Wie diskutiere ich mit Verschwörungstheoretikern und anderen Spinnern?

Genau diese Frage wird uns als Argumentationsprofis immer wieder und immer öfter gestellt. Betrachtet man unsere öffentliche Argumentationskultur bzw. deren rasantes Abgleiten in immer neue geistige und moralische Tiefen, so ist das kein Wunder. Deshalb möchte ich heute unseren Lesern ein paar strategische und taktische Tips für „Diskussionen“ mit Spinnern jeder Couleur anbieten. Sie können es mir leider glauben: Es ist alles in mühsamer Praxis erprobt.

 

Die Strategie: Argumentations-Judo

Habe ich es mit politischen, religiösen oder sonstigen Spinnern zu tun, funktioniert eines ziemlich sicher nicht: Vernünftige Argumentation mit dem Ziel, die andere Seite dadurch zu überzeugen. Vernünftige Argumentation setzt nämlich voraus, dass alle Seiten gewisse Rahmenbedingungen oder Grundannahmen akzeptieren, wie z.B. die Gesetze der Logik oder Wahrscheinlichkeitsrechnung, gut gesicherte statistische Erkenntnisse, grundlegende und jedermann zugängliche Alltagserfahrungen oder robuste wissenschaftliche Theorien. Ein Spinner zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er genau diese Dinge ohne mit der Wimper zu zucken über Bord wirft, wenn es ihm gerade passt bzw. sie mit seinen „Thesen“ in Konflikt geraten. 

Ein alternativer Ansatz ist vielversprechender, nervenschonender und unterhaltsamer: Praktizieren Sie konsequentes Argumentations-Judo! Im Judo wird die Bewegungsenergie des Gegners gegen diesen selbst eingesetzt. Für unsere Zwecke heißt das, der anderen Seite nicht zu widersprechen, sie nicht überzeugen zu wollen, sondern sie auf ihrem argumentativen Weg in die Absurdität konsequent und schwungvoll zu bestärken – in der Hoffnung, dass dabei das eine oder andere skeptische Samenkorn gelegt werden kann und später vielleicht zu einem kleinen grünen Pflänzchen wird. Das humanistische Prinzip dahinter: Man soll die Hoffnung nie aufgeben …

Außerdem sollte man bei diesen Diskussionen weniger den Spinner, sondern vor allem mögliche rationale Zuhörer oder Zuschauer als die eigentlichen Adressaten ins Auge fassen: Diese werden Ihr elegantes, nervenschonendes und stilsicheres Auftreten in der Debatte zu würdigen wissen.

 

Judo-Taktik 1: Den irrationalen Schwung mit Fragen verstärken

Wenn Ihnen Ihr Gegenüber z.B. gerade den neuesten Stand seiner Verschwörungstheorie erklärt … bleiben Sie ruhig, hören Sie zu, widersprechen Sie nicht und bestärken Sie ihn durch Fragen, die die Entwicklung seiner Ansichten fördern. Kommt er richtig in Schwung, kann man sogar Fragen stellen, die auf kritische Punkte oder Lücken abzielen. Die Hoffnung dabei: Hat er ad hoc keine oder nur sehr schlechte Antworten parat, kommt er vielleicht nach dem Gespräch ins Grübeln. Schauen wir uns an einem konkreten Beispiel an, wie diese Taktik funktioniert.

Beispiel Chemtrails

Die Anhänger bzw. Vertreter der Chemtrailtheorie glauben, dass Flugzeuge in großer Höhe Chemikalien versprühen, um z.B. die Bevölkerung mental zu beeinflussen oder homosexuell bzw. lesbisch zu machen oder die Fruchtbarkeit zu hemmen. Es gibt da zahlreiche verschiedene Annahmen zu den Verschwörungszielen. Wer dahintersteckt ist ebenfalls nicht so richtig klar – auch dazu kursieren diverse Theorien. Ich persönlich finde die mit der Queen am lustigsten.¹⁾Vor allem in Kombination mit der These, die Queen sei wie Obama und Clinton ein außerirdisches Reptiloid. Die Datenbasis ist wiederum relativ klar: Als Beweis für die hinterhältige Besprühung dienen jedermann zugängliche Beobachtungen am Himmel – meistens geht es um „seltsame“ Kondensstreifen, deren Formen und Lebensdauer.

