Rechtspopulismus verstehen: Zur Wahl in Thüringen

Die Wahl am 27.10.2019 in Thüringen ist historisch bedeutsam. Zum ersten mal seit Gründung der Bundesrepublik haben dezidiert verfassungsfeindliche Parteien zusammen die absolute Mehrheit an Stimmen und Sitzen erringen können. Anders ausgedrückt: Mehr als die Hälfte der Wähler dieses Bundeslandes hat sich bewusst von den liberalen Kernprinzipien unseres Rechtsstaates, unserer Verfassung und unserer Gesellschaftsordnung verabschiedet. Sie sehen die Zukunft in irgendwelchen verquasten rechten oder linken Gegenentwürfen dazu.

  • 31% haben die SED-Nachfolger gewählt, eine Partei, die immer noch von ehemaligen kommunistischen Kadern und Stasi-Leuten durchsetzt ist, die in ihrem Grundsatzprogramm dafür plädiert, den Sozialismus wieder einzuführen und seit 1989 mit aller Energie und auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen den liberalen Geist unserer Verfassung bekämpft. Das alles wissen die Wähler der Linken.
  • 23,4% haben die AfD gewählt, deren Spitzenkandidat Höcke unverhohlen und aggressiv rechtsextremes, völkisches und freiheitsfeindliches Gedankengut vertritt, gezielt gewaltaffine Rhetorik pflegt und der laut Gerichtsbeschluss als Faschist bezeichnet werden darf. Das alles wissen die Wähler der AfD.

Offensichtlich graust es der Mehrheit der Thüringer Wähler vor keinerlei Extremismen und Radikalismen. Wer angesichts dieser Entwicklung immer noch an im Grunde harmlose Protestwähler oder eine verständliche Verstimmung im Osten aufgrund unzureichender Lebensbedingungen oder schlechter Busverbindungen auf dem Lande als Erklärung glaubt, der sollte ernsthaft und zügig an seinem Realitätsbezug arbeiten. 

Meine Analyse des Rechtspopulismus wurde bestätigt

Heute möchte ich meine sechsteilige Analyse des Rechtspopulismus durch einige Beobachtungen zur Wahl in Thüringen abrunden. Die Wählerbewegungen untermauern meine Thesen und Ergebnisse:1)https://www.welt.de/politik/deutschland/article202591416/Waehlerwanderung-Thueringen-Linke-und-AfD-schreddern-CDU-und-SPD.html

