Vorbemerkung zur Verfassungsschutzreihe

In meiner Analyse des Rechtspopulismus habe ich als eine der Maßnahmen dagegen den konsequenten Einsatz des Verfassungsschutzes empfohlen: Natürlich darf und soll auch ein liberaler Staat sich gegen Angriffe von innen und außen schützen. In diesem Zusammenhang hatte ich angekündigt, das Thema in unserem Blog zu vertiefen – und dass ich dafür eine Expertin gewinnen konnte.1)https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/rechtspopulismus-eindaemmen-tun-teil-6/

Es hat ein bisschen gedauert, aber das Ergebnis liegt jetzt vor: Informationen und Einblicke aus erster Hand zu einem Thema, über das sehr viele nur sehr wenig wissen, zu dem sehr viele windschiefe Meinungen vertreten werden. Ich selbst habe dabei und daraus viel gelernt. Mit einem herzlichen Dankeschön übergebe ich an unsere Gastautorin.2)Hier ein sehr gelungenes Porträt: https://rahmsdorf.eu/2018/08/wir-koennen-noch-viel-von-ihm-lernen/

PD Dr. Andreas Edmüller, 20. Februar 2021

 

 

Extremismus, Terrorismus, Spionage – das sind die häufigsten Schlagworte, in deren Zusammenhang der Verfassungsschutz genannt wird. Viele Bürger verbinden ihn zudem mit Skandalen auf der einen Seite und fantastischen 007-Vorstellungen auf der anderen. Zwischen „Aufrüsten“ und „Abschaffen“ bewegen sich die Forderungen. Er polarisiert stark, obwohl oder gerade weil die Öffentlichkeit von seiner erfolgreichen Arbeit möglichst wenig mitbekommen sollte. Deshalb erscheint er unnötig, wenn nichts passiert. Wenn aber doch etwas passiert, wird ihm vorgeworfen, zu wenig getan zu haben. Er soll Frühwarnsystem sein, aber möglichst spät eingreifen. Geheim sein, aber zugleich transparent.

  • Was macht die Behörde, die jedes Schreddern akribisch dokumentiert, und dennoch für manche als unkontrollierbar gilt?
  • Was sind die Aufgaben der Verfassungsschützer?
  • Warum kommt es immer wieder zu Skandalen?
  • Brauchen wir überhaupt einen Verfassungsschutz?

Offene Gesellschaft und Rechtsstaat: Erosionsgefahr!

Der Verfassungsschutz soll unsere Demokratie schützen. Aber wie? In Zeiten, in denen wir nicht mehr nur aus der Geschichte lernen, sondern Nachbarländer und ehemalige Vorbilder aktuell vorführen, wie Demokratien erodieren, hat die Frage an Aktualität gewonnen. Wir können derzeit Regierungen beobachten, die trotz oder aufgrund antidemokratischer Handlungen Unterstützung erfahren. Wir erleben Zivilgesellschaften, die die offene Gesellschaft nicht schützen, sondern verschließen wollen:

  • Viktor Orbán kann sich dank eines neuen Gesetzes in Ungarn über die Gewaltenteilung hinwegsetzen.
  • In den USA konnten wir in den letzten vier Jahren beobachten, wie zahlreiche von der Verfassung vorgesehene Schutzmechanismen umgangen und außer Kraft gesetzt wurden.
  • Recep Tayyip Erdogan hat die Türkei innerhalb weniger Jahre in eine „Gesinnungsdemokratie“ verwandelt.
  • Wladimir Putin hat demokratische und freiheitliche Bestrebungen erfolgreich ausgebremst, womit Russland seine autokratische Traditionslinie fortführt.
  • Hugo Chávez´ Ziel war die Zerschlagung der bürgerlich-demokratischen Kultur, was ihm in Venezuela auch gelungen ist. Das Land hat sich seitdem noch nicht davon erholt.
  • Jair Bolsonaro schleift derzeit Brasiliens Demokratie mit einem evangelikal-faschistischen Programm.
  • Narendra Modi demontiert Indiens säkulare Prinzipien, mit dem Ziel eine hinduistisch-identitäre Nation aufzubauen.

All diese Entwicklungen sollten Demokraten beunruhigen. Würden auch hierzulande die Sicherungsmechanismen versagen, wenn eine antidemokratisch gesinnte Persönlichkeit an die Macht kommt? Was passiert, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung weder die Freiheit noch die Offenheit der Gesellschaft mehr zu schätzen weiß? Welche Schutzmechanismen bietet die deutsche Demokratie gegen diese Entwicklungen?