Bestärkende Fragen

Eine elegante Einleitung zur Judo-Taktik 1 ist ein überzeugtes Ach, das ist ja total interessant!

• Was sind denn das für Chemikalien – und wie genau wirken sie?
• Wo und von wem werden sie hergestellt?
• Wie kann man sich denn gegen diese Chemikalien schützen?
• Wer steckt denn dahinter – und was genau ist das Ziel?
• Was machen die denn noch alles mit uns? (Vorsicht: Meistens geht es dann erst richtig los!)
• Machen die das auf allen Kontinenten oder nur über Europa oder bestimmten Ländern?
• Wo kommt denn das Geld dafür her?
• Warum machen die Flugzeughersteller und die Fluggesellschaften bei so etwas mit?
• Kriegen die Flugzeugbesatzungen Geld dafür?

Kritische Fragen

• Wurde denn schon mal ein Flugzeug beim Beladen oder Betanken mit den Chemikalien gefilmt?
• Wie hoch muss denn die Konzentration sein, wenn die Chemikalien in so großer Höhe versprüht werden, damit sie überhaupt noch wirksam sind?
• Bei so vielen Beteiligten – da hat doch sicher schon mal jemand geplaudert oder ausgepackt?
• Wenn die Schäden so krass sind – warum hat denn noch kein Opfer eine Klage eingereicht?
• Da hat doch sicher schon mal jemand einen Wetterballon mit Messvorrichtung hochgeschickt, um die Chemikalien nachzuweisen –  was kam denn dabei heraus?
• Warum möchte uns denn die Queen zusammen mit den Rothschilds zu Homosexuellen oder Lesben machen?
• Wie schützen sich denn die Queen und die Rothschilds gegen die Chemikalien?
• Wenn die Regierung das mit geheimen Geldern finanziert – warum haben denn die Oppositionsparteien oder der Bundesrechnungshof das noch nicht herausgefunden und in die Öffentlichkeit getragen?
• Hat sich die Wirkung bei Ihnen selber auch schon eingestellt?

Beide Listen ließen sich beliebig verlängern – das Prinzip dieser Judo-Taktik dürfte aber klar geworden sein: Mithelfen, um die Absurdität auf die Spitze zu treiben!

 

Judo-Taktik 2: Selbständig und aktiv mitspinnen

Diese Taktik erfordert etwas mehr Interventionsfreude und argumentatives Engagement von Ihnen als der relativ einfache bzw. zurückhaltende Einsatz von Fragen. Jetzt gehen Sie einen Schritt weiter: Sie nehmen Bestandteile der Verschwörungstheorie oder Spinnerei auf und bauen diese konsequent weiter aus. Sie treiben die Diskussion damit in für den Spinner vielleicht unbequeme, unangenehme oder sogar absurde Gefilde. Die Hoffnung dabei: Vielleicht geht dem Spinner auf diesem Weg ein Lichtlein auf.

Beispiel Die Bibel als Kern unserer moralischen Grundordnung

In Diskussionen mit gläubigen Christen erlebt man immer wieder, dass diese ihre moralischen Ansichten auf Basis der Bibel begründen. Zumindest versuchen sie das. Da die Bibel für Christen als letzte und absolute Autorität gilt, müsste man in einer rationalen und systematisch angelegten Diskussion konsequenterweise deren angebliche Autorität erschüttern. Das geht unter Verweis auf den Forschungsstand ziemlich leicht – ist aber in einer eher lockeren und zeitlich begrenzten Diskussion kaum zu leisten.²⁾Heinz-Werner Kubitza: Der Glaubenswahn. Marburg, 2017. Andreas Edmüller: Die Legende von der christlichen Moral. Marburg, 2015. Die allermeisten Christen wissen nämlich erfahrungsgemäß so gut wie Nichts über diesen Forschungsstand. Gleiches gilt für den Inhalt der Bibel: Dieser ist den allermeisten Christen schlicht und einfach nicht oder nur als surreales und kitschiges Zerrbild bekannt. Aber genau das ermöglicht den wirkungsvollen Einsatz der zweiten Judo-Taktik: Nutzen Sie aktiv die Inhalte der Bibel in Ihrem Sinne! Die folgenden Beispiele zeigen, was gemeint ist:

Eine wirkungsvolle Einleitung könnte sein: Echt schön, dass noch jemand die Bibel ernst nimmt in diesen gottlosen Zeiten.

