Über die Ungleichheit von Autos

Legitimierungen für Gewalt nach G20

Nach dem G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 überboten sich verschiedene Linksextremisten und -radikale mit Gewalt legitimierenden und verharmlosenden Verlautbarungen. Zum Beispiel in der sich selbst als  „sozialistische Tageszeitung“ bezeichnenden Neues Deutschland. Das ehemalige Zentralorgan der SED weist enge Verflechtungen mit der Nachfolgepartei DIE LINKE auf. Die wichtigsten Argumente und argumentativen Winkelzüge findet man beispielhaft in folgendem pathetischen Plädoyer zusammengefasst: 

  • Was für ein Gewaltbegriff steht hinter der Kritik an den Demonstrationen gegen den G20-Gipfel? Einer, der Gegenständen mehr Würde zuweist als den Menschen, die systematisch durch globalen (sic.) Verhältnisse getötet werden. Einer, der in Sachbeschädigung ein größeres Übel sieht als in brennenden Asylheimen. Einer, der die Schuld an negativer Berichterstattung brennenden Barrikaden zuweist statt Medien, die selektiv auf das Geschehen und die Zivilgesellschaft zielen. Einer, der verharmlost, dass Polizeigewalt in Hamburg nicht nur tagtäglich Menschen betrifft und mitunter umbringt, sondern auch ignoriert, dass 2001 in Genua, bei Demonstrationen gegen den G8-Gipfel, ein Mensch von der Polizei getötet wurde. Einer, der die Revolution als fiktive Utopie denkt, bei der keine*r selbst anpackt. Das Blech eines Twingos vergießt keinen Tropfen Blut wie Familien, die durch Kriege zerrissen und an Grenzen auf Zäunen aufgespießt werden. Das Glas von Fensterscheiben fühlt keinen Schmerz wie Menschen, die Hunger von innen auffrisst. Mülltonnen aus Plastik sterben nicht, wenn sie brennen, wie Oury Jalloh es bei seinem Tod durch die deutsche Polizei widerfuhr. Abfackelnde Banken bringen niemanden um, wie politisch hergestellte Armut.1)https://de.indymedia.org/node/13033, gesichtet am 08.07.2017.

Ungenaue Begriffe erlauben ungenaue Aussagen, auf die man nicht festgelegt werden kann

Typisch ist der stark erweiterte Gewaltbegriff: Hier wird körperliche Gewalt mit der sogenannten „strukturellen Gewalt“ –  was auch immer diese sein mag – gleichgesetzt.2)Es handelt sich inzwischen um einen sehr unpräzisen politischen Kampfbegriff von Linksextremisten. Er ermöglicht ihnen fast alle tatsächlichen und vermeintlichen Missstände, bis hin zu gefühlter beeinträchtigter Selbstverwirklichung der angeblich inhärenten „Gewaltförmigkeit“ „staatlicher bzw. gesellschaftlicher Strukturen“ zuzuschreiben. Opfer von Gewalt sind demnach nicht nur Opfer körperlicher Gewalt, sondern auch Menschen, denen es nicht gelingt, reich zu werden oder ihren Traumberuf zu ergreifen. Wenn man Begriffe ausweitet und ihre Bedeutung aufbläht, werden sie schwammig und unpräzise. Mit wolkigen Begriffen kann man praktischerweise verbal angreifen und auch wieder ausweichen, wenn es heikel wird („So war es ja nicht gemeint“). Die Positionen werden fluide und gewollt schwer angreifbar. Auch werden einfach falsche Behauptungen in den Raum gestellt: 

  • Sachbeschädigung werde als größeres Übel als brennende Asylheime gesehen. 

Dabei sind brennende Asylheime nicht nur formell strafrechtlich schlimmer, sondern werden auch im öffentlichen Bewusstsein als schlimmeres Übel empfunden. Und ansonsten sagt der Autor hauptsächlich: Menschen sind wichtiger als Sachen (dem stimme ich zu). Ich verstehe auch die Schlussfolgerung: Solange noch irgendein Mensch auf der Welt leidet (wegen struktureller oder realer Gewalt), darf man sich nicht über ein brennendes Auto aufregen. Das  würde ich auch gerne meinen Kindern vermitteln. Solange es auf der Welt leidende Kinder gibt, sollten sie, ohne aufzumucken, alle materiellen Entbehrlichkeiten hinnehmen: 

  • Ich nehme Dir Dein Smartphone weg. In Afrika hungern die Kinder. 
  • Oder: Ein Mitschüler hat Deinen neuen Fußball beschädigt? Was regst Du Dich darüber auf? Die strukturelle Gewalt gegen Gruppen ist viel schlimmer. 
  • Oder: Wie kann man nur weinen, wenn einem das mühsam aufgebaute Klötzchenhaus zerstört wird? Jeden Tag werden Menschen getötet.

