Braucht man Religionsunterricht?

In einem Artikel der Zeit Online  hat der Journalist Manuel J. Hartung dafür plädiert, dass konfessioneller Religionsunterricht an unseren Schulen notwendig sei und wieder mehr in den Mittelpunkt rücken müsse. Er bringt im wesentlichen drei Argumente für den Religionsunterricht.

Das erste Argument.

Wir finden das erste Argument in folgender Passage:

In diesem Jahr der Religion ist es Zeit, dass „Reli“ seine teils fremd-, teils selbstverschuldete Verzwergung überwindet: raus aus den Randstunden um 7 Uhr morgens oder am Nachmittag, weg mit dem Stigma eines Larifari-Fachs, in dem man über Drogen, Sex und Okkultismus palavert. „Reli“ war vielleicht noch nie so wichtig wie heute – aus drei Gründen.

Erstens lernen Schüler die Welt zu verstehen: Anders als viele erwarteten, wurde die Welt zuletzt nicht säkularer. Im Gegenteil: Religion ist so wichtig geworden, dass die Oxforder Politikwissenschaftlerin Monica Toft schon „Gottes Jahrhundert“ ausrief. Da geht es nicht nur um Terror und Konflikt; in Deutschland hat sich etwa der Habitus des öffentlichen Diskurses spiritualisiert: Man schaue sich nur den Hashtag #prayforberlin an, unter dem selbst die SPD nach dem Anschlag am Breitscheidplatz twitterte. Dass Religion auch ein Schlüssel ist zu Geschichte und Kultur, versteht sich von selbst.

Dieses Argument baut auf einer einzigen Prämisse auf. Wir können es folgendermaßen niederschreiben:

Prämisse: Durch den Religionsunterricht lernen die Schüler die Welt zu verstehen.

Konklusion: Religionsunterricht ist an unseren Schulen notwendig.

Die Qualität des Arguments hängt davon ab, wie die sehr allgemein formulierte Prämisse genau zu deuten ist. Inwiefern hilft uns der Religionsunterricht dabei, die Welt zu verstehen? Hartung erläutert dies offensichtlich nach dem Doppelpunkt, zumindest ist der Doppelpunkt üblicher Weise so zu lesen.

Doch hier wird es verwirrend. Eigentlich hätte ich erwartet, dass uns der Autor erklärt, warum die im Religionsunterricht vermittelten Inhalte uns ein besseres Verständnis der Welt liefern. Stattdessen ist plötzlich davon die Rede, wie wichtig Religion (als Phänomen) geworden sei, und dass sie – unerwarteter Weise – wieder eine größere Rolle in der Gesellschaft spiele. Als Beleg dafür beruft er sich auf die Politikwissenschaftlerin Toft (schwaches Autoritätsargument) und er bezieht sich beispielhaft auf einen Twitter-Hashtag der SPD (schwaches Beispielsargument).

Entsprechend dieser Erläuterung müsste das Argument also so rekonstruiert werden:

Prämisse: Religion ist ein sehr wichtiges gesellschaftliches Phänomen.

Konklusion: Der Religionsunterricht ist an unseren Schulen notwendig.

Dass Religion eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielt, ist eine deskriptive Behauptung. Sie mag stimmen oder auch nicht. Es fragt sich jedoch, was diese Behauptung für einen Begründungsbeitrag zur Konklusion leistet. Die Antwort ist einfach. Keinen!

Die Konklusion folgt keineswegs aus der Prämisse. Daher ist das Argument auch nicht gültig. Selbst wenn Religion ein ernst zu nehmendes, erklärungswürdiges Phänomen ist, so folgt daraus nicht, dass Religionsunterricht stattfinden sollte. Die eigentliche These (Notwendigkeit des Religionsunterrichts) kann nicht auf diese Prämisse gegründet werden. Das Argument ist ein non sequitur.

Das Argument ist viel versprechender, wenn man die Prämisse einfach in seiner ursprünglichen Bedeutung versteht, und das Argument ganz wie zu Beginn darstellt:

Prämisse: Durch den Religionsunterricht lernen die Schüler die Welt zu verstehen.