  • Ich argumentiere, dass der Universalstaat zu einer Erosion des in der Verfassung verankerten Gerechtigkeitskonzeptes bei sehr vielen Bürgern führt. Die Folge: Normative Beliebigkeit, d.h. Abschwächung oder Verlust klarer Vorstellungen von Gerechtigkeit. Konkret: Die liberale Gerechtigkeitsidee unserer Verfassung mit dem Konzept der Menschenwürde als Kern gilt nicht mehr als markanter Bezugspunkt. Das erklärt meines Erachtens sehr gut, warum die AfD aus allen (!) politischen Richtungen Wähler hinzugewinnen konnte: 37000 von der Union, 8000 von der SPD, 18000 von der Linken. Das erklärt auch das erschreckende Ergebnis bei den Erstwählern: Die meisten Erstwähler haben die Linke gewählt (10000), dahinter rangiert die AfD mit 7000. Zum Vergleich: CDU und Grüne haben jeweils 6000 Erstwähler gewinnen können. Die naheliegende Frage: Was geht in den Köpfen dieser jungen Menschen vor, die doch gerade mehrere Jahre Geschichtsunterricht durchlebt haben? Und diese weitgehende Beliebigkeit und Unverbindlichkeit in Bezug auf Werte erklärt auch, warum die CDU in Thüringen gleich am Tag nach der Wahl ernsthaft darüber nachdenkt, mit den SED-Nachfolgern in Zukunft zusammenzuarbeiten. So sieht Werteverfall konkret aus.
  • Ich argumentiere, dass es den Rechtspopulisten gut gelungen ist, das immer schon vorhandene rechtsextreme Überzeugungsreservoir im relativ großen Bereich der Nichtwähler für ihre Zwecke zu aktivieren. Die AfD hat 81000 Stimmen von vormaligen Nichtwählern gewinnen können. Zum Vergleich: Die Linke hat 60000 und die Union 46000 geschafft. Klare Gewinner in dieser „Disziplin“ der Mobilisierung sind also die Parteien, die gegen die Verfassung stehen.2)Der Erfahrungsbericht eines Thüringers über seine Jugend ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich: https://www.bento.de/politik/thueringen-rechtes-denken-war-schon-immer-da-bericht-aus-meiner-jugend-a-745a3085-44bb-4cf8-b477-8c7f61b77ab3#refsponi
  • Ich argumentiere, dass es die Rechtspopulisten zumindest bisher geschafft haben, die eigenen irrationalen Vorstellungen (Nationalismus, Rassismus, kindische Ideen vom Funktionieren der Wirtschaft, hirnfreie Verschwörungstheorien wie die von der Umvolkung etc.) gegen rationale Kritik zu immunisieren. Diese Wahnideen werden durch Leitfiguren wie Höcke sehr präzise und offensiv verkörpert und vertreten – und diese Leitfigur ist am Sonntag vor dem Hintergrund leicht zugänglicher und ebenso leicht verständlicher rationaler Gegenargumente zu einem klaren Wahlsieger gemacht worden. Erschwerend kommt hinzu, dass nach dem Angriff auf die Synagoge in Halle viele dieser Argumente gegen das rechtspopulistische Gebräu im Vorfeld der Wahl noch einmal in aller Ausführlichkeit diskutiert wurden. Also: Wer daran glaubt, dass rationale Argumentation, Mahnwachen und Demonstrationen, Appelle an die Vernunft, Betroffenheitsansprachen, oder inhaltliche Verbesserungen im Geschichtsunterricht (oder bei den Busfahrplänen) für sich genommen taugliche Waffen gegen den Rechtspopulismus sind, befindet sich in einem gefährlichen Irrtum.3)Übrigens: Auch die Grundrente und andere „soziale Wohltaten“ sind dazu gänzlich ungeeignet. Aber sagen Sie das bitte nicht der SPD – die weiß sonst gar nicht mehr, was sie tun soll … und außerdem sind die ja seit Jahren mit einem hochkomplexen Prozess der Selbstfindung mehr als genug beschäftigt. Höcke und die AfD wurden nicht aufgrund irgendwelcher Missverständnisse gewählt, sondern weil sie klar und entschlossen für rechtsextreme Positionen stehen und glaubhaft versprechen, diese umzusetzen, sobald wir ihnen dazu die Möglichkeit geben!

In absehbarer Zeit werde ich an dieser Stelle meine Vorschläge veröffentlichen, wie dem Rechtspopulismus wirkungsvoll begegnet werden kann. Es wird allerdings noch ein bisschen dauern, da ich meine Argumentation ähnlich systematisch entwickeln und begründen möchte wie die Analyse des Rechtspopulismus. 

Zum Schluss noch eine Bitte in eigener Sache

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PD Dr. Andreas Edmüller, 29. Oktober 2019

References   [ + ]

1. https://www.welt.de/politik/deutschland/article202591416/Waehlerwanderung-Thueringen-Linke-und-AfD-schreddern-CDU-und-SPD.html
2. Der Erfahrungsbericht eines Thüringers über seine Jugend ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich: https://www.bento.de/politik/thueringen-rechtes-denken-war-schon-immer-da-bericht-aus-meiner-jugend-a-745a3085-44bb-4cf8-b477-8c7f61b77ab3#refsponi
3. Übrigens: Auch die Grundrente und andere „soziale Wohltaten“ sind dazu gänzlich ungeeignet. Aber sagen Sie das bitte nicht der SPD – die weiß sonst gar nicht mehr, was sie tun soll … und außerdem sind die ja seit Jahren mit einem hochkomplexen Prozess der Selbstfindung mehr als genug beschäftigt.

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