Die Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Paradigmenwechsel der Linken

Der Kampf gegen den Rechtsextremismus wird weniger mit Feindschaft, als mit dem Angebot eines besseren Welt- und Menschenbildes gewonnen. Leider findet unter politischen Linken zunehmend ein kollektivistisches Weltbild Anklang, dessen Grundprämissen auch Rechtsextremisten teilen. Wie eine Mahnung dröhnt da Hitlers Aussage aus den finstersten Tiefen deutscher Geschichte:

  • Aus den kleinbürgerlichen Sozialdemokraten und Gewerkschaftsbonzen wird nie ein Nationalsozialist, aus Kommunisten immer.1)Dies ist ein Zitat aus dem teilweise gefälschten Buch von Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler. Dieses Zitat gilt aber als relativ glaubwürdig.

Sozialdemokraten bekennen sich im Unterschied zu Kommunisten zu liberalen Werten. In der Tat immunisiert ein individualistisches Menschenbild gegen kollektivistische Sirenengesänge von Rechtsextremisten besser als jeder noch so beherzte Kampf gegen Rechts. Die Gefahren des Kollektivismus sind bekannt:

  • Kollektivistische Weltbilder sind gefährlich, weil sie das 
Individuum einer Gemeinschaft unterordnen, zwischen In-Group und Out-Group unterscheiden und somit den Grundstein für extremistische Ideologien legen.
  • 
Zudem lehrt uns die deutsche Geschichte: Die Ernte des Antiindividualismus wird von Rechtsextremisten eingefahren.
  • In den letzten Jahren haben Linke mit den Werten der 
Aufklärung einige Kernanliegen aufgegeben. Das so entstandene Vakuum füllen Rechtspopulisten und -extremisten mit eigenen Ideologemen.2)Ideologeme sind wesentliche Elemente einer Ideologie. Werden diese als Versatzstücke einer Ideologie geäußert, spricht man von einem Ideologem. Die Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil ein Ideologem immer nur ein Hinweis auf eine Ideologie ist, man aber nicht in jedem Fall davon ausgehen kann, dass die gesamte Ideologie verinnerlicht wurde.

Abkehr vom Universalismus

Universalismus ist ein zentraler Wert der Aufklärung, der inzwischen von zahlreichen Linken als postkolonialer Imperialismus diffamiert wird. Die universelle Gültigkeit der Menschenrechte wird als westliche Arroganz diskreditiert. Das ist nicht nur die Aufgabe eines zentralen Werts, sondern auch fehlende Solidarität mit Menschen anderer Länder, die auf den Universalismus der individuellen Grundrechte pochen, wie etwa der sudanesische Politikwissenschaftler Abullahi an-Na`im. Ich denke auch an arabische Atheisten, an pakistanische Säkularisten, an iranische LGBTI-Aktivisten oder an afghanische Feministen, die aus vermeintlicher Rücksicht auf kulturelle Eigenheiten dem intoleranten familiären oder gesellschaftlichen Umfeld ausgeliefert bleiben. Zu Recht prangern sie die doppelten Standards an.

Die Relativierung des Universalismus mag „kultursensibel“ sein, aber keineswegs humanistisch und mitfühlend. Die so denkenden Linken gehen nicht vom Individuum und seiner Würde aus, sie begreifen die Menschen von Kollektiven her. Der Übergang zum Rechtsextremismus wird hier angelegt.

Abkehr vom Säkularismus

Auch die Säkularisierung wird ausgerechnet von der ersten säkularen demokratischen Partei Deutschlands verleugnet. Das kann man getrost als Verrat an der Sozialdemokratie bezeichnen. Im Gegensatz zu Christen, Juden und Muslimen bleibt den Säkularen Sozis ein Arbeitskreis mit dem Logo der SPD verwehrt:

  • Kernanliegen der ‚Säkularen Sozis‘ ist die strikte Trennung von Kirche und Staat. Das ist eine legitime Position. Es ist allerdings nicht die Position der SPD, so wie es auch nicht die Position des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ist,

lautete die Antwort des SPD-Vorstands an entsetzte Mitglieder.

Zum Hintergrund: Im Jahr 2018 stellten die Säkularen Sozis den Antrag „als ein ‚Arbeitskreis Säkulare Sozialdemokraten‘ in der Partei anerkannt zu werden, so wie es Arbeitskreise für Christen, Juden und Muslime gibt.“ Dazu zählte auch, das Parteilogo nutzen zu wollen. Der SPD-Bundesvorstand lehnte ab.

