Teil 5: Was versteht der Verfassungsschutz unter Extremismus?

Extremismus ist in der Öffentlichkeit zu einem Kampfbegriff geworden: 1)Vgl. Gereon Flümann (Hrsg.): Umkämpfte Begriffe. Deutungen zwischen Demokratie und Extremismus. Bonn 2017. Es geht meist um Deutungshoheit auf der einen und um Diskreditierung auf der anderen Seite. Extremismus ist von Haus aus ein wertender Begriff. Schon der Name macht klar, dass wir es mit einer Abweichung von einer bestimmten Norm zu tun haben; wir befinden uns an den Rändern eines bestimmten Rahmens.

Nun sind Normen nicht absolut, sondern von Menschen gesetzt, also variabel. So bezeichnen die ägyptischen Muslimbrüder sich selbst als wasatiya (Mitte) und ihre Ideologie als den gemäßigten Weg der Mitte, zwischen dem gewalttätigen Jihadismus und dem aus ihrer Sicht religionsfeindlichen Säkularismus. In Deutschland werden die Muslimbrüder dagegen als extremistisch eingeordnet. Variiert also Extremismus je nach Koordinatensystem?

Genau hier setzt oft und gerne Kritik an: Der Extremismusbegriff sei ein Instrument der „herrschenden Klasse“, um Gegner zu diffamieren. Aber sowohl diese Kritik, als auch die gängige Vorstellung, je toleranter und pluralistischer eine Gesellschaft, desto relativistischer sei der Staat, zielt am Konzept der freiheitlichen Grundordnung und damit an ihrem Extremismuskonzept vorbei.2)Vgl. z.B. Armin Pfahl-Traughber: Kritik der Kritik der Extremismus- und Totalitarismustheorie. Eine Auseinandersetzung mit den Einwänden von Christoph Butterwegge. In: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.): Jahrbuch für Extremismus und Terrorismusforschung 2009/2010; Armin Pfahl-Traughber: Kritik der Kritik der Extremismus- und Totalitarismustheorie. Eine Auseinandersetzung mit einschlägigen Vorwürfen. In: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.): Jahrbuch für Extremismus und Terrorismusforschung 2013, Brühl, 2013, S. 31-55; Mathias Brodkorb: Kritik der Kritik – Über die missverstandene Extremismustheorie (23. Juli 2010). In: https://blog.zeit.de/stoerungsmelder (gelesen im August 2019); Armin Pfahl-Traughber: Die blinden Flecken in der Kritik an der Extremismustheorie. Eine Antwort auf Jonathan Riedl und Matthias Micus (Februar 2018). In: https://www.fodex-online.de (gelesen im August 2019); Und weil in den letzten Jahren immer wieder die Vorwürfe kamen, die Extremismustheorie verunglimpfe einseitig linke Positionen, erinnert ein weiterer Beitrag an die linken Gründungsväter der Extremismustheorie: Armin Pfahl-Traughber: Von Norberto Bobbio und Ernst Fraenkel über Thomas Meyer bis zu Karl Popper und Bertrand Russell. Fünf linke Beiträge zur Extremismustheorie. In: Armin Pfahl-Traughber: Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2015/17 (I). Brühl 2016, S. 31-60. Anmerkung Herausgeber: Das ist die längste Fußnote in diesem Blog!

Die rechtliche Grundlage

Es mag überraschen, aber der Begriff Extremismus kommt im Gesetz gar nicht vor: Das Gesetz spricht stattdessen nur von „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.“

Alle diese inhaltlich ganz unterschiedlichen Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) bezeichnen Verfassungsschützer als extremistisch: 

  • Die Frage nach dem Extremismus ist eine schlichte Alternative  – extremistisch oder nicht, ja oder nein. 

Dies gilt ganz gleich, ob die Bestrebung gegen nur ein Prinzip der fdGO gerichtet ist oder gegen alle, ob die Protagonisten dabei Gewalt ablehnen, befürworten oder sogar anwenden, bzw. anzuwenden bereit sind. Die Frage nach der Intensität des Extremismus ist eine andere und davon unberührt. Aber so wie Taschendiebstahl und Mord beides Straftaten sind, wenn auch von unterschiedlichem Grad des Eingriffs in die Grundrechte anderer, so gibt es unterschiedliche Grade von Extremismus. Es ist in diesem Zusammenhang ein wiederkehrender Vorwurf: 

  • Der Verfassungsschutz setze beispielsweise Rechtsterrorismus und linksextremistischem Aktivismus gleich. Das stimmt genauso wenig wie die Behauptung, die Polizei setze verschiedene Straftaten gleich.

Der gesetzliche Auftrag kommt sogar ohne die Erwähnung von Phänomenbereichen aus – das Gesetz nennt weder Rechts- noch Linksextremismus, erst recht nicht religiöse Varianten wie den Islamismus. Damit kann der Verfassungsschutz flexibler auf neue Bedrohungen reagieren.

