Deutschland benötigt dringend eine grundsätzliche Klärung zu Auftrag und Grenzen des Wohlfahrtsstaates. Die Gründe dafür sind bekannt und auf den ersten Blick ganz pragmatische: Die enorm hohe offene und verdeckte Staatsverschuldung, die zunehmende Erosion der staatlichen Absicherungssysteme, allen voran Rente und Gesundheit, der fortschreitende Qualitätsverlust des Bildungswesens, das einer zu starken Belastung der Absicherungssysteme eigentlich vorbeugen sollte. Kurz: Der real existierende Sozialstaat als Gesamtsystem fordert immer mehr Mittel, funktioniert zunehmend schlechter und erodiert immer schneller. Das allein schon erzwingt intensives Nachdenken über Änderungen und ein nüchterner Blick auf Zahlen und Fakten zeigt deutlich, dass es einschneidende Änderungen sein müssen.
Nutzen oder Moral?
Den Überlegungen zu Machbarkeit und Effizienz des Sozialstaates werden immer wieder normative Argumente entgegengehalten: Der Sozialstaat sei moralischer Auftrag, ein Gebot der Gerechtigkeit, der Würde des Menschen geschuldet. Im Prinzip ist diese Argumentationsstrategie korrekt; tatsächlich sollten Gerechtigkeit und Würde vor Nutzenüberlegungen stehen. Eine wichtige Funktion dieser Konzepte ist es ja gerade, den Einzelnen davor zu schützen, zum bloßen Nutzenfaktor oder Mittel zum Zweck degradiert zu werden. Allerdings gibt es für diesen Vorrang der Gerechtigkeit auch eine wichtige Einschränkung. Sie wird im Englischen prägnant als Ought implies can zum Ausdruck gebracht: Was normativ gefordert wird, muss machbar sein. Ein Beispiel:
- Die „moralische“ Forderung, jedem Bürger ab Geburt ein arbeitsfreies Einkommen zu garantieren, das der Kaufkraft von 2500.- Euro (Stand Februar 2014) entspricht, kann (in dieser Welt) nicht umgesetzt werden und ist genau deshalb keine moralische Forderung.
Leider ist der Bruch zwischen pseudo-moralischer Forderung auf der einen und Realisierbarkeit auf der anderen Seite nicht immer so klar wie in diesem Beispiel. Viele Utopien und Ideologien scheitern an genau diesem Bruch – mit oft verheerenden Folgen für die Opfer der Umsetzungsexperimente.
Ich glaube, dass uns allein schon die Verständigung auf dieses sehr robuste und klare Prinzip des normativen Realismus über eine Besinnung auf wirtschaftliche Gegebenheiten zu einer spürbaren Rückführung sozialstaatlicher Aktivitäten führen würde. Mein eigentliches Thema ist aber ein anderes. In Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit1)Andreas Edmüller: Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit. KDP (Amazon), 2013. habe ich ausführlich erläutert, dass und warum ein Appell an den Wert der Gleichheit den Sozialstaat nicht rechtfertigen kann. Der liberale Minimalstaat, so meine These, ist die einzig gerechte Ausgestaltung des staatlichen Gewaltmonopols.
In dieser Arbeit möchte ich zeigen, dass auch auf Basis der Menschenwürde der Wohlfahrtsstaat nicht zu rechtfertigen ist. Kurz und klar: Der Sozialstaat verletzt in seiner jetzigen Form die Würde der Bürger in nicht hinnehmbarer Breite und Intensität. Meine Argumentation durchläuft die folgenden Schritte:
Teil 1: Die Klärung des Begriffs der Würde.
Teil 2: Weder Armut noch Ungleichheit verletzen per se die Würde des Menschen.
Teil 3: Der Sozialstaat kann nicht auf Basis des Konzeptes der Menschenwürde begründet werden.
Teil 4: Die klassischen Instrumente und Vorgehensweisen des Sozialstaates verletzen so tiefgreifend wie unvermeidlich die Würde aller (!) Bürger.
Teil 5: Wir brauchen gerade auf Basis des Würdebegriffs eine Verfassungsreform. Das Sozialstaatsgebot ist ersatzlos zu streichen.
Würde – was heißt das eigentlich?
Im angelsächsischen Bereich spielt der Würdebegriff keine zentrale Rolle im Rahmen der Diskussionen zur politischen Philosophie. Freiheit und Gleichheit sind deren begriffliche Anker. Er ist allerdings einer der normativen Grundbegriffe der deutschen Verfassung; die besonderen Gründe dafür liegen in unserer Geschichte. Der Würdebegriff soll ein so deutliches wie umfassendes Grundsatzsignal zum normativen Rahmen unseres Staates setzen, den „Geist der Verfassung“ zum Ausdruck bringen:
In der Wertordnung des GG ist die Menschenwürde der oberste Wert (BVerfGE 27,6).2)Karl-Heinz Seifert und Dieter Hönig: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar. 7. Auflage. Baden-Baden, 2003. S. 43.