Aufgabenspektrum: Unbekannt

Tatsächlich haben diese Gedanken schon die Entstehung des Grundgesetzes begleitet und geprägt. Eines der Ergebnisse davon ist der in Artikel 70 des Grundgesetzes vorgesehene Verfassungsschutz. Um etwas über die Aufgaben des Verfassungsschutzes zu erfahren, kann man natürlich die Homepage des Bundesamts oder eines der 16 Landesämter aufsuchen. Dort und in jedem Verfassungsschutzbericht (ob des Bundes oder eines der Länder) sind die Aufgaben vollständig und juristisch korrekt beschrieben. Außerdem sollte die Bevölkerung über die Medien regelmäßig über den Verfassungsschutz informiert werden. In der Tat, kaum ein Tag vergeht ohne dessen Erwähnung in der Presse. Manchmal auch als Hauptfigur, wie am 7. November 2020, als der Teaser eines Artikels lautete:

  • 70 Jahre Bundesamt für Verfassungsschutz – das ist auch Anlass für einen kritischen Rückblick. Denn die Geschichte des Inlandsgeheimdienstes ist auch eine Geschichte der Skandale, Stichwort: NSU.3)Michael Götschenberg: „Es war nicht alles Gold“. 70 Jahre Verfassungsschutz (07.11.2020), in: www.tagesschau.de

Dennoch kennt kaum ein Bürger die Aufgaben des Verfassungsschutzes. Leider sind die informativen und sachlichen Presseartikel über den Verfassungsschutz in der Minderheit. Was die Medien als Informationsquelle betrifft, wachsen seit einigen Jahren zudem zwei generelle Probleme: Zum einen der Vertrauensverlust eines nicht zu vernachlässigenden Teils der Bevölkerung in die traditionellen Medien und zum anderen die Rolle der Medien selbst beim Vertrauensverlust eines nicht zu vernachlässigenden Teils der Bevölkerung in die Demokratie. Ich meine dabei nicht den kleinen Teil unserer Mitbürger, die grundsätzlich in Opposition zum Staat und zur Gesellschaft stehen. Und auch nicht die „Lügenpresse“-Skandierer. „Lügenpresse“ haben vor den Anhängern der PEGIDA schon die 68er-Bewegung und vor ihnen Nationalsozialisten skandiert. Ich meine dabei auch nicht die herausragenden Skandale, bei denen die Prüfmechanismen der seriösen Presse versagt haben, wie etwa der Fall „Relotius“ oder der Fall „Bad Kleinen“.4)2018 wurde aufgedeckt, dass zahlreiche Artikel des mehrfach ausgezeichneten Journalisten Claas-Hendrik Relotius Fälschungen und teilweise frei erfunden waren. Im Jahr 2020 kam eine von der Zeitschrift Spiegel beauftragte Aufklärungskommission zu dem Ergebnis, dass die eigene Berichterstattung über den GSG-9-Einsatz in Bad Kleinen gegen zwei RAF-Terroristen im Jahr 1993 „auf Basis einer mangelhaft geprüften und falschen Aussage einen journalistischen Fehler begangen hat“. Sie sollten nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung der Presse führen.

Ein echtes Problem stellt dagegen auf der einen Seite die zunehmende Zahl der Bürger dar, die ihre Informationen gar nicht mehr oder nur versatzstückweise über die klassischen Medien beziehen und zugleich die sinkende Qualität letzterer. Es sind eher die zahlreichen schlecht recherchierten Artikel, die vielen „falschen Fakten“ und überhaupt das abnehmende Bemühen, dem Leser Fakten zu bieten, die das Vertrauen der Bürger untergraben. Nicht wenige Journalisten übersehen mit einer gewissen Arroganz, dass jeder Leser in mindestens einem Themengebiet ein Fachmann ist; zudem tauschen sich Leser untereinander aus: Allein ich habe in meinem persönlichen Umfeld für jedes Themengebiet mehrere Bekannte, die sich wahlweise über die fehlerhafte und unkundige Berichterstattung über das Gesundheitswesen, die Bildungs-, die Familienpolitik, die Wirtschaft oder die Finanzen aufregen.