Der Unterschied zur Politikwissenschaft

In der Politikwissenschaft gibt es sehr viele unterschiedliche Definitionen von Extremismus: Im Unterschied zum gesetzlichen Auftrag wird Extremismus in der Wissenschaft meist positiv definiert, d.h. es wird erklärt, was Extremismus ist. Extremismusforscher wie Pfahl-Traughber oder Backes und Jesse haben Strukturmerkmale des Extremismus identifiziert und formuliert.3)Vgl. Armin Pfahl-Traughber: Gemeinsamkeiten im Denken der Feinde einer offenen Gesellschaft. Strukturmerkmale extremistischer Doktrine. In: Ders. (Hg.): Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2009/2010. Brühl 2010, S. 9-32. Uwe Backes, Eckart Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 1996, S. 45-47. 

Der Verfassungsschutz dagegen kennt nur eine Begriffsbestimmung: 

  • Extremismus ist alles, was die Grundrechte beschneidet. 

Aber auch in der Politikwissenschaft gibt es eine negative Definition, die der verfassungsschutzrechtlichen sehr nahe kommt, nämlich die von Karl Popper. Ihm zufolge steht die offene Gesellschaft im Gegensatz zu totalitären, geschlossenen Gesellschaften, die vor dem Hintergrund einer Wahrheit oder Offenbarung einen Heilsplan verfolgen. In der offenen Gesellschaft sind staatliche Neutralität, sowie individuelle Grundrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit grundlegend.4)Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. München 1957.

Der zentrale Unterschied: Die Politikwissenschaft will das Phänomen beschreiben, der Staat muss das Phänomen bekämpfen. Und hier erweist sich das Nichtdefinieren als Vorteil.

  • Das Fehlen der positiven Definition und der explizite Bezug auf die nicht endgültig festgesetzte, durch das Bundesverfassungsgericht anlassbezogen neu zu definierende, freiheitliche demokratische Grundordnung ermöglicht Flexibilität gegenüber neuen Bedrohungen. 

Ein Beispiel: So eröffneten die Bestrebungen sowohl des Islamismus, einer Form des religiös motivierten Extremismus, als auch der verfassungsschutzrelevanten Islamfeindlichkeit den Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes aufgrund des geltenden Gesetzes – obwohl die Protagonisten der Letzteren weder den Staat bekämpften, sich formal offensiv zur Demokratie in ihrer aktuellen Form bekennen, noch eindeutig einem Phänomenbereich zuzuordnen waren.5)Die verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit wird als eigener Phänomenbereich nur in Bayern beobachtet.

Warum wird der Begriff Extremismus eigentlich genutzt?

Verfassungsschützer sprechen also von Extremismus, sobald sich die Erkenntnisse zu den Bestrebungen gegen die fdGO verdichten. Aber eigentlich käme der Verfassungsschutz ganz gut ohne den Begriff Extremismus aus. Die Behörden hätten auch ohne diesen Begriff dieselben Aufgaben. 

  • Der Begriff Extremismus ist schlicht weniger sperrig als Personen und Personenzusammenschlüsse, von denen Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen. 

Vermutlich kann man sich mit dem Begriff Extremismus in der Öffentlichkeit besser verständlich machen. Man benötigt dann eben doch eine eingängige Bezeichnung.

Die neue Ausformulierung der gesetzlichen Grundlage durch das Bundesverfassungsgericht

Das Verbotsurteil zur Sozialistischen Reichspartei (SRP, eine Nachfolgeorganisation der NSDAP) im Jahr 1952 betonte den liberalen Kern unserer Verfassung. So wurde die freiheitliche demokratische Grundordnung folgendermaßen präzisiert: 

  • Freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 GG ist eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition. 6)BVerfGE 2,1 (Ls. 2, 12f.)

Diese im Urteil genannten acht Prinzipien waren fortan maßgeblich für Extremismusbewertungen. Wann immer der Verfassungsschutz eine Organisation als extremistisch bezeichnet, sind ihr Bestrebungen gegen mindestens eines dieser Prinzipien nachzuweisen. 

Erst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Verbotsverfahren der NPD vom 17. Januar 2017 setzte einen neuen Akzent, indem es einige der Prinzipien besonders betonte und somit die Extremismusbewertung auf diese konzentrierte: In seiner Begründung für die Verfassungsfeindlichkeit fokussierte das Urteil auf den Begriff der Menschenwürde. In ihm finde die fdGO ihren Ausgangspunkt. Andere Prinzipien, wie das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip gestalteten das die fdGO überwölbende Prinzip der Menschenwürde nur näher aus. 

Wenn es nunmehr um die Extremismusbewertung geht, werden auch die weiteren Grund- und Menschenrechte fortan auf ihren menschenwürderechtlichen Kern zurückgeführt.7)Siehe auch: Dr. Gunter Warg: Nur der Kern des demokratischen Rechtsstaats – die Neujustierung der fdGO im NPD-Urteil vom 17.1.2017. NVwZ-Beilage 2017, 42. Dem Gedanken der Menschenwürde steht beispielsweise der Volksbegriff der NPD entgegen, sowie deren fremden- und minderheitenfeindliche Positionen. 8)Zwar waren diese Positionen bisher auch schon verfassungsfeindlich, neu ist die dezidierte Verknüpfung der Begründung mit dem Begriff der Menschenwürde. 