Inhalt und Umfang des Würdebegriffs sind trotz dieser hervorgehobenen Stellung leider relativ unklar und unpräzise. Dieser Eindruck bleibt auch nach Lektüre diverser Verfassungskommentare bestehen. Dazu ein durchaus repräsentatives Beispiel:
Der Begriff der Menschenwürde i.S. des Abs. 1 ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Inhalt nicht absolut, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles (BVerfGE 30, 25) bestimmt werden kann. In ihn fließen zwar die geistesgeschichtlichen Traditionen mit ein, er ist jedoch auch wandlungsfähig (OVG Berlin, NJW 1980, 2485) und zeitbedingt (vgl. BVerfGE 45, 229; 96, 399f.). Menschenwürde ist gleichzusetzen mit dem sozialen Wert- und Achtungsanspruch, der dem Menschen wegen seines Menschseins zukommt (BVerfGE 87, 228). Im Kern geht der Begriff davon aus, dass der Mensch als geistig-sittliches Wesen darauf angelegt ist, in Freiheit und Selbstbewusstsein sich selber zu bestimmen und auf die Umwelt einzuwirken (BGHZ 35, 8). Die Menschenwürde wird aber auch geprägt vom Menschenbild des GG, das den Menschen nicht als selbstherrliches Individuum, sondern als in der Gemeinschaft stehende und ihr vielfältig verpflichtete Persönlichkeit begreift (BVerfGE 12, 51; 28, 189; 30, 20; 33, 10f.) und von der grundsätzlichen rechtlichen Gleichheit aller Menschen ausgeht.3)Karl-Heinz Seifert und Dieter Hönig: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar. 7. Auflage. Baden-Baden, 2003. S. 44.
Das alles ist vage, unbestimmt, ohne klare Kontur und Priorisierung und führt bei näherem Nachdenken zu deutlichem Unbehagen. Die große Gefahr unklarer Begriffe ist nämlich bekannt: Sie laden zu Missverständnissen, Uminterpretation und Missbrauch ein – ob bewusst oder unbewusst. Und der Missbrauch politischer und moralischer Begriffe pflastert oft den Weg zum Missbrauch von Macht und ist diesem dann ein so treuer wie nützlicher Begleiter.4)George Orwell: 1984. London, 1949. Genau deshalb sollte man in so wichtigen Dokumenten wie einer Verfassung begriffliche Unklarheit so weit wie möglich vermeiden.
Diese Kontur bzw. Klarheit ließe sich leicht in einem zweiten Schritt durch präzise formulierte Verfassungsartikel und deren Priorisierung schaffen. Leider schlägt sich die Unklarheit des Würdebegriffs aber auch in der Konstruktion unserer Verfassung bzw. ihrer Interpretation durch das Verfassungsgericht nieder: Auf der einen Seite soll der Würdebegriff die klassischen Freiheitsrechte umfassen, z.B. das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Auf der anderen Seite steht das sogenannte „Sozialstaatsgebot“ (Artikel 20), das den Staat verpflichtet, den wirtschaftlich Schwachen „Freiheit von Not, ein menschenwürdiges Dasein und eine angemessene Beteiligung am allgemeinen Wohlstand zu gewähren“. Zumindest ist das die Auffassung bzw. Lesart des Bundessozialgerichts.5)Karl-Heinz Seifert und Dieter Hönig: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar. 7. Auflage. Baden-Baden, 2003. S. 248.
Das hört sich ja ganz gut an, erzeugt aber ein normatives Problem, fast ein Dilemma: Das Sozialstaatsgebot ist nur in grundsätzlicher Gegnerschaft zum Recht auf Selbstbestimmung und den daraus resultierenden Freiheitsrechten zu realisieren – und dabei bleibt in weiten Teilen gerade das auf der Strecke, was eigentlich geschützt werden soll, nämlich die Würde des Menschen. Ich werde deshalb auf Basis des Würdebegriffs dafür plädieren, das Sozialstaatsgebot gegenüber den Freiheitsrechten als nachrangig einzustufen bzw. ganz aus der Verfassung zu streichen. Meine Thesen zu Problem und Lösung mögen den einen oder anderen Leser brüskieren, vielleicht sogar empören – die ausführliche Argumentation folgt und ist hoffentlich auch für Erzürnte nachzuvollziehen.