Und wenn sich mein Kollege das nächste Mal über die Vernichtung vielstündiger Arbeit durch einen Systemfehler beschwert, werde ich ihn auf die Kriege weltweit hinweisen.

Diese besondere Form des tu quoque-Arguments – Whataboutism – ist beliebt, denn mit dem Verweis auf die Fehler anderer lenkt man auf den ersten Blick elegant von eigenen Verfehlungen ab. Neonazis verweisen gerne auf die stalinistischen Gulags, wenn man Konzentrationslager thematisiert; die Briten schildern die barbarischen Sitten der indigenen Völker, wenn man sie auf koloniale Verbrechen anspricht usw. Und die Neues Deutschland verharmlost bewusst die Straftaten ihrer Leser-Szene, indem sie auf anderes Unrecht und die Übel der Welt verweist.

Unrecht kann nicht durch Unrecht vergolten werden

Über Inkommensurabilität will ich an dieser Stelle nicht sprechen, aber solche Gedanken sollte man zumindest schon einmal gehört haben: Manche Dinge sind nicht vergleichbar. Und Vergleichbarkeit benötigt Kriterien. Mir fallen einfach keine Kriterien ein, nach denen ich ein brennendes Auto mit Hunger in der Dritten Welt vergleichen kann. Das eine mag schlimmer als das andere sein, aber dennoch hebt es das andere nicht auf. Die Polizei lässt auch nicht alle Vergewaltiger (sehr schlimm) und Trickdiebe (weniger schlimm) laufen, weil Mörder (sehr, sehr schlimm) noch nicht gefasst sind. Es handelt sich trotzdem in allen drei Fällen um Straftaten. Polizisten müssen auch eine Anzeige wegen eines geklauten Fahrrads aufnehmen, ohne darauf hinzuweisen, dass die größere Gefahr derzeit vom Terrorismus ausgeht. Und Ärzte behandeln auch grippale Infekte, obwohl es immer noch Krebspatienten gibt. Aber dies nur als Gedanke. Und grundsätzlich gilt: Unrecht kann nicht durch Unrecht vergolten werden. Unrecht kann man nicht durch ein anderes Unrecht ausgleichen oder gar beheben.

Das Auto als Symbol für das zu bekämpfende System

Zumindest in Teilen der linksextremistischen und -radikalen Szene kann man für das Anzünden von Autos Rechtfertigungen und Zustimmung erwarten. Autos stehen, so der Konsens, symbolisch für das zu bekämpfende System. Die Neues Deutschland kommentierte verächtlich: 

  • Es gibt für Deutsche keine schlimmere Kränkung, als wenn man ihre Autos angreift. […] Der Nationalfetisch Auto ist mehr noch als Hymne und Flagge unabdingbar – als ein symbolisches Zentrum kleinbürgerlicher Aufstiegsideologie. Wer Autos anzündet, stellt exakt die Lebensentwürfe in Frage, in denen der Besitz des Autos eins ist mit Erfolg, Dazugehören und Glück im Winkel.3)https://www.neues-deutschland.de/artikel/1056668.brennende-autos-beim-g-nationalfetisch-auto.html?sstr=Nationalfetisch_Auto, vom 7. Juli 2017.

Besitz wird meistens mit Lebenszeit erworben

Wer so denkt, hat zum einen wenig Verständnis für Rechtsstaatlichkeit und muss zum anderen sehr viel Geld zur Verfügung haben. Oder noch nie hart für Geld gearbeitet haben. Denn Arbeitszeit ist Lebenszeit. Wenn meine Kinder verschwenderisch werden, rechne ich ihnen vor: Für diesen Betrag muss ich so und so viel Stunden arbeiten. Diese Zeit würde ich lieber mit Euch verbringen. Auch Autos werden in der Regel mit Geld erworben, in dem Arbeitszeit und Lebenszeit steckt.

Also sollte man durchaus Verständnis haben, wenn sich Menschen wegen ihres abgebrannten Autos aufregen. Das Verständnis können auch Menschen aufbringen, die sich von dem Geld lieber eine Geige kaufen, in den Urlaub fahren oder es an Wohltätigkeitsvereine spenden. Eigentlich kann man dieses Verständnis von jedem Menschen erwarten, der mit Empathie und Verstand ausgerüstet ist.