• Ich bin da absolut auf Ihrer Seite: Die Bibel verbietet Scheidung und deshalb sollten wir die entsprechenden Gesetze abschaffen. Und wir sollten dann auch gleich die Sabbatruhe wieder einführen, wie das in Exodus 35:2 gefordert wird. Es ärgert mich schon lange, dass mein Nachbar am Samstag immer sein Auto wäscht und in seinem Garten arbeitet. Muss ich ihn da gleich selber töten? Eigentlich ist er ja ganz nett und ich hätte da wahrscheinlich Gewissensbisse … es wäre schön, wenn das jemand für mich übernehmen könnte …wie sehen Sie das?

• Genau: Die Bibel verbietet ganz klar Homosexualität und es ist einfach ein Riesenskandal, dass unsere Gesetze das ignorieren. Das ist wie mit einer Bekannten von mir: Obwohl in Lev. 19:19 ausdrücklich verboten wird, Kleidung zu tragen, die aus mehr als einem Stoff gemacht ist, trägt sie bei unseren Bergtouren immer Mischgewebe – also mich macht das schier wahnsinnig! Und wenn sie mal nicht so gut drauf ist, flucht sie beim Klettern auch noch – und wie. Bis oben! Damit habe ich natürlich ein Problem und vielleicht können sie mir helfen: Die Bibel sieht in so einem Fall vor, das Dorf zusammenzurufen und die Frau zu steinigen. Wir wohnen aber beide in München – wer soll denn da genau mitmachen und wo kriegen wir mitten in der Stadt die ganzen Steine her?

• Es freut mich, dass Sie für eine aufgeklärte und an der Wissenschaft orientierte Interpretation des Neuen Testaments eintreten. So können wir auch den Exorzismus endlich wieder rehabilitieren.³⁾Um Missverständnisse zu vermeiden: Jesus war in erster Linie tatsächlich Exorzist und Endzeitprediger – wenn man den Evangelien glauben kann. Dafür steht ja Gottseidank auch der Vatikan; dort will man jetzt mit den ganzen alten Vorurteilen gegen den Exorzismus aufräumen und hat das Ausbildungskonzept überarbeitet: „Die Ausbildung zum Exorzisten soll Priestern eine „ernsthafte, wissenschaftliche, theologische, interdisziplinäre“ Rundumsicht zu dem Thema vermitteln. Ein Exorzismus sei keine Magie, sondern ein Dienst der Nächstenliebe und Barmherzigkeit.“⁴⁾https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2018-04/exorzismus-teufelsaustreibung-paepstliche-universitaet.html 

 

Judo-Taktik 3: Bringen Sie Ihre eigene Verschwörungstheorie in die Debatte ein

Dieser Ansatz erfordert am meisten Einsatz von Ihnen, ist aber dafür ausgesprochen unterhaltsam – zumindest für die vernunftbegabten Anwesenden. Und so geht es: Sie lassen sich im ersten Schritt (scheinbar) voll und ganz auf die Weltsicht des Spinners ein und teilen dann im zweiten Ihre eigene Verschwörungstheorie mit ihm. Ihr Motto: Endlich hat man einmal einen aufgeklärten Gesprächspartner, der sich vom Mainstream nichts vormachen lässt – diese Gelegenheit muss man nutzen! Die Hoffnung dabei: Der Spinner versucht, Ihnen zu widersprechen und nähert sich dabei vielleicht den Gefilden der Vernunft wieder etwas an.

