Angst – was tun?

Buchtitel

 

Teil 1 von 3: Der Analyse erster und bequemer Teil

Die menschenverachtenden Ausschreitungen der Silvesternacht in Köln und anderen Städten haben zu einer heftigen Diskussion geführt. Zu hoffen ist, dass wenigstens diesmal auch die Handlungsebene erreicht wird. Das allerdings dürfte schwierig werden – und zwar auch deshalb, weil ausgeprägte Ängste diese Diskussion in weiten Teilen inhaltlich stark beeinflussen. Nun weiß jeder Bergsteiger, wie wertvoll Angst sein kann – als Alarmzeichen, als kurzfristiger Motivator, als Realismus-Check. Jeder Bergsteiger weiß allerdings auch, dass man nur weiterkommt, wenn man diese Angst durch nüchterne Überlegung, konsequentes Entscheiden und entschlossenes Handeln überwindet. Und genau daran hapert es bei uns in Deutschland seit vielen Jahren, sogar Jahrzehnten – gesellschaftlich und politisch. Speziell für die aktuelle Debatte zu den Flüchtlingen gilt: Erstens stehen Ausmaß und Umfang dieser Ängste in keinem Verhältnis zur realen Lage – auch nicht nach der Kölner Mobnacht. Und zweitens ist Angst bekanntlich ein schlechter Ratgeber. Gerade in schwierigen Situationen. Wie stellt sich die Lage aus liberaler Perspektive dar?

German Angst – ein Evergreen?

In Deutschland ist seit Jahrzehnten (!) eine sich stetig verdichtende, zunehmend offen artikulierte und irrationale Angststimmung feststellbar. Diese Diagnose war bereits lange vor der aktuellen Flüchtlingsthematik gültig. Sie erinnern sich? Der anstehende finanzielle Kollaps der BRD aufgrund der finanziellen Verstrickungen in die griechischen Staatsschulden und der Verflechtungen mit anderen Krisenstaaten, das Versiegen sämtlicher Ölquellen mit anschließendem Zivilisationszusammenbruch, die offenbar bereits voll laufende Islamisierung oder Renazifizierung Deutschlands (von der Verschwulung ganz zu schweigen), das flächendeckende Sterben sämtlicher Bäume (doch, echt, da war was!), die Rundumbespitzelung aller Bürger durch Vorratsdatenspeicherung oder Volkszählungsterror, der unvermeidbare Absturz ins Elend breiter Bevölkerungsschichten durch das Freihandelsabkommen TTIP – eine ruhige und auf belastbaren Argumenten beruhende, breit angelegte öffentliche Diskussion hat es zu diesen und vielen anderen Themen nie wirklich gegeben. Die Entwicklung von simplen Horrorszenarien, verklärenden Beschönigungen und Tabuisierungen im Sinne der „politischen Korrektheit“ waren und sind dazu wesentlich verbreiteter – vor allem in der Politik, in Talkshows und im immer weiter um sich greifenden Tendenz- und Bevormundungsjournalismus. Und im Internet gibt es eh keine Hemmschwellen oder Qualitätsstandards mehr. Dort scheint in vielen „Diskussionswelten“ die Gleichsetzung von wirrer Meinung mit harter Tatsache bereits vollzogen. Aufbauschen, Abwiegeln und Verdrängen sind aber klassische Angstreaktionen. Sie erzeugen Angst und drücken Angst aus. Wer mutig ist, greift nicht auf diese Taktiken zurück. Mutig sein heißt auch, sich der Realität zu stellen. Und die ist halt manchmal komplex und unbequem.

Worin liegt die Ursache dieser Angst?

Ein Erklärelement für die aktuelle „Flüchtlings-Angst“ liegt darin, dass es tatsächlich mehrere schwierige politische Konstellationen gibt, die mit der Flüchtlingsfrage zusammenhängen, selbst emotional stark aufgeladen sind, sich gegenseitig verstärken und zu Recht Besorgnis auslösen können: Die Islamismusthematik, die Terrorismusproblematik, die Entwicklung diverser Parallelgesellschaften mit starkem Hang zur Kriminalität (muslimisch, links oder rechts geprägt), der wackelige und durch die EZB miserabel gestaltete Euro, ein seit Jahren wieder an Boden gewinnender Deutschnationalismus und – auch wenn man das nicht so gerne wahrhaben will – ein in manchen Bundesländern erschreckend weit verbreiteter Rassismus. Dazu kommt ein grotesk überschuldeter Wohlfahrtsstaat, in dessen Gefüge es deutlich vernehmbar knirscht und der bei vielen Bürgern Enttäuschung oder gar Abstiegsängste auslöst. Tatsächlich brodelt es in der Welt – kein Wunder nach dem Zerfall der Supermacht UdSSR.