Auf den Protest der Säkularen reagierte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil am 5. März 2018 mit einem Brief. Darin verwies Klingbeil erneut auf den Beschluss des Parteivorstandes. Auf Anfragen reagierte die SPD mit schriftlichen Statements:

  • Die Nutzung des Parteilogos und des Namens der SPD […] ist klar geregelt. Grundsätzlich steht die Nutzung neben unseren Funktions- und MandatsträgerInnen im Rahmen der Parteiarbeit nur offiziellen Organisationseinheiten und Gremien zu. Und welche das sind, darüber entscheidet der Parteitag oder der Parteivorstand.3)Sebastian Engelbrecht: Religionspolitik der SPD. Kein Herz für säkulare Sozis (28.02.2019), auf www.deutschlandfunk.de

Abgesehen von der etwas eigenwilligen Interpretation des Grundgesetzes zeugt dies im günstigsten Fall von Geschichtsvergessenheit. Denn schon in der Kaiserzeit forderte die SPD eine konsequente Trennung von Staat und Kirche. Auf ihre Initiative hin gab es in der Weimarer Republik Schulen ohne Religions-, dafür mit Ethikunterricht. Schließlich verdanken wir ihr einige säkulare Passagen unseres Grundgesetzes. 1959 läutete das Godesberger Programm eine Kehrtwende zur Kirchenfreundlichkeit ein, die inzwischen über das Ziel hinausschießt: Säkularisierung und staatliche Neutralität werden nicht mehr als Errungenschaft anerkannt, sondern mit Verweis auf die Religionsfreiheit diskreditiert und als religionsfeindlich missverstanden.

Insbesondere die Grünen brandmarken die Kritik am Islam als rassistisch. Dabei handelt es sich (neben einer identitären Gleichstellung von Rasse und Religion) um eine böswillige Verdrehung des Gedankens der Säkularisierung, der ja gerade die Religionsfreiheit gewährleisten soll. Säkularisten in weniger freien Ländern können jedenfalls nicht mehr auf die Solidarität deutscher Linker hoffen. Kacem el Ghazzali kam als Linker und Atheist von Marokko nach Europa und erfuhr wegen seiner seriösen Religionskritik statt Solidarität Angriffe. Ein traditionell linker Acker liegt damit brach.

Abkehr vom Feminismus

Dass alle Frauen, gleich welcher Herkunft, gleiche Rechte haben sollen, wurde von den meisten Linken ebenfalls aufgegeben und der Identitätspolitik geopfert. Die Bewegungsfreiheit ist ein Grundrecht. Ein eingeschränktes Sicherheitsgefühl von Frauen in der Öffentlichkeit sollte nicht verschwurbelt mit „strukturellem Sexismus der kapitalistischen Gesellschaft“ abgetan werden. Wenn Migrantinnen besonders häufig Opfer häuslicher Gewalt werden, gebührt ihnen Schutz, statt eines verschämten Verschweigens oder eines Verweises auf strukturellen Rassismus, der Migranten stets als Opfer deutet und somit deren Gewalt gegen die Familie entschuldigt.

Statt Solidarität mit den Frauen in der berüchtigten Kölner Silvesternacht zu zeigen, wurde der Rassismus der Polizei beklagt. Auch wenn die Presse teilweise alarmistisch ist und Meldungen nicht generalisiert werden sollten, sollte man diese Themen nicht unter den Tisch kehren. Wer sie dennoch anspricht, wie Ahmad Mansour mit besten Absichten, steht regelmäßig im Kreuzfeuer.

Dabei erlauben ein humanistischer Blick und eine gewisse Ambiguitätstoleranz eine differenzierte Betrachtung jedes Einzelfalls. Schließlich gibt es noch viel zu tun gegen Sexismus; warum kaprizieren sich Linke dann auf marginale Narrative? Auf einem elitären akademischen Holzweg befindet man sich beispielsweise mit der geschlechtergerechten Sprache, deren patriarchatsvernichtende Wirkung keinesfalls belegt ist, wie das Beispiel der gendergerechten türkischen Sprache nahelegt.4)https://blog.projekt-philosophie.de/argumente-check/feministische-sprachkritik/

Abkehr von der Chancengleichheit

Auch in Bezug auf die Kinderrechte war die SPD früher einmal Vorreiter. Es ging um den Schutz Minderjähriger vor Diskriminierung, gegen die konservativen Vorbehalte des Schutzes der Familie und der damit verbundenen vielfältigen Übergriffe auf Kinder.

Das Recht des Kindes auf Chancengleichheit kollidiert häufig mit dem Recht der Eltern auf Erziehung nach ihren eigenen Vorstellungen. Ein Versuch, Chancengleichheit zu gewährleisten, ist die verpflichtende Teilnahme am Unterricht. Während man noch halbherzig versucht, Kinder aus bildungsfernen Familien durch die Schulen einzufangen, steht bei Kindern mit Migrationshintergrund „kultursensibles Verhalten“ im Weg. Wo unterscheidet sich das im Ergebnis von national-konservativen Verweisen auf „andersartige kulturelle Gepflogenheiten“?