Aber auch Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip gelten dem Gericht als zentrale Punkte. Es handelt sich nicht um eine Verwerfung der bisherigen Bewertungskriterien, sondern um eine neue Schwerpunktsetzung in Bezug auf das Individuum. Im Grunde betont das Gericht den liberalen Charakter des Grundgesetzes: Der Staat ist für den Menschen da, nicht umgekehrt.

Fazit

  • Zentrales Schutzgut der freiheitlichen Demokratie sind die individuellen Grundrechte. Der Pluralismus der freiheitlichen Demokratie ist deshalb weder relativistisch noch beliebig, sondern ermöglicht ein Maximum an Freiheit.
  • Wer den Kern der individuellen Grundrechte gefährdet, gilt in der freiheitlichen Demokratie als Extremist. Deshalb werden die aktiven Bemühungen, die Freiheit einzuschränken, beobachtet. Im Übrigen betrifft jede Einschränkung der Freiheit eines Einzelnen auch Alle. 
  • Unter dem Begriff Extremismus werden die Aktivitäten zusammengefasst, welche die freiheitliche Grundordnung gefährden und bekämpfen. Extremismus ist für den Verfassungsschutz niemals eine bloße Gesinnung. Die Gesinnungen der Bürger werden in freiheitlichen Demokratien nicht erhoben und erst recht nicht sanktioniert.
  • Die wichtigste gesetzliche Aufgabe des Verfassungsschutzes, die Beobachtung extremistischer Bestrebungen, welche auf der Definition der freiheitlich demokratischen Grundordnung fußt, ist im Lauf der Jahre durch das Bundesverfassungsgericht präzisiert worden. Der liberale Charakter des Grundgesetzes wurde dabei zunehmend betont.

Judith Faessler, 22. Februar 2021

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References   [ + ]

1. Vgl. Gereon Flümann (Hrsg.): Umkämpfte Begriffe. Deutungen zwischen Demokratie und Extremismus. Bonn 2017.
2. Vgl. z.B. Armin Pfahl-Traughber: Kritik der Kritik der Extremismus- und Totalitarismustheorie. Eine Auseinandersetzung mit den Einwänden von Christoph Butterwegge. In: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.): Jahrbuch für Extremismus und Terrorismusforschung 2009/2010; Armin Pfahl-Traughber: Kritik der Kritik der Extremismus- und Totalitarismustheorie. Eine Auseinandersetzung mit einschlägigen Vorwürfen. In: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.): Jahrbuch für Extremismus und Terrorismusforschung 2013, Brühl, 2013, S. 31-55; Mathias Brodkorb: Kritik der Kritik – Über die missverstandene Extremismustheorie (23. Juli 2010). In: https://blog.zeit.de/stoerungsmelder (gelesen im August 2019); Armin Pfahl-Traughber: Die blinden Flecken in der Kritik an der Extremismustheorie. Eine Antwort auf Jonathan Riedl und Matthias Micus (Februar 2018). In: https://www.fodex-online.de (gelesen im August 2019); Und weil in den letzten Jahren immer wieder die Vorwürfe kamen, die Extremismustheorie verunglimpfe einseitig linke Positionen, erinnert ein weiterer Beitrag an die linken Gründungsväter der Extremismustheorie: Armin Pfahl-Traughber: Von Norberto Bobbio und Ernst Fraenkel über Thomas Meyer bis zu Karl Popper und Bertrand Russell. Fünf linke Beiträge zur Extremismustheorie. In: Armin Pfahl-Traughber: Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2015/17 (I). Brühl 2016, S. 31-60. Anmerkung Herausgeber: Das ist die längste Fußnote in diesem Blog!
3. Vgl. Armin Pfahl-Traughber: Gemeinsamkeiten im Denken der Feinde einer offenen Gesellschaft. Strukturmerkmale extremistischer Doktrine. In: Ders. (Hg.): Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2009/2010. Brühl 2010, S. 9-32. Uwe Backes, Eckart Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 1996, S. 45-47.
4. Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. München 1957.
5. Die verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit wird als eigener Phänomenbereich nur in Bayern beobachtet.
6. BVerfGE 2,1 (Ls. 2, 12f.)
7. Siehe auch: Dr. Gunter Warg: Nur der Kern des demokratischen Rechtsstaats – die Neujustierung der fdGO im NPD-Urteil vom 17.1.2017. NVwZ-Beilage 2017, 42.
8. Zwar waren diese Positionen bisher auch schon verfassungsfeindlich, neu ist die dezidierte Verknüpfung der Begründung mit dem Begriff der Menschenwürde.

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