Rechtspopulismus verstehen: Die Reaktion der Bürger auf die Selbstschwächung des Staates (Teil 4)

In Teil 3 habe ich gezeigt, dass unsere Argumentationskultur immer stärker kommunitaristisch geprägt ist und liberale Modelle und Argumente immer weniger Gehör und Akzeptanz finden. Diese Tendenz schlägt sich erwartungsgemäß im staatlichen Handeln nieder – die BRD ist in den letzten 50 Jahren zum Universalstaat geworden, der „seine“ Bürger immer stärker in die Pflicht nimmt, betreut und bevormundet. Eine bewusste Abkehr von diesem Kurs ist nicht zu erkennen – zu befürchten ist eher eine Verstärkung dieser fatalen Tendenzen. Aus liberaler Perspektive mündet das zwangsläufig in eine Selbstschwächung des Staates durch Verzettelung. Das Märchen vom weltweit agierenden bösen Neo-Liberalismus muss dann herhalten, um für die immer deutlicher werdenden Schwachstellen des vom Wählerwillen gewünschten Universalstaates einen Sündenbock zu präsentieren.

Nun, in Teil 4, geht es darum, die Folgen dieser Entwicklungen für die politische Mentalität der Bürger zu skizzieren. In Teil 5 und Teil 6 zeige ich dann, wie die rechtspopulistische Strategie diese Vorgaben nutzt und damit Erfolg hat.

Das existentielle Dilemma des Universalstaates

Auf der einen Seite steht ein Universalstaat, der „seine“