Konklusion: Deshalb ist Religionsunterricht an unseren Schulen notwendig.

„Durch den Religionsunterricht die Welt zu verstehen“ ist natürlich eine sehr generelle Aussage: wenig präzise, ziemlich schwammig und in viele Richtungen interpretierbar. Aber sie lässt sich plausibel als die Aussage explizieren, dass im Religionsunterricht Inhalte vermittelt werden, die den Schülern helfen, die Welt besser zu verstehen.

Daraus könnte man dann tatsächlich leichter schließen, dass Religionsunterricht notwendig ist. Nur ist in diesem Fall die Prämisse leider komplett falsch. Religion hilft nicht dabei, besser zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Sie liefert uns keine Erklärungszusammenhänge für die Phänomene in dieser Welt. Weder der Koran, noch die Bibel, noch der Katechismus, noch die verschiedenen Glaubenslehren tragen etwas zum Verständnis der Welt bei. (Die Kreationisten sehen das wahrscheinlich anders!) Und eine Ausnahme bilden Teile des Buddhismus. Für ein Verständnis der Welt ist Religion weitgehend irrelevant. Und aus diesem Grund schlägt Hartungs erstes Argument fehl.

Mein Fazit zu Hartungs erstem Argument lautet daher:

Wenn man Religion als ein erklärungsbedürftiges Phänomen in menschlichen Gesellschaften betrachtet, dann braucht man keinen Religionsunterricht sondern Soziologie, Anthropologie oder Geschichte.

Und wenn es darum geht, die Welt zu verstehen, dann brauchen wir keinen Religionsunterricht, sondern Fächer wie Biologie, Wirtschaftskunde, Geographie, etc.

 

Das zweite Argument

Das zweite Argument findet sich im nächsten Abschnitt:

Zweitens hilft „Reli“ den Schülern, sich selbst zu erkennen. Irgendwann stellt sich jeder Schüler die großen Fragen, die Fanta 4 in diesen Refrain packten: „Wo gehen wir hin? Wo kommen wir her? Was ist der Sinn? Ist da noch mehr? Gibt’s da ’nen Tunnel? Ist da ein Licht? Ich weiß es nicht.“ Ein Ethiklehrer muss diese Fragen rein religionswissenschaftlich beantworten: Die einen glauben das, die anderen das. Doch reicht reine Wissensvermittlung bei so existenziellen Fragen aus? Braucht es nicht gerade hier ein Bekenntnis? Ein „Reli“-Lehrer ist katholisch, evangelisch, muslimisch oder jüdisch. „Ich glaube an die Auferstehung von den Toten“, wird der Christ etwa sagen. Daran können sich Schüler festhalten oder reiben, in jedem Fall aber wachsen. Daher ist es so wichtig, dass Unterricht bekenntnisorientiert ist, sei es muslimisch oder christlich. Wer sich selbst kennt, kann sich selbst erkennen – und dann aufgeklärt und tolerant auf andere Religionen zugehen.

Ich habe in dieser Passage folgendes Argument erkannt:

Prämisse 1: Schüler stellen sich existentielle Fragen.

Prämisse 2:  Reiner Ethikunterricht kann diese Fragen nicht beantworten.

Prämisse 3: Für die Beantwortung existentieller Fragen braucht es konfessionellen Religionsunterricht.

Konklusion: Der Religionsunterricht ist an unseren Schulen notwendig.

 

Unter Zuhilfenahme der Prämisse, dass es wichtig ist, dass Schüler in einer Schule Antworten auf ihre existentiellen Fragen bekommen, ist dieses Argument durchaus schlüssig. Die Konklusion wird zumindest durch die Prämissen plausibel gemacht. Aber wie sieht es mit den Prämissen selbst aus?

Prämisse 1 ist richtig. Natürlich stellen sich Schüler eine ganze Reihe von existentiellen Fragen nach dem Motto: „Was soll das Ganze?“ Diese Prämisse ist unproblematisch.