Mein aktuelles Lieblingsbeispiel

Argumentations-Judoka: Genau – Sie haben völlig Recht! Die EU-Eliten arbeiten zusammen mit der Bundesregierung schon lange daran, uns Deutsche gegen Ausländer auszutauschen.⁵⁾Falls Sie mit einem überzeugten Brexiteer diskutieren, können Sie zusätzlich punkten, wenn sie von den stalinistischen oder Nazi-EU-Eliten reden. Es ist mir unerklärlich, warum so viele Landsleute die Augen vor dieser Umvolkung verschließen – zumal wir so etwas ähnliches ja erst kürzlich hatten.⁶⁾https://de.wikipedia.org/wiki/Großer_Austausch

Spinner: „Kürzlich“ – was meinen Sie damit?

Argumentations-Judoka: Das wundert mich jetzt schon, dass Sie davon nichts mitgekriegt haben – das ist alles ganz leicht im Internet zu finden. Die haben doch 1989 auf einen Schlag Millionen von Ossis in den Westen transferiert, um unsere Wirtschafts- und Verteidigungskraft zu schwächen.

Spinner: Hä?

Argumentations-Judoka: Ist doch klar – steht alles wie gesagt im Internet: Die ganzen Grenzsicherungen an der Mauer, also Stacheldraht, Signalanlagen, Selbstschussanlagen usw. waren doch so ausgelegt, dass man nicht von Osten nach Westen kommen kann. Ich sage nur: Antifaschistischer Schutzwall! Die Amis und die CIA wollten nach dem Krieg ein militärisch starkes Westdeutschland als Sklavenstaat – und dazu haben sie ein klares Feindbild gebraucht und ein Deutschland, das kleiner ist als das eben besiegte deutsche Reich. Mit dem ganzen Reich hätte es doch keine deutsche Wiederbewaffnung geben können! Also haben sie dafür gesorgt, dass die Mauer gebaut wird und im Internet können Sie selber nachlesen, dass Ulbricht, Honecker und Mielke Westagenten waren, vermutlich vom BND oder von der CIA. Manche sagen, die wären vom Mossad gewesen, aber das scheint mir doch etwas weit hergeholt. Damals war der Mossad noch nicht so weit wie heute. Jedenfalls: Die haben dann für diese ganze Abschottung und den Mauerbau gesorgt, die Amis haben Westdeutschland aufgerüstet und dabei kräftig verdient. Überlegen Sie doch mal: Wir hatten damals eine der stärksten Armeen der Welt!

Spinner: Das ist mir echt neu – aber warum haben sie denn die Mauer dann weggemacht und die Wiedervereinigung zugelassen?

Argumentations-Judoka: Das liegt doch auf der Hand: Westdeutschland wurde den Amis wirtschaftlich und militärisch zu stark, das hatten sie nicht so geplant und vorhergesehen. Tja – unsere deutschen Tugenden halt! Da haben sie dann eine Möglichkeit gesucht, unseren nationalen Wohlstand, unseren inneren Zusammenhalt und unsere militärische Stärke zu schwächen. Die Lösung: Umvolkung! Reagan hat dann seinen Leuten in der DDR-Führung gesagt, sie sollen die Mauer aufmachen und die ganzen Ossis in den Westen rauslassen. Dem war klar, dass uns das einige Jahrzehnte und enorm viel Geld kosten und zu vielen Streitereien führen wird. Und dann wurde ja auch gleich festgelegt, dass wir nur noch eine Armee von maximal 350000 Mann haben dürfen – und zwar ohne Wehrpflicht. 

Spinner: Also ich weiß nicht …

Argumentations-Judoka: Aber das Ganze ist doch sonnenklar – da passt jedes Mosaiksteinchen perfekt zum anderen. Haben Sie sich eigentlich schon mal die Frage gestellt, wie eine Frau aus dem Osten, die angeblich für die Stasi gearbeitet hatte, Kanzlerin werden kann? Die war doch ohne jeden Zweifel Teil der Honecker-Mielke-CIA-Truppe und zieht jetzt den zweiten Teil der Umvolkung durch: Zuerst die Ossis und jetzt die Islamisten! Und wissen Sie, was die dann zum Abschluss vorhaben? Ich sage nur: Mexiko! Warum wollen wohl die Amis die Mexikaner nur auf einer Seite einmauern? …

 

Zum Schluss noch eine Bitte in eigener Sache

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PD Dr. Andreas Edmüller, 9. November 2019