Konstruktive Kritik ist wichtig und erwünscht

Niemand hat etwas gegen Kolumnen und Meinungsjournalismus zusätzlich zum klassischen Journalismus, aber der zunehmende „Haltungsjournalismus“ kann einfach kein Ersatz sein für sauber recherchierte und faktenbasierte Artikel.5)An dieser Stelle möchte ich an einige Helden des investigativen Journalismus erinnern, die von Watergate bis Wirecard, vom Fall Relotius bis Theranos, bis zur Bestätigung ihrer Recherchen massiven Anfeindungen ausgesetzt waren. Die Presse, die die Meinungsbildung unterstützen sollte, verliert so ihren eigentlichen Zweck in der Demokratie. Zusätzlich werden demokratische Institutionen auf eine Weise kritisiert, die geeignet ist, nicht nur sachliche Kritik zu fördern, sondern zu diskreditieren. Statt der Aufklärung zu dienen, trägt sie direkt dazu bei, das Vertrauen der Bürger in den Staat zu untergraben. Scheinheilig oder fast schon zynisch ist dann die Verwunderung über den sich in Kundgebungen niederschlagenden Vertrauensverlust in den Staat.

Genau um dieses Grundvertrauen geht es mir aber. Ich wünsche mir weiterhin eine lebendige Demokratie und eine diskursive Öffentlichkeit. Speziell gegenüber dem Verfassungsschutz wünsche ich mir konstruktive Kritik. Statt Verschwörungstheorien über eine Verstrickung der Sicherheitsbehörden in die Mordfälle des NSU wünsche ich mir eine saubere Fehleranalyse. Erst dann kann man etwas ändern und verbessern. Demokratie ist ein Mitmach-Projekt. Das setzt aber eine informierte Bevölkerung voraus. Und weil das nicht der Fall und die Lage ernst ist, möchte ich einen Anfang wagen.

Worum geht es in dieser Reihe?

Die folgenden Artikel bieten einen etwas ausführlicheren Einblick in einen Ausschnitt der Aufgaben des Verfassungsschutzes. Es handelt sich nicht um die offizielle Sichtweise, sondern häufig um die Perspektive einer einzelnen Mitarbeiterin. Seit 2002 bin ich wissenschaftliche Mitarbeiterin beim bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz. Auch nach fast zwanzig Jahren ist es eine abwechslungsreiche und interessante Tätigkeit. Allerdings geht es mir nicht so wie in zahlreichen Schilderungen über Mitarbeiter von Nachrichtendiensten, die sich denken „Wenn ihr wüsstet, was ich alles weiß“, oder „Es ist alles ganz anders, als ihr denkt.“ Das klingt vielleicht aufregend oder cool, zeugt aber eher von Wichtigtuerei. Nein, die Welt kommt einem nicht anders vor. Wer sich regelmäßig und aufmerksam informiert, wer eine gewisse Menschenkenntnis und Berufserfahrung mitbringt (egal in welchem Beruf), der kann nicht überrascht werden, wenn er alle Interna und „Geheimnisse“ des Verfassungsschutzes erführe. Wem als Mitarbeiter einer Sicherheitsbehörde bewusst ist, dass er hier nur mit einem kleinen Negativ-Ausschnitt der Gesellschaft konfrontiert wird, dessen Weltbild dürfte sich nicht vollends ändern.

Wie gesagt, es ist teilweise eine persönliche Sichtweise. Aber manchmal sind persönlich gefärbte Sichtweisen aufschlussreicher als trockene Texte in amtsdeutscher Juristensprache. Ich konzentriere mich dabei auf die kontroverseste Aufgabe des Verfassungsschutzes, nämlich die Beobachtung des Extremismus. Zwar ist der Verfassungsschutz auch für die Abwehr von Spionage und andere Gefahren, die aus dem Ausland gesteuert werden, zuständig, hier interessiert aber ausschließlich die Frage nach der Gefährdung von Innen.

Nach einem kurzen historischen Abriss über die Gründung des Verfassungsschutzes (Teil 1), erkläre ich, was mit wehrhafter Demokratie gemeint ist (Teil 2): Warum ist der Verfassungsschutz zentraler Bestandteil der wehrhaften Demokratie? Und dass ein Hauptzweck darin besteht, die freiheitliche Demokratie zu beschützen. In Teil 3 erkläre ich, was die freiheitliche Demokratie ausmacht, und warum gerade sie als Gegenentwurf und Lehre aus dem Schrecken der nationalsozialistischen Diktatur konzipiert wurde. Zentral ist die Gewährleistung der Freiheit des Individuums. Teil 4 geht der Frage nach, ab wann der Staat eingreift. Teil 5 befasst sich mit einer der Hauptaufgaben des Verfassungsschutzes, dem Extremismus. Was versteht der Verfassungsschutz darunter und warum ist es wichtig, ihn zu beobachten? Teil 6 befasst sich mit der Kritik am Extremismusbegriff. Teil 7 führt detaillierter aus, welche Phänomenbereiche beobachtet werden und warum überhaupt eine Unterteilung sinnvoll ist und fragt, wie gefährlich die verschiedenen Phänomenbereiche sind. Teil 8 geht der Frage nach, warum der Verfassungsschutz überhaupt Geheimnisse hat. Steht das nicht im Widerspruch zu einer transparenten Demokratie? Teil 9 setzt sich mit der häufig vorgebrachten Kritik auseinander, ob und inwiefern wir überhaupt einen Verfassungsschutz benötigen. Für Teil 10 überschreiten wir kurz den deutschen Tellerrand und betrachten die Einbindung unserer Sicherheitsarchitektur in die internationale Staatengemeinschaft. Teil 11 wird sich dem derzeit besonders aktuellen Thema des Widerstands widmen. Gibt es legitimen Widerstand in unserer Demokratie? Für eine inhaltliche und staatsphilosophische Antwort ist der Rahmen hier nicht ausreichend. Ich versuche aber eine formelle Antwort zu geben. Schließlich gehe ich aus aktuellem Anlass im letzten Teil noch auf die staatliche Neutralität ein.