Wirklich kultursensibel wäre beispielsweise, den Eltern auf Augenhöhe zu erklären, warum Schulen keine Ausnahmen machen können. Schließlich ist das Kind auch ein zukünftiger Staatsbürger, das nicht gegenüber Klassenkameraden benachteiligt werden darf. Auch hier zeigt sich, wie das früher für viele Linke selbstverständliche und im Grundgesetz verankerte Menschenbild, das vom Individuum ausgeht, einem kollektivistischen Weltbild gewichen ist.

Abkehr von der sozialen Frage

Seit Gründung der SPD haben sich die Umstände bezüglich der sozialen Frage ziemlich geändert. Während Rechtspopulisten mit verflachenden Lösungen punkten, weichen Linke schon den Fragen aus:

  • Wie sieht heute eine gerechte Gesellschaft aus?
  • Wie schaffen wir es, angesichts der derzeitigen Lebenserwartung und den derzeitigen Gegebenheiten, den Lebensstandard beizubehalten und Bildung zu garantieren, ohne die Infrastruktur zu vernachlässigen?
  • Soll man Bedingungen an Einwanderer stellen und welche?
  • Soll man Bedingungen an die Gewährung staatlicher Zuschüsse stellen und welche?

Das sind angesichts der Kosten nicht nur philosophische Fragen: Mindestens 80% der staatlichen Ausgaben fließen in den sozialen Bereich! Damit wir auch künftig einen funktionierenden Rechtsstaat haben, müssen die Ressourcen effektiv für die notwendigen Kernaufgaben des Staats genutzt werden: Das Bildungssystem, die Infrastruktur, das Gesundheitswesen, das Justizwesen, die innere und äußere Sicherheit und die soziale Sicherung im Notfall. Aber wir sollten uns nicht weiter verzetteln, mit staatlichen Hilfen hier, Subventionen da und dort. Der Staat verkommt gerade zum Schnäppchen-Markt für persönliche Vorteile. Dadurch werden in jedem Fall offensichtliche Ungerechtigkeiten generiert, die Rechtspopulisten zu nutzen wissen.

Viel freigeräumter Platz, der nun von Rechten eingenommen wird

All diese linken Themen sind in den letzten Jahren von Linken aufgegeben worden. In das Vakuum stoßen die Rechtspopulisten. Ihnen ist es beispielsweise gelungen, die Islamkritik zu kapern und mit Fremdenfeindlichkeit zu besetzen. Wir sehen, wie sie sich die Werte der Aufklärung auf die Fahnen schreiben, wenn sie vorgeben, Frauenrechte zu verteidigen. Mit der steigenden Erwartungshaltung an einen paternalistischen Sozialstaat sind Neiddebatten vorprogrammiert, die dann Asylbewerber gegen „deutsche Rentner“ ausspielen. Sie besetzen und vergiften damit die Themen.

Annahme identitärer Narrative

Linke haben sich dagegen neue Themen angeeignet, wie die kollektivistische Identitätspolitik (die weit über die Ziele legitimer Interessenpolitik von Menschengruppen hinausschießt), wonach der Mensch aufgrund seiner angeborenen kulturellen, ethnischen, religiösen, sexuellen Identität seinen Platz in der Gesellschaft und seinen Wert erhält. Damit wagen sie sich auf das narrative Glatteis der Rechtsextremisten vor. Ein gefährlicher Schritt, denn Letztere sind im eigenen weltbildlichen Revier erstens glaubwürdiger und zweitens konsequenter.

Konsequent zu Ende gedacht ist die Identitätspolitik rechtsextremistisch

Linke beeindrucken hier mit argumentativen Winkelzügen, um die fehlende Kohärenz zu verschleiern. Gedanklich will ihnen nur noch eine akademische Minderheit folgen. Zugleich lassen sie damit viel Raum für Missverständnisse und Offenheit für rechte Interpretationen.

  • Wie etwa soll der Durchschnittsbürger die „antirassistische“ Forderung interpretieren, die mögliche ethnische Herkunft des Gegenübers weder zu bemerken noch anzusprechen, aber zugleich darauf Rücksicht zu nehmen? Entsprechende Inhalte werden beispielsweise in „Antirassismus-Trainings“ vermittelt.
  • Auch ehrlich interessierte Fragen nach der Herkunft sind inzwischen verpönt, denn man suggeriere damit, dass der andere „nicht dazugehöre“ – was so pauschal keine gültige Annahme ist.
  • Zugleich gilt es als ebenso rassistisch, davon auszugehen, dass das Gegenüber dieselben Feste, z.B. Weihnachten, feiert (also „dazugehört“) – eine Erfahrung, die Atheisten regelmäßig machen, ohne dass dies rassistisch wäre.