3 Grundannahmen zur Würde des Menschen.
In meinen weiteren Überlegungen gehe ich von 3 Grundannahmen zum Würdebegriff aus, die unkontrovers sein dürften:
Grundannahme 1: Zum harten und klaren Kern des Würdebegriffs gehört mit Sicherheit der Schutz der Selbstbestimmung des Menschen, d.h. der Schutz vor Bevormundung, Entmündigung, Ausbeutung, Gängelung, Instrumentalisierung. Es geht um den Schutz des Freiraumes, im Rahmen des Möglichen nach der je eigenen Fasson zu leben, den eigenen Vorstellungen vom guten Leben zu folgen, den eigenen Werten und Idealen gemäß sein Leben zu gestalten. Die Rechte auf freie Lebensgestaltung, Glaubensfreiheit, Diskussions- und Handlungsfreiheit, Schutz der Ehre etc. präzisieren diesen Kerngehalt des Würdebegriffs. Dahinter stehen natürlich die schrecklichen Erfahrungen mit roten und braunen Diktaturen, sowie mit religiösem Fanatismus, die leider große Teile unserer Geschichte prägen.
Grundannahme 2: Nicht jeder Angriff auf Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit ist ein Angriff auf die Würde des Menschen. Im Alltag begegnen uns zahlreiche unschöne und moralisch fragwürdige Verhaltensweisen, die keine Verletzung der Würde darstellen. Nimmt mir jemand an einer Kreuzung die Vorfahrt, so mag das eine Frechheit sein – aber keine Verletzung meiner Würde. Zeigt er mir zusätzlich den Vogel, so mag das eine Beleidigung sein – aber immer noch keine Verletzung meiner Würde (vielleicht sind wir Niederbayern da auch ein bisschen robuster als andere). Bricht jemand mir gegenüber ein Versprechen oder einen Vertrag so mag das Betrug sein – aber per se keine Verletzung meiner Würde. Also: Ist die Würde in Gefahr, dann geht es um schwerwiegende Fälle, um einschneidende Bevormundung, Gängelung, Instrumentalisierung. Es geht um massive Angriffe auf die Werte, Pläne und Ehre einer Person, die sie für ihr Leben als grundlegend und sinnstiftend ansieht.
Grundannahme 3: Die Setzung der Würde als Leitwert macht nur unter der Voraussetzung Sinn, dass die Bürger über die nötige Motivation, Intelligenz und ausreichende Fähigkeiten verfügen, auch moralische, um ein würdevolles Leben zu führen und für sich zu gestalten. Das mit dem Würdegedanken verknüpfte Menschenbild ist gerade nicht das eines passiven und unmündigen Untertanen oder Fürsorgekandidaten, der dem Leben und dessen vielfältigen Herausforderungen prinzipiell nicht gewachsen ist. So jemand benötigt kein Recht auf freie Lebensgestaltung und daraus resultierende Freiheiten, sondern umfassende Schutz- und Fürsorgemechanismen oder eine Gouvernante. Deshalb sollte nicht jeder Angriff auf die Würde des Menschen vom Staat verfolgt und geahndet werden. Wir alle wissen z.B., wie viele mehr oder weniger subtile Erniedrigungen und Gemeinheiten im zwischenmenschlichen Bereich von Ehe, Partnerschaft und Familie vorkommen. Auch der Staat weiß das – und hält sich trotzdem weitgehend raus. Einer von mehreren Gründen dafür ist, dass jedem Erwachsenen eine gewisse Fähigkeit zum Selbstschutz, zur Verteidigung gegen diverse Angriffe auf seine Würde zugeschrieben und zugemutet wird. Und deshalb sind durch die ersten Artikel unserer Verfassung bestimmte Bereiche unseres Lebens und Zusammenlebens als weitgehend staatsfreie Zonen definiert – gerade auf Basis des Würdegedankens.
PD Dr. Andreas Edmüller, 30.11.2014.
References
1. | ↑ | Andreas Edmüller: Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit. KDP (Amazon), 2013. |
2. | ↑ | Karl-Heinz Seifert und Dieter Hönig: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar. 7. Auflage. Baden-Baden, 2003. S. 43. |
3. | ↑ | Karl-Heinz Seifert und Dieter Hönig: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar. 7. Auflage. Baden-Baden, 2003. S. 44. |
4. | ↑ | George Orwell: 1984. London, 1949. |
5. | ↑ | Karl-Heinz Seifert und Dieter Hönig: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar. 7. Auflage. Baden-Baden, 2003. S. 248. |