Die Reihe habe ich vor der Corona-Krise verfasst. Sie ist aber nun aktueller denn je, da zahlreichen bisher unpolitischen bis politisch desinteressierten Bürgern schlagartig bewusst wurde, wie stark sich Politik bisweilen auf das eigene Leben auswirkt. Zugleich werden Schreckensbilder eines „Überwachungsstaats“ heraufbeschworen. Manch einer, der die Corona-Maßnahmen kritisch sieht, interpretiert die Beobachtung von Querdenken 711 in Baden-Württemberg als eine Einschüchterung der Proteste, dabei beobachtet das Landesamt in dem Bundesland nur die Organisationsstrukturen, nicht die Kundgebungsteilnehmer. Es ist bei einigen fälschlicherweise der Eindruck entstanden, die Beobachtung begründe sich in der Durchführung von Kundgebungen.

Dabei ist der Verfassungsschutz kein Instrument zur Sanktionierung von Staatskeptizismus bzw. zur Immunisierung des Staats gegen Kritik und Ablehnung. Der Verfassungsschutz soll die grundlegenden Verfassungswerte des demokratischen Rechtsstaats schützen, nicht die politischen Programme der Regierungen. Umso wichtiger ist es also, in solchen Situationen objektive und differenzierte Informationen zu erhalten. Nur informierte Bürger können auch mündige Bürger sein. Information kann Ängste eindämmen und gegen die Anfälligkeit für populistische Sirenengesänge impfen – um beim aktuellen pandemischen Bild zu bleiben. Insofern hoffe ich, mit den folgenden Beiträgen für etwas Aufklärung zu sorgen.

Geplant ist noch ein zweiter etwas kleinerer Block mit vier Beiträgen, in dem ich mich mit meinen persönlichen Schlussfolgerungen aus der jahrelangen Arbeit befasse. In einem Teil werde ich mich mit Fehlern und Skandalen befassen und deren wahrscheinlichste Ursachen und Fehlerquellen. Aber auch mit der Fehleranalyse. Dann mit den Mitarbeitern: Welche Anforderungen werden gestellt und welche sollten an Mitarbeiter gestellt werden? Was macht die Arbeit mit den Mitarbeitern? Schließlich aber auch mit der politischen Einflussnahme auf den Verfassungsschutz: Ist mehr oder weniger politische Kontrolle gut? Wie macht sich das bemerkbar?

Judith Faessler, 20. Februar 2021

 

Zum Schluss noch eine Bitte in eigener Sache

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References   [ + ]

1. https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/rechtspopulismus-eindaemmen-tun-teil-6/
2. Hier ein sehr gelungenes Porträt: https://rahmsdorf.eu/2018/08/wir-koennen-noch-viel-von-ihm-lernen/
3. Michael Götschenberg: „Es war nicht alles Gold“. 70 Jahre Verfassungsschutz (07.11.2020), in: www.tagesschau.de
4. 2018 wurde aufgedeckt, dass zahlreiche Artikel des mehrfach ausgezeichneten Journalisten Claas-Hendrik Relotius Fälschungen und teilweise frei erfunden waren. Im Jahr 2020 kam eine von der Zeitschrift Spiegel beauftragte Aufklärungskommission zu dem Ergebnis, dass die eigene Berichterstattung über den GSG-9-Einsatz in Bad Kleinen gegen zwei RAF-Terroristen im Jahr 1993 „auf Basis einer mangelhaft geprüften und falschen Aussage einen journalistischen Fehler begangen hat“.
5. An dieser Stelle möchte ich an einige Helden des investigativen Journalismus erinnern, die von Watergate bis Wirecard, vom Fall Relotius bis Theranos, bis zur Bestätigung ihrer Recherchen massiven Anfeindungen ausgesetzt waren.

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