Die zweite Prämisse jedoch, dass Ethikunterricht keine existentiellen Fragen beantworten kann, ist falsch. Denn in einem guten Ethik-Unterricht wird nicht nur Wissen zu moralischen Positionen vermittelt, sondern es wird auch erörtert, wie man sich mit den Grundfragen des Lebens auseinandersetzt: Was ist moralisch richtig? Was gehört zu einem glücklichen Leben? Was darf ich? Was ist mir wichtig im Leben?

Die Alten Griechen haben Ethik immer schon als eine Art Lebenskunst und praktisches Wissen verstanden, um zu einem guten und glücklichen Leben zu gelangen. Und dazu gehört auch, die Kompetenz zu entwickeln, die existentiellen Fragen zu durchdenken. Hier hat Hartung also ein falsches Bild von Ethik.

Prämisse 3 ist in Hartungs Argumentation als rhetorische Frage getarnt: Braucht es nicht gerade hier ein Bekenntnis?

Auffällig ist übrigens immer wieder: wenn Argumente schwach sind und auf wackligen Beinen stehen, wird häufig das Stilmittel der rhetorischen Fragen benutzt. In einer rhetorischen Frage klingt die dahinter stehende Aussage nicht so platt und apodiktisch. Der Eindruck ist reflektierter. Die rhetorische Frage macht die Aussage weicher, lässt sie nicht so plump klingen, und verführt den Leser eher zu einer Zustimmung. Also Vorsicht: wenn Ihnen zu viele rhetorische Fragen in Argumenten begegnen. Oft ein gutes Zeichen, dass das Argument auf Sand gebaut ist.

Und auch diese Prämisse ist falsch. Man braucht keinen konfessionellen Religionsunterricht, um Antworten auf existentielle Fragen zu bekommen. Dazu brauche ich mich nur an meine eigene Schulzeit zu erinnern: als wir Schüler uns mit dem Sinn des Lebens beschäftigt haben, da haben wir Sartre, Camus, Nietzsche, Schopenhauer oder Marc Aurel gelesen. Philosophen also. Und keiner ist auf die Idee gekommen, den Katechismus aufzuschlagen.

Was nicht heissen soll, dass Menschen in Religionen keine Antworten auf ihre Fragen nach dem Sinn des Lebens finden. Meine These ist nur: die Religion braucht es dazu nicht. Und schon gar keinen Religionsunterricht.

Übrigens ist in dieser Passage noch ein weiteres Argument angedeutet und zwar für die These, dass Religionsunterricht konfessionsbezogen sein sollte. Wie sieht das Argument aus?

Prämisse 1: Durch ein klares Bekenntnis geprägter Religionsunterricht bewirkt, dass die Schüler wachsen.

Prämisse 2: Zu wachsen is gut und wichtig.

Konklusion: Der Religionsunterricht sollte konfessionsgebunden sein.

Nun ja: die erste Prämisse ist alles andere als klar. Das einzige was klar ist, ist dass „wachsen“ sich nicht auf eine Steigerung der Körpergröße bezieht. Zwei Fragen sind an diese Prämisse zu stellen: Was heisst wachsen hier genau? Und warum sollte dafür ein konfessioneller Religionsunterricht ursächlich sein? Die zweite Prämisse fehlt in Hartungs Text, ist aber notwendig, denn sonst könnte keine normative Aussage als Konklusion erschlossen werden.

Einer der Höhepunkte in Hartungs zweitem Argument ist der letzte Satz. Wer sich selbst kennt, kann sich selbst erkennen – und dann aufgeklärt und tolerant auf andere Religionen zugehen.

Diese Satz gehört in jede Aphorismensammlung, die sich auf dem weihnachtlichen Gabentisch findet. Man könnte Stunden über seine Bedeutungstiefe nachdenken. Leider ist das auch genau das Problem. Er klingt wie die Quintessenz jahrelanger, mühsamer Reflexion. In Wirklichkeit ist er tautologisch, völlig beliebig, nichts sagend und deshalb belanglos. Er ist eine grammatikalisch korrekte Aneinanderreihung leerer Floskeln.