Zwar sind Sensibilisierungen gegenüber eigenen Vorurteilen auf jeden Fall zu begrüßen, manche Antirassismus-Trainings sind aber insofern kontraproduktiv, als sie rassistisches Denken verfestigen, weil sie Unterschiede und gesellschaftliche Probleme monokausal aus rassistischen Strukturen herleiten und den Blick der Teilnehmer auf die vermeintliche „Race“ des Gegenübers lenken und fokussieren.

Vagheit, Komplexität und Inkohärenz sind aber durchaus gewollt, denn konsequent zu Ende gedacht, landet man bei rechtsextremistischen Weltbildern.

Was ist rechtsextremistisch an der Identitätspolitik?

Die Identitätspolitik zeichnet eine schwarz-weiße Welt, unterteilt in Unterdrücker und Unterdrückte, Gut und Böse, Opfer und Täter. In der Weiße, insbesondere Männer, weil „Unterdrücker“, auch niemals „Opfer“ von Rassismus sein können. Nicht mehr Fachwissen oder Leistung, sondern die Zugehörigkeit zu einer nach Opferhierarchie sortierten Gruppe qualifizieren für öffentliche Stellungnahmen und schlimmstenfalls auch für Posten und Ämter. Das „jedem seine Kultur“ der Identitären findet bei Linken seinen Ausdruck in der Ablehnung kultureller Aneignung. Wobei Kultur immer durch Aneignung entsteht – aber das ist nur einer der vielen Widersprüche.

Es ist auch kein Zufall, dass der preisgekrönte und von amerikanischen Linken gefeierte Film Black Panther (in dem eine isolierte und ethnisch reine Nation in Afrika idealisiert wird) von Identitären als der erste echte „Altright-Film“ gelobt wird. Rechts heißt es Ethnopluralismus und Vielfalt der Völker bewahren, Links spricht man von Diversität: Das klingt gut, hat aber in vielen Fällen wenig mit dem Toleranzgedanken und Pluralismus zu tun. Genau wie rechte Identitäre gehen Linke damit in Opposition zum Liberalismus des Grundgesetzes.

Das vom Grundgesetz geschützte Individuum ist zugleich die kleinste Minderheit. Darüber hinaus Minderheitenschutz zu fordern ist unsinnig und ordnet das Individuum einem ethnisch, religiös oder kulturell definierten Kollektiv unter. Hier können Frauen nur für Frauen oder Muslime nur für Muslime sprechen. Damit torpedieren sie das Repräsentationsprinzip der Demokratie: Angela Merkel mag als Politikerin Frau, protestantisch, Akademikerin, Christdemokratin sein – als Bundeskanzlerin war sie auch die Bundeskanzlerin der Männer, der Handwerker, der Muslime, der Sozialdemokraten, etc.

Linke Selbstzerstörung?

Der Pfeil der Identitätspolitik durchbohrt nicht nur den Traum Martin Luther Kings von einer Welt, in der „Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem persönlichen Charakter beurteilt werden“, er streut das Gift des Tribalismus, auf dem letztendlich rechtsextremistische Weltbilder gedeihen. Teile der linken politischen Landschaft leisten somit einer Entwicklung Vorschub, die Rechtsextremisten zugute kommen wird.

Das ist schon einmal passiert. Ich hoffe, diese Geschichte wiederholt sich nicht.

Judith Faessler, 29. Januar 2022 (verfasst am 7. Oktober 2020).

Zum Schluss noch eine Bitte in eigener Sache

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References   [ + ]

1. Dies ist ein Zitat aus dem teilweise gefälschten Buch von Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler. Dieses Zitat gilt aber als relativ glaubwürdig.
2. Ideologeme sind wesentliche Elemente einer Ideologie. Werden diese als Versatzstücke einer Ideologie geäußert, spricht man von einem Ideologem. Die Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil ein Ideologem immer nur ein Hinweis auf eine Ideologie ist, man aber nicht in jedem Fall davon ausgehen kann, dass die gesamte Ideologie verinnerlicht wurde.
3. Sebastian Engelbrecht: Religionspolitik der SPD. Kein Herz für säkulare Sozis (28.02.2019), auf www.deutschlandfunk.de
4. https://blog.projekt-philosophie.de/argumente-check/feministische-sprachkritik/

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