Abstrakte Solidarität statt konkretem Mitleid

Aber Linksradikale scheinen so sehr vom weltweiten Leid vereinnahmt zu sein, dass sie blind für das kleinbürgerliche Leid der nahen Mitmenschen sind, deren materielle Existenz durch einen Autobrand durchaus gefährdet sein kann.4)Was sie eigentlich blind macht: Wut und Selbstmitleid. Aber das ist ein anderes Thema. Die abstrakte Solidarität für Menschen in Krisengebieten und Drittwelt- oder Schwellenländern (die ich selbst gerne konkret mit Kaufentscheidungen, wie etwa Fair-Trade statt Massenware oder mit Spenden an sinnvolle Projekte unterstütze) sticht die Solidarität mit den Nachbarn aus. Manche haben aus ihrer Sicht dieses Leid sogar verdient. Denn im Visier sind neben „normalen“ Autos von „normalen“ Bürgern auch teure Autos von „Reichen“ (die per se böse sein müssen), sowie auch politisch verseuchte Autos, nämlich Autos von vermeintlichen und echten „Nazis“, von Anhängern des gesamten rechtspopulistischen bis rechtsextremistischen Spektrums. (Durch das kollektivistische Denken werden auch Kollateralschäden in Kauf genommen.)

Die seit 2007 laufende Serie von Brandstiftungen fand jedenfalls Verständnis bei der „politischen Linken“. Die Brandanschläge wurden von Tätern wie Sympathisanten als notwendiges Mittel gegen die Gentrifizierung gerechtfertigt. In der Berliner linksautonomen Zeitschrift Interim bekannten sich teilweise linksextremistische Gruppen zu den Anschlägen. Was nicht bedeutet, dass alle Brandstiftungen von Linksextremisten begangen wurden. Bei einem Großteil wurden keine Tatverdächtigen ermittelt. Es wird so sein wie bei allen anderen Straftaten: Es gibt Trittbrettfahrer und andere, auch unpolitische Motive kommen in Betracht.

Eine vermeintliche Kehrtwende

Nun, ich meinte verstanden zu haben: Wenn Autos brennen, ist das nicht so schlimm und manchmal sogar gut. Dann geschah etwas Überraschendes: Das Auto eines Berliner Lokalpolitikers der Partei DIE LINKE wurde in der Nacht zum 1. Februar 2018 angezündet. Aber statt den Brandanschlag zu begrüßen oder gleichgültig zu quittieren, war die Aufregung in der Szene groß.

Die Gewalt der Gegenseite ist Mord und Terror

Zwar waren noch keine Täter ermittelt, und Bekennerschreiben gab es auch nicht. Für den Bezirksverband Neukölln der Partei stand der Verdacht, den alle hegten, aber schon fest: 

titelten sie auf ihrer Homepage. Die Sprecher des Bezirksverbands erklärten: 

Ein Kolumnist der liberalen Tageszeitung ließ sich zu dramatischen Vergleichen hinreißen: 

  • Die Kette der rassistischen Gewalt vom Mord an Antonio Kiowa 1990 in Eberswalde über den Brandanschlag auf ein Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiter in Rostock 1992, zu den tödlichen Brandanschlägen in Mölln 1992 und Solingen 1993 bis zum NSU-Terrorismus von 2000 bis 2007 und den Attacken heute ist ein Kontinuum in unserer bundesdeutschen Gegenwart. Sie reicht tief in die Strukturen unserer Behörden und unseres Denkens hinein, etwa wenn solche Gewalt bagatellisiert wird oder nicht in rechtsextremen Kreisen gefahndet wird. Spätestens, wenn du das Bild der lodernden Flammen vor dem Haus deines Freundes siehst, spürst du, dass das nichts abstraktes ist, dass das unsere Stadt ist, in der es brennt.7)https://www.tagesspiegel.de/politik/brandanschlag-in-berlin-neukoelln-das-haus-deines-freundes/209229, vom2. Februar 2018.

Die Taz fragte gar: 

  • […] wieso die Polizei nicht von Terror spricht.8)www.taz.de/!t5491024/

Eigene Gewalt wird als Notwehr legitimiert

Ich verstehe: Brennendes Auto ist nicht gleich brennendes Auto. Im einen Fall handelt es sich um legitime Sachbeschädigung, im anderen um versuchten Mord und um Terror, den man in eine Reihe mit rassistisch motivierten Morden setzt.

Ich glaube, Linksradikale und -extremisten können mit dieser kognitiven Dissonanz gut leben. Es gelingt ihnen, so wie allen Extremisten, offensichtliche Widersprüche auszublenden.