Ein weiterer Teil der Erklärung liegt sicher darin, dass bestimmte Personen und Parteien diese Angststimmung ganz bewusst und gezielt verstärken, sie sogar schüren. Das Internet ist voll mit erfundenen Horrorgeschichten bzw. Übertreibungen und Verzerrungen, die sicher nicht ohne Kalkül in die Welt gesetzt werden. Zudem bringt Angst oft Wählerstimmen und Wählerstimmen ermöglichen Politikerkarrieren – auch dann, wenn man im richtigen Leben nichts oder nur wenig zustande bringt. Dieses Systemrisiko der Demokratie ist bekannt und wird durch die Lebensläufe vieler Berufspolitiker (und solcher, die das gerade in und mit neuen Parteien werden wollen) veranschaulicht.

Das dicke Aber: Diese Themenliste und deren Instrumentalisierung durch Angstmacher alleine erklärt nicht die Intensität und Beständigkeit der aktuellen Angst- und Wutstimmung. Als vernunftbegabte Lebewesen können wir unsere Ängste ja durchleuchten, klären, priorisieren und so auf ein angemessenes Maß zurechtstutzen. Und dann können wir handeln und die Probleme entschlossen anpacken. Mit diesem Ziel sollten öffentliche Debatten in einer offenen Gesellschaft geführt werden. Zumindest im Prinzip. Warum gelingt das nicht?

Meine Antwort darauf ist eine klassisch liberale und dürfte den meisten Lesern nicht gefallen. Trotzdem, hier ist sie: Nach jahrzehntelanger wohlfahrtsstaatlicher Bevormundung, Entmündigung und Entselbständigung haben wir es als Gesellschaft und in vielen Fällen als Einzelpersonen verlernt, schwierige Probleme systematisch, entschlossen und mit Schwung anzupacken! Die Hilflosigkeit in Politik und Gesellschaft angesichts der eben skizzierten Herausforderungen ist zum Teil mehr als reine Einbildung. Sie ist real – leider. Wo früher einmal Zuversicht, Kompetenz und vielleicht auch gesunder Trotz angesichts großer Hindernisse waren, herrschen heute Inkompetenz, Hilflosigkeit und Feigheit vor. Und die erzeugen Angst – unabhängig von der konkreten Problematik.

Kurz: Wir haben es als Gesellschaft verlernt, aus der Angst heraus in vernünftiges und kompetentes Handeln zu kommen. Was heißt das?

Politikerversagen am Beispiel der Flüchtlinge 

Eine so umfassende wie anschauliche Menge an Beispielen für diese Inkompetenz, Hilflosigkeit und Feigheit liefern die allermeisten unserer Bundes- und Landespolitiker im Rahmen der Flüchtlingsthematik – quer durch alle Parteien und jeden Tag aufs Neue. Dass eine Massenflucht kommen wird, hat sich über viele Monate hinweg deutlich abgezeichnet. Von unserem Politikpersonal wurde sie auch dann noch verdrängt, als Italien und Griechenland schon lange hoffnungslos überfordert waren. Selbst dann noch, als die Flüchtlingszüge schon auf dem Balkan unterwegs waren. Und selbst dann noch, als in Bayern die Grenzen schon wochenlang offen waren. Intensive Diskussionen zu nationalen Schicksalsfragen wie Maut, Betreuungsgeld, einer Reform des nationalen Flaschenpfandsystems und möglichen Ausnahmeregeln zum Mindestlohn waren da offensichtlich viel wichtiger, auf jeden Fall aber beliebter.