Argumente sind immer auf drei Fragen hin zu überprüfen:

  • Sind die Begriffe und Aussagen klar und präzise genug?
  • Folgt die Konklusion aus den Gründen?
  • Sind die genannten Gründe selbst wahr oder akzeptabel?

Hartung gelingt es, auf allen drei Gebieten daneben zu liegen.

Mein Fazit zu Hartungs zweitem Argument: Wenn es um existentielle Fragen geht, dann brauchen wir keinen Religionsunterricht, sondern Philosophie-Unterricht.

 

Das dritte Argument

Das dritte Argument lesen wir im nächsten Abschnitt:

Drittens erfüllt sich durch „Reli“ der ganze Bildungsauftrag der Schule. Es ist zu wenig, wenn Schulen nur Wissen vermitteln oder aufs Berufsleben vorbereiten. Ihr Auftrag ist auch: Herzensbildung. Kann man sich eine herzensbildende Schule vorstellen, die religiös unmusikalisch ist? Eine Schule, in der Schüler Integralrechnung, subjonctif und die Merkmale von HSO und Homöoteleuta pauken, aber keinen Platz haben für Glauben, Zweifeln und Verzeihen, Irren und Ratlosigkeit?

Dieses Argument hat folgende Gestalt:

Prämisse 1: Eine Schule hat sich auch um Herzensbildung zu kümmern.

Prämisse 2: Herzensbildung ist ohne Religionsunterricht nicht vorstellbar.

Konklusion: Konfessioneller Religionsunterricht an Schulen ist notwendig.

Die erste Prämisse ist schwammig und vielsagend zugleich. Was ist unter Herzensbildung zu verstehen? Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt haben davon gesprochen.  Danach sollte in der Schule nicht nur der Verstand sondern auch das Gefühl und die Empfindungsgabe. Das Schöne und Gute sollte Gegenstand des Unterrichts sein. Heute würde man wahrscheinlich von emotionaler Intelligenz sprechen. Entwicklung von ästhetischem und moralischem Empfinden, vielleicht auch die Entwicklung von Tugenden

Die Schüler lernen, empathisch zu sein, Mitgefühl zu zeigen, ihre Emotionen bei Entscheidungen zu berücksichtigen, Mut aufzubringen usw., einen Sinn für Schönheit entwickeln, das moralisch Richtige empfinden können

Die Schwachpunkte in diesem Argument liegen wieder in den Prämissen. Die erste Prämisse ist durchaus akzeptabel. Aber sie ist letzten Endes bedeutungsleer, wenn man nicht erklärt, was man unter „Herzensbildung“ versteht und wie man dies in einem Lehrplan umsetzen könnte.

Prämisse 2 ist jedoch falsch. Die Entwicklung von Gefühlen und Empfindungen ist ohne Religion sogar sehr gut vorstellbar. Eher ist Religion mit seinem apodiktischem Glaubenskanon ein Hindernis. Die Herzensbildung geschieht nämlich im Kunstunterricht, in der Musikstunde, in der Lyrik, im Roman.

Mein Fazit zu Hartungs drittem Argument: Wenn es um Herzensbildung geht, dann brauchen wir keinen Religionsunterricht, sondern Literaturkunde, Musik, Deutschunterricht oder Kunstunterricht. (Vielleicht noch Sport: denn der hilft auch dabei, ein starkes Herz auszubilden.)

Was zeigt sich also am Ende? Gibt man den Argumenten eine klare Gestalt, dann liegen die Schwachpunkte sofort offen. Es handelt sich entweder um gar keine echten Argumente oder die Gründe, die herangezogen werden, sind unklar oder einfach falsch. Nur durch Hartungs feuilletonistische Vernebelung und rhetorische Verschleierung sieht am Anfang alles irgendwie plausibel aus. In Wirklichkeit wird kritisches Denken ausgeschaltet.

Thomas Wilhelm

 

 

 

 

 

 

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