • Rassismus (oft genug getarnt als Kritik an Israel oder „anderen Kulturen“).
  • Ablehnung nicht traditioneller Lebensentwürfe, die z.B. nicht dem „christlichen Familienbild“ entsprechen. Stichwort Feindbild LGBTQ.
  • Klare und entschlossene Ablehnung der offenen Gesellschaft, ihrer Normen, politischen Institutionen und Mechanismen.
  • Feindbild der „uns“ vermeintlich steuernden „Eliten“ (Journalisten, politisches Establishment, Konzerne – vielleicht auch liberale Privatdozenten für Philosophie).
  • Deutlicher Hang zu Verschwörungstheorien. In Griechenland und Italien sind z.B. die Deutschen bzw. eine von Deutschland dominierte EU an allen Übeln dieser Welt schuld, in den USA sind es wahlweise China, Indien oder die EU/Deutschland/BMW. Bei uns gibt es die durchaus populäre Variante einer angeblich „von oben“ gesteuerten Umvolkung und Islamisierung. Die Engländer werden aktuell von der EU versklavt.
  • Entschlossenes und überzeugtes Einnehmen der Opferrolle nach dem Motto Jetzt lassen wir uns von denen da oben aber nichts mehr gefallen. Grundsätzlich gibt es für alle Probleme irgendwelche Anderen, denen man angeblich das ganze Schlamassel zu verdanken habe – und gegen deren Machenschaften man sich wehren müsse.
  • Ein stark ausgeprägter und oft genug von jeder Faktenlage abgelöster Hang, die eigene Sicht mit der des ganzen Volkes gleichzusetzen: Wir sind das Volk! Damit einher geht sehr oft der Wunsch nach plebiszitärer Demokratie, damit dieser Volkswille endlich zur Geltung kommen möge.
  • Der Wunsch nach politischer Einheit und Einheitlichkeit, umgesetzt in starke und autoritäre Führung.
  • Die Angst vor wirtschaftlichem Abstieg und dessen Folgen wie z.B. Altersarmut.
  • Ein Gefühl der krisenhaften Dringlichkeit, das drastische Maßnahmen unvermeidbar mache. Daraus resultiert oft genug eine gewaltaffine und menschenverachtende Rhetorik. Eines von vielen Beispielen dafür liefert der AfD-Landesvorsitzende von Rheinland-Pfalz, Uwe Junge: Der Tag wird kommen, an dem wir alle Ignoranten, Unterstützer, Beschwichtiger, Befürworter und Aktivisten der Willkommenskultur im Namen der unschuldigen Opfer zur Rechenschaft ziehen werden! Dafür lebe und arbeite ich. So wahr mir Gott helfe!6)https://www.welt.de/politik/deutschland/article196201153/Hart-aber-fair-Einladung-von-AfD-Politiker-Junge-sorgt-fuer-Aerger.html Diese Rhetorik hatten wir schon mal …

Wichtig

Ich rede hier nicht von einer konsistenten und ausgefeilten politischen Theorie. Ich rede von einem lockeren Konglomerat aus zum größten Teil begrifflich unscharfen, inhaltlich unklaren aber emotional sehr wirkungsvollen Konzepten und Vorstellungen. Dieses Konglomerat – man könnte es auch als Gebräu bezeichnen – ist in sich keinesfalls stimmig oder gar konsistent. Seine Bestandteile können je nach Gesellschaft oder Person in unterschiedlichen Ausgestaltungen und Gewichtungen zu unvereinbaren Meinungsbildern führen. So hat z.B. der englische Nationalismus sehr wenig inhaltliche Gemeinsamkeiten mit dem polnischen; die italienische Opferrolle ist nicht kompatibel mit der deutschen.7)Ein konkretes Beispiel greife ich hier auf: https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/warum-ich-fuer-einen-maximal-harten-brexit-bin/ Einige Beispiele zur Veranschaulichung:

  • Die polnischen Rechts-Konservativen teilen vermutlich nicht die Überzeugung der englischen Nationalisten, polnische Einwanderer hätten in Großbritannien nichts zu suchen und wären zivilisatorisch nicht gleichwertig (vornehm ausgedrückt). 
  • Vermutlich können sich die deutschen Nationalisten mit ihren polnischen Kollegen nicht auf den idealen Grenzverlauf einigen – zumindest nicht friedlich. 
  • Aus der Ablehnung der freien Marktwirtschaft folgt nicht, dass man ein gemeinsames Gegenmodell vertreten würde – oder überhaupt ein solches hätte. Gerade im Bereich der Wirtschaft gibt es wenig durchdachte Alternativvorstellungen – meistens läuft es auf irgendeine Form von romantisch-verschwurbeltem nationalem Kooperativismus oder nationalem Sozialismus hinaus.
  • Orbans Konzept eines christlichen Illiberalismus dürfte gerade in Hochburgen der AfD in den östlichen Bundesländern wenig Begeisterung hervorrufen. Man hat dort, bedingt durch die DDR-Vergangenheit, eher wenig Bezug zum Christentum und sieht in der katholischen Geistlichkeit auch keine intellektuelle Elite. In Polen ist das wiederum ganz anders.
  • Die eigene Opferrolle ist aus anderem Blickwinkel oft genug eine Täterrolle: Viele deutsche Rechte sehen Deutschland nicht als Täter im Rahmen der griechischen Misere, sondern als Opfer der griechischen Tricksereien zum Euro im Rahmen diverser Rettungsprogramme bzw. bei der Aushebelung der Reformvorhaben. 
  • Die allermeisten deutschen Rechts-Nationalen können der polnischen Kriegsschuld- und Wiedergutmachungsdebatte nichts abgewinnen. 