Autos stehen natürlich nur symbolisch für den Besitzer. Mit einem Weltbild, in dem alles als faschistisch gilt, was annähernd kapitalistisch ist, außerdem „Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ ist und „Gentrifizierung tötet“, ist das Abfackeln von Autos Notwehr. Diese Umdeutung beherrschen nicht nur Linksextremisten, sondern auch alle andere Extremisten: Rechtsextremisten greifen Flüchtlingsheime an, als Notwehr gegen die „Überfremdung“ und den damit verbundenen „Volkstod“; Islamisten begehen Attentate, als Notwehr gegen Angriffe auf den Islam. Die Bedrohung und Gefährdung mag unterschiedlich sein, gemeinsam sind ihnen die Selbstviktimisierung und der Angriffsnarrativ (man werde vom vermeintlichen Feind angegriffen). Damit wird aus eigener Gewalt immer Notwehr, während die „Gegenseite“ besonders aufmerksam und kritisch wahrgenommen wird.

Autos sind also ungleich. Denn Autos stehen für die Menschen dahinter. Und Menschen sind für Linksradikale eben doch nicht gleich. Im dualistischen Weltbild der Linksradikalen und -extremisten wird es weiterhin gute Opfer (u.a. die „Armen“) und böse Täter (das System) geben. Sie sind auch noch nicht auf die Idee gekommen, selbst mit der von ihnen geforderten Solidarität mit gutem Beispiel vorangehen. Und um ein Zitat von Golda Meir abzuwandeln: Die Gewalt wird aufhören, wenn sie die „Opfer“ mehr lieben als sie das „System“ hassen.

Mein Fazit

Privat meide ich Autos und nutze lieber das Fahrrad und die Bahn. Ein aufmerksamer Leser wird aber schon gemerkt haben, dass es mir nicht um Autos geht, sondern um Strukturmerkmale und Argumentationsstrategien von Extremisten. In diesem Fall kann man anhand des unterschiedlichen Umgangs mit formell identischen Straftaten gegen Autos das dualistische Weltbild, die Umdefinierung eigener Gewalt alsVerteidigung und die Verteufelung des Gegners erkennen. 

  • Immunisierungsstrategien, z.B. bewusste Ungenauigkeit, ermöglichen Ausweichmanöver.
  • Falsche Vergleiche rücken das Bild genau dahin, wo man es haben möchte. 
  • Und Whataboutism lenkt von eigener Schuld ab. 

Diese Strategien findet man genauso bei Rechtsextremisten und religiösen Extremisten. Wenn man sie erkennt, kann man ihnen schon mal nicht auf den Leim gehen.

Judith Faessler, 8. August 2018

 

Über mich

Ich wurde 1971 in Genf (Schweiz) geboren, besuchte den Kindergarten in Kalifornien, verbrachte meine gesamte Schulzeit in Frankreich und studierte Orientalistik in München. Seit vielen Jahren habe ich nun zwei Hauptaufgaben, denen ich fast meine gesamte Wachzeit widme: Die Befassung mit Extremismus und der Versuch, zwei Kinder (männlich) großzuziehen.

References   [ + ]

1. https://de.indymedia.org/node/13033, gesichtet am 08.07.2017.
2. Es handelt sich inzwischen um einen sehr unpräzisen politischen Kampfbegriff von Linksextremisten. Er ermöglicht ihnen fast alle tatsächlichen und vermeintlichen Missstände, bis hin zu gefühlter beeinträchtigter Selbstverwirklichung der angeblich inhärenten „Gewaltförmigkeit“ „staatlicher bzw. gesellschaftlicher Strukturen“ zuzuschreiben. Opfer von Gewalt sind demnach nicht nur Opfer körperlicher Gewalt, sondern auch Menschen, denen es nicht gelingt, reich zu werden oder ihren Traumberuf zu ergreifen.
3. https://www.neues-deutschland.de/artikel/1056668.brennende-autos-beim-g-nationalfetisch-auto.html?sstr=Nationalfetisch_Auto, vom 7. Juli 2017.
4. Was sie eigentlich blind macht: Wut und Selbstmitleid. Aber das ist ein anderes Thema.
5, 6. www.die-linke-neukoelln.de/nc/politik/news/detail/zurueck/presse-8/artikel/erneut-brandanschlaege-von-nazis-in-neukoelln-solidaritaet-nein-zum-naziterror/
7. https://www.tagesspiegel.de/politik/brandanschlag-in-berlin-neukoelln-das-haus-deines-freundes/209229, vom2. Februar 2018.
8. www.taz.de/!t5491024/

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