Der Fall Özil und Gündogan

Seit 1966 kann ich mich erinnern, die Spiele der Nationalmannschaft bei Welt- und Europameisterschaften am Fernseher mitzuverfolgen. Finale in Wembley, Halbfinale in Mexiko, Finale in München, Rom und Rio – ich war am TV dabei. Sie können sich ja denken, dass ich noch nie so enttäuscht und verärgert war wie dieses Jahr – ein Totalausfall! Darum geht es heute aber nicht. Rückschläge gibt es immer wieder und die gehören im Sport dazu. Als eingefleischtem Anhänger des TSV 1860 ist mir das sonnenklar. Also: Schwamm drüber und Blick nach vorne: In 2 Jahren ist wieder EM! Und dann spielt 1860 auch wieder in der 1. Bundesliga – garantiert!

Vorher möchte ich mir aber noch einen Blick auf das Thema Erdogan, Özil und Gündogan gönnen. Die öffentliche Debatte dazu ist nämlich wieder einmal stark von Emotionen, politischer Korrektheit und Irrelevanz geprägt. Da kann ein bisschen liberale Klarheit sicher nicht schaden.

Welche Argumente sind irrelevant?

Die ständigen Pfiffe während des Testspiels gegen Gündogan nach seinem Auftritt mit Erdogan seien Ausdruck einer rassistischen Grundhaltung der Zuschauer. 1)Es geht nicht um Politik. Spiegel Online vom 9.6.2018. Das ist natürlich Quatsch. Nie zuvor gab es systematische Rassismus-Pfiffe gegen Nationalspieler mit Migrationshintergrund. Die werden genau so unterstützt und bei schlechter Leistung ausgepfiffen wie alle anderen. Besagte Pfiffe waren eindeutig auf Gündogans und Özils Sympathie- und Solidaritätsbekundungen für Erdogan zurückzuführen – auf nichts sonst.

Das ganze Theater habe der Mannschaft geschadet und sei zumindest eine Teilerklärung für das sportliche Debakel in Russland. So die Meinung vieler Sportberichterstatter. Das ist auch Quatsch! Eine intakte (!) Mannschaft hat robuste und funktionierende Mechanismen, um mit allfälligen Störungen umzugehen und diese professionell zu bewältigen. Eine Mannschaft, die keine ist – und das war in diesem Jahr leider so – hätte auch ohne diesen Vorfall schlecht gespielt. Özil und Gündogan die Verantwortung für das Turnierversagen zuzuschieben halte ich für falsch, kurzsichtig und feige.2)Heinz Jiranek und Andreas Edmüller: Konfliktmanagement. 5. Auflage, Haufe, 2017.

Da Özil die Nationalhymne nie mitsingt, hätte man gewarnt sein müssen. Geht es noch dümmer? Auf youtube kann man sich viele historische Fußball-Videos anschauen und wird dann sehr schnell feststellen, dass auch z.B. Franz Beckenbauer und Sepp Maier die Hymne nicht (immer) mitgesungen haben. Auch nicht vor dem Finale 1974 in München gegen Holland. Und trotzdem haben wir unseren Lieblingsgegner wie üblich weggeputzt. Dazu brauchen wir offensichtlich keine Hymne. Und bei welchen Sportarten wird denn überhaupt vor dem Wettkampf die Hymne gesungen? Ein Felix Neureuther fährt seine Slaloms auch ohne Gesang vor dem Start.

Worum geht es tatsächlich?

Der Kern des Problems lässt sich klar benennen: Özil und Gündogan haben sich vor den Karren des Autokraten Erdogan gespannt und sich dadurch selbst eindeutig neben die Nationalmannschaft gestellt. Das hätte der DFB nicht akzeptieren dürfen und so schnell wie entschlossen eingreifen müssen.

Der DFB und die Nationalmannschaft positionieren sich seit Jahren unmissverständlich gegen Rassismus, Ausgrenzung, Diskriminierung jeder Art. Das ist zu begrüßen und sehr viele Vereine und Fangruppen arbeiten seit Jahren mit viel Engagement an diesem Thema. Die Integrationsleistung der vielen Fußballvereine und Ehrenamtlichen kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Und dieses Anliegen trägt der DFB auch völlig zu Recht in die Öffentlichkeit. Wir alle kennen den Fernsehclip, in dem die einzelnen Gesichter der Spieler ineinander übergehen und der genau diese Botschaft vermittelt: Für Integration, gegen Rassismus und Diskriminierung!

Diese Botschaft hat offensichtlich die Spieler Özil und Gündogan nicht erreicht. Sie haben es tatsächlich geschafft, ihre Sympathie für Erdogan zu bekunden – einen „Präsidenten“, der immer wieder seinen Rassismus zum Ausdruck bringt, sich ausdrücklich gegen Integration ausspricht und mit Begeisterung ganze Bevölkerungsgruppen diskriminiert und ausgrenzt.