Inkompetenz, Hilflosigkeit und Feigheit reichen weit in die Vergangenheit zurück. Unsere Politiker und Parteien haben es trotz klarer Faktenlage jahre- und sogar jahrzehntelang (!) nicht geschafft, für sinnvolle und realistische Einwanderungs- und Integrationsgesetze zu sorgen. Da war es viel bequemer, stur auf ideologischen Maximalpositionen zu beharren – und einfach nichts zu tun. Diese Untätigkeit war und ist unabhängig von der jeweils regierenden Koalition. Und diese Untätigkeit dominiert nach wie vor; unsere Legislative hat seit dem Sommer keine entschlossene Reaktion gezeigt. Die Flüchtlinge kamen – und die Legislative ist wie gelähmt. Für die einen, man glaubt es kaum, ist Deutschland immer noch kein Einwanderungsland. Andere sehen in einer gezielten Gestaltung von Einwanderung und Integration eine Art von faschistoidem Terror – nachvollziehbare Gründe dafür mag man traditionell nicht anführen. Und aus den in Schweden, Frankreich, Belgien, Berlin und – positiv – München gemachten Erfahrungen zu lernen, schaffen viele unserer Berufspolitiker (und solche, die das werden möchten) auch nicht. Ach ja – und wenn dann tatsächlich auf einmal viele Flüchtlinge da sind, fährt man vor laufenden Kameras auf der Spree ein bisserl mit dem Schifferl herum … man will ja was tun! Oder man verhakt sich bei einem eh schon unangemessen oberflächlichen Gesetzespaket in Nebensächlichkeiten. Oder man faselt auf Wutbürgerversammlungen vom Untergang des deutschen Volkes und des Abendlandes und des Christentums. Geht es eigentlich noch kindischer?

Kurz: Unserer Legislative bzw. unserem Politikpersonal fehlt sogar das bisschen Mut zur Realität, um weg von ideologischen Maximalpositionen hin zu brauchbaren Problemlösungen zu kommen. Ehrlich gesagt befürchte ich mittlerweile auch, dass ihnen das Hirn dazu fehlt. Noch kürzer: Sie machen einfach ihren Job nicht! In der Wirtschaft wird ein Management, das dermaßen hilflos, inkompetent und feige auf sich deutlich abzeichnende Entwicklungen reagiert, gefeuert – und zwar hochkant.

Bayern

An dieser Stelle sei mir ein patriotischer Einschub in Weiß und Blau gestattet. Zum Glück für alle (!) Beteiligten und Betroffenen sind die allermeisten Flüchtlinge über Bayern gekommen. Und dort haben eine enorm hohe Zahl an Freiwilligen, Ehrenamtlichen und Lokalpolitikern über Monate hinweg zusammen mit unseren Sicherheitskräften schlicht und einfach eine Meisterleistung an Tatkraft und Menschlichkeit vollbracht – vorbei an der „großen“ Politik und deren Sprechblasen, Konzeptions- und Hilflosigkeit! Bei uns haben die Leute die Ärmel hochgekrempelt und zusammengearbeitet, weil es nötig war und weil man Menschen in Not hilft. Und das geschieht immer noch. Punkt. Das funktioniert prima über alle (!) Parteigrenzen hinweg. Stellen Sie sich einfach mal vor, die ganzen Flüchtlinge wären über die Flughafenbastelgruppe Berlin oder die Karnevalshochburgen in NRW eingereist …

Das Problem liegt allerdings auf der Hand: Auf Dauer werden Eigeninitiative und Zivilcourage verschlissen, wenn sie nicht in strukturelle Lösungen überführt werden. Auf der Hand liegt aber auch die folgende Schlüsseleinsicht: Die Bürger, zumindest die im Freistaat, verfügen über ein enormes Potential an Eigeninitiative, Handlungsbereitschaft, Einfallsreichtum und Mumm. Also: Zurück zum eigentlichen Gedankengang.

Das Politikerversagen hat System

Dieses Politikerversagen in Bezug auf die Flüchtlinge ist leider kein Zufall, sondern Ausdruck einer tiefergehenden und systematischen Problematik. Seit Jahrzehnten reagieren Politik und Gesellschaft in Deutschland nämlich auf Probleme und Schwierigkeiten in erster Linie durch finanzielle Umverteilung. Wenn es wo knirscht – wir schütten einfach Geld rein. Wir erhöhen Jahr für Jahr die Staatsschulden, die Steuern, die Abgaben und finanzieren damit Scheinlösungen. Die Beispiele sind Legende:

  • Der in weiten Teilen misslungene sogenannte „Aufbau Ost“ ist vermutlich das teuerste Transferprojekt der europäischen Geschichte und zeigt in aller Deutlichkeit, dass noch so enorme Geldsummen konsequente Strukturreformen und Eigenverantwortung nicht ersetzen können. Natürlich wären diese Reformen unbequem und würden für Unmut sorgen – aber warum ist das nicht zumutbar?
  • Die regelmäßig ausgelösten „Konjunkturprogramme“ sind und waren nie mehr als ein Strohfeuer. Gleiches gilt für alle möglichen Rettungsschirme und  Stabilisierungsprogramme. Deren einzig sicherer Effekt ist das Anwachsen der Schuldenberge. Aber an die eigentlich nötigen Strukturreformen traut sich niemand ran. Weder in Deutschland noch in Europa!
  • Staatliche Subventionen für marode Unternehmen haben langfristig so gut wie nie Erfolg. Trotzdem greift die Politik immer wieder darauf zurück – aus Angst vor einer zwar unbequemen aber sinnvollen Marktbereinigung.
  • Das Rentensystem braucht immer höhere Steuerzuschüsse und bietet immer knappere Renten. Die Angleichung der Medianrente an Hartz IV ist fast schon abgeschlossen. Der Grund ist bekannt und hat vor allem mit den Grundrechenarten zu tun: Es kann einfach nicht funktionieren, dass immer weniger Erwerbstätige immer mehr Rentner bei stetigem Wohlstandsanstieg finanzieren. Trotzdem tun wir so, als wüssten wir, wie dieses Schneeballsystem stabilisiert werden kann … weil die Politik Angst davor hat, den Bürgern die unbequemen Wahrheit zu sagen und dann die strukturellen Konsequenzen daraus zu ziehen.
  • Die Geburtenrate stagniert trotz eines mittlerweile so unübersichtlichen wie abenteuerlichen Portfolios an Vergünstigungen und Zulagen für Familien. Trotzdem lässt unsere Politik sich nicht in ihrem „offiziellen“ Glaubensbekenntnis an die Wirksamkeit dieser Instrumente erschüttern. Deren Kürzung oder Abschaffung wäre ja auch ziemlich unbequem.
  • Wir haben einen sehr hohen Bestand an Dauerarbeitslosen, der sich offensichtlich nicht wegfinanzieren lässt. Trotzdem wird auch in diesem Bereich fleißig weiter subventioniert – ohne jede plausible Erfolgsaussicht. Man muss sich so halt nicht mit den Ursachen auseinandersetzen.
  • Seit Jahren schicken wir die Soldaten der Bundeswehr in Kriege auf der ganzen Welt. Trotzdem haben wir nicht den Mut, sie mit der bestmöglichen Ausrüstung auszustatten und für die Bundeswehr endlich eine klare Gesamtstrategie mit Zielsetzung und Auftrag zu formulieren. Das wäre ja auch ziemlich unbequem (und vermutlich teuer). Da untersucht man lieber jahrelang, ob das aktuelle Sturmgewehr G 36 nun tatsächlich geradeaus schießt oder nicht.
  • Leider ist diese Liste beliebig verlängerbar: Tiefgreifende Reformen im Gesundheitssystem, im Steuersystem und im Bildungssystem sind nötig, werden aber nicht angepackt. Stattdessen hangeln wir uns von einer oberflächlichen Kurzreparatur zur nächsten. Und schmeißen dabei riesige Summen zum Fenster raus.

Kurz: Unsere Gesetzgebung zielt seit Jahrzehnten in aller Regel nicht auf die (schmerzliche) Beseitigung der Ursachen der Probleme, sondern auf die kurzfristige Linderung der Symptome. Und zwar durch Injektion von Geld ohne klare Lösungsidee oder Strukturveränderungen. Dabei handelt es sich nicht um Einzelfälle bedauernswerten Politikerversagens, sondern um einen ganz charakteristischen Grundzug unserer politischen Kultur! Die aktuelle Flüchtlingsthematik ist lediglich einer von vielen Fällen. Wir schaffen es seit Jahrzehnten nicht, über eine ehrliche Analyse und Diskussion hin zu dauerhaft wirkungsvollen Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu kommen.

Das Dumme dabei ist, dass die Probleme und deren Symptome langfristig gesehen dadurch schlimmer werden. Der von allen (!) Parteien getragene Wohlfahrtsstaat ist aus liberaler Perspektive nicht nur ungerecht – er hat mit seinem Umverteilungsansatz und gigantischem Finanzaufwand nicht eines der Probleme gelöst, zu deren Bekämpfung er mit den Kanzlern Brandt und Schmidt seinerzeit angetreten ist! Die Liste oben zeigt das sehr deutlich.

Mein Fazit zum ersten Teil der Analyse

Die Debatte in Deutschland zur aktuellen Flüchtlingsthematik verläuft leider nach genau dem selben Muster wie unzählige Diskussionen davor. Eine nüchterne und sorgfältige Analyse findet nicht statt, realistische und langfristig wirkungsvolle Lösungsstrategien werden nicht erarbeitet und es zeichnet sich jetzt schon ab, dass erneut riesige Geldsummen für oberflächliche Pseudo-Lösungen verbraten werden. Es gelingt uns als Gesellschaft nicht, die Ebene der Angst zu verlassen und den Mut aufzubringen, uns der Realität zu stellen.

 

PD Dr. Andreas Edmüller, 19.1.2016

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