Die gute Nachricht

Vor einer nationalistischen Internationale müssen wir uns nicht fürchten. An dieser prima facie verführerischen aber bei zweitem Hinsehen unrealistischen Idee arbeitet sich aktuell der in den USA sogar in der Trump-Regierung gescheiterte Politkasperl John Bannon ab. Das ist gut so – dann stiftet er wenigstens kein richtiges Unheil. 8)https://nzzas.nzz.ch/international/trumps-frueherer-berater-bannon-auf-mission-europa-ld.1428087?reduced=trueDie EU bzw. der Gedanke eines vereinten Europa ist ja gerade die Antwort auf die durch diese ganzen Nationalismen erzeugten Probleme, Reibereien und Konflikte!

Warum ist dieses Konglomerat so stabil?

Es ist nicht leicht, rational und systematisch gegen ein derartiges Konglomerat zu argumentieren. Das hat vor allem drei Gründe:

  • Gerade die Unschärfen, Unklarheiten und Unstimmigkeiten dieses Konglomerates eröffnen vielfältige Ausweichmöglichkeiten. Bewegliche Ziele sind schwer zu treffen – vor allem, wenn sie ständig ihre Gestalt verändern.
  • Die eigentliche Durchschlagskraft dieser Ideen wurzelt nicht in deren rationaler, empirischer oder normativer Qualität. Nationalismus, Rassismus, autoritäre oder religiöse Staatsformen können mittlerweile als argumentativ nicht haltbar eingestuft werden. Die Kraft dieser Konzepte entspringt einer anderen Quelle, einer arationalen: Es geht um tief verwurzelte Emotionen, Vorurteile, Ängste und Wünsche. Damit ist sehr oft ein ausgeprägtes subjektives Gewissheitsgefühl verknüpft – auch deshalb ist es nicht leicht, mit ruhiger und rationaler Argumentation zu punkten.
  • Dazu kommt, dass ein wesentlicher Teil dieses Konglomerates Immunisierungsstrategien bzw. Verschwörungstheorien sind, die es gerade vor rationaler Kritik schützen sollen. Kritische Instanzen wie eine freie Presse oder die Wissenschaft und deren Erkenntnisse werden systematisch abgewertet und sogar zum „Feind“ erklärt. Stichwort Lügenpresse.9)Falls diese drei Charakteristika Sie an das Phänomen Religion erinnern sollten: Stimmt.

Die Gefahr

Wovor wir uns allerdings fürchten sollten, ist das, was diese Leute anstreben: Ein Kontinent bzw. eine Welt der nationalistischen Kleingeisterei, der geistigen Enge und der provinziellen Großmannssucht – und der daraus resultierenden Spannungen und Konflikte. Auf der Strecke blieben: Die liberalen Freiheits- und Schutzrechte, Ideale wie die offene Gesellschaft, die freie Marktwirtschaft und internationale Institutionen wie die EU oder übernationale Gerichtshöfe. Also eigentlich alles das, was bis vor kurzer Zeit als politische Konsensbasis betrachtet werden konnte.

Um diese Gefahr wirkungsvoll zu bekämpfen, muss man sie verstehen. Dieser Punkt führt direkt zur ideologische Diagnose: Worin liegen die Gemeinsamkeiten der diversen Spielarten des „Rechtspopulismus“?

Zum Schluss noch eine Bitte in eigener Sache

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PD Dr. Andreas Edmüller, 21. September 2019

References   [ + ]

1. https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/strache-ibiza-und-das-eigentliche-problem/
2. Das zeigen die Beispiele Frauke Petrys oder André Poggenburgs. Für beide war der Weg von der „Spitze der Bewegung“ in die Bedeutungslosigkeit sehr kurz.
3. https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/warum-der-populismusbegriff-ueberfluessig-ist/
4. Das kann allerdings noch etwas dauern: Ich habe sehr intensiv an dieser Analysephase gearbeitet, gönne mir eine Pause und hoffe auf einen prima Bergsteiger-Herbst.
5. https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wladimir-putin-gibt-financial-times-vor-g-20-interview-16259499.html
6. https://www.welt.de/politik/deutschland/article196201153/Hart-aber-fair-Einladung-von-AfD-Politiker-Junge-sorgt-fuer-Aerger.html
7. Ein konkretes Beispiel greife ich hier auf: https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/warum-ich-fuer-einen-maximal-harten-brexit-bin/
8. https://nzzas.nzz.ch/international/trumps-frueherer-berater-bannon-auf-mission-europa-ld.1428087?reduced=true
9. Falls diese drei Charakteristika Sie an das Phänomen Religion erinnern sollten: Stimmt.

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