Ad Rassismus: 2016 hat Erdogan im Rahmen der Armenien-Debatte im Bundestag verlangt, das Blut diverser Abgeordneter unseres Parlamentes einem Test zu unterziehen. Was war passiert? Abgeordnete mit Migrationshintergrund wie Cem Özdemir hatten den historisch einwandfrei belegten Völkermord an den Armeniern völlig korrekt als „Völkermord“ bezeichnet.3)R. J. Rummel: Death by Government. New Brunswick und London, 6. Auflage, 2008. Pflichtlektüre für Liberale. Daraufhin Erdogan: Niemand, in dessen Adern das Blut dieser Nation fließt, kann diese Nation mit dem sogenannten Völkermord beschuldigen. 4)Denis Yücel: Erdogan fordert jetzt Bluttests für deutsche Abgeordnete. Welt Online, 6.6.2016.Klingt für mich wie Rassismus pur – an seinem Blute sollst Du ihn erkennen! Und Erdogans Koalitionspartner MHP (bei uns auch als Graue Wölfe bekannt) ist klar rechtsradikal und rassistisch ausgerichtet, so z.B. explizit gegen die Kurden.

Ad Integration: Erdogan ist seit langer Zeit für seine integrationsblockierenden Aufrufe und Aktivitäten bekannt. Mit dem Moscheeverband Ditib verfolgt Erdogan ganz systematisch eine dezidiert integrationsfeindliche Linie, er fordert auch gerne mal eigene türkische Gymnasien in Deutschland und sieht die Türkei als Schutzmacht aller (!) in der BRD lebenden Türken. Integration geht anders.

Ad Diskriminierung: Ein Blick auf die aktuellen Massenverhaftungen, Massenentlassungen und Erdogans Frauenbild dürfte genügen: Erdogan hat zum Wert der normativen Gleichheit aller Personen ganz einfach keinen Bezug.

Also: Die Spieler Özil und Gündogan haben sich klar, deutlich und in aller Öffentlichkeit mit einem „Präsidenten“ Erdogan solidarisiert, der genau gegen die Werte steht, für die unsere Nationalmannschaft ebenso klar und deutlich eintritt. Darum geht es bei der ganzen Sache – und genau darum waren die Pfiffe der Zuschauer gegen den Spieler Gündogan berechtigt: Die Zuschauer haben ganz einfach die Positionierung von DFB und Nationalmannschaft ernst genommen.

Damit möchte ich den beiden Spielern nicht unterstellen, sie seien Rassisten oder Gegner der Integration. Ich vermute eher, dass sie nicht kapiert haben, was sie da tun und anrichten. Schließlich gibt es zum Thema Fußballprofi, Intelligenz und Umfeldwahrnehmung jede Menge einschlägige Anekdoten und Interviews.

Wie hätte der DFB reagieren müssen?

Der DFB hätte genau so reagieren müssen, als hätten zwei Nationalspieler ohne Migrationshintergrund sich mit Björn Höcke und den von ihm vertretenen Positionen solidarisch erklärt. Stellen Sie sich vor, Toni Kroos und Manuel Neuer hätten Höcke jeweils ihr Trikot mit Autogramm überreicht, ihn dabei als standhaften Vertreter ihrer politischen Ansichten gewürdigt und ihm viel Erfolg bei den nächsten Wahlen gewünscht. Noch Fragen? 

Mein Fazit

  • Özils Karriere in der Nationalmannschaft hat er selber durch zwei Dinge beendet: Erstens hat er sich gegen den Wertekanon seiner eigenen Nationalmannschaft gestellt und sich zweitens einer öffentlichen Debatte konsequent entzogen.
  • Gündogan hat Einsicht gezeigt und sich um Klärung bemüht; das Thema ist aber noch nicht abgeschlossen. Dazu ist die Frontstellung gegen den Wertekanon seiner eigenen Nationalmannschaft einfach zu krass. Er wird sich einer Grundsatzdiskussion stellen müssen.
  • Der DFB hat kläglich versagt. Die gezeigten Reaktionen waren insgesamt sehr zögerlich und windig, ohne klare Linie und Biss. Dadurch stellt sich natürlich die Frage, wie ernst es dem DFB mit den von ihm selbst propagierten Werten eigentlich ist. Der DFB wird sich einer grundsätzlichen Klärung der Gesamtthematik stellen müssen.

PD Dr. Andreas Edmüller, 20. Juli 2018

References   [ + ]

1. Es geht nicht um Politik. Spiegel Online vom 9.6.2018.
2. Heinz Jiranek und Andreas Edmüller: Konfliktmanagement. 5. Auflage, Haufe, 2017.
3. R. J. Rummel: Death by Government. New Brunswick und London, 6. Auflage, 2008. Pflichtlektüre für Liberale.
4. Denis Yücel: Erdogan fordert jetzt Bluttests für deutsche Abgeordnete. Welt Online, 6.6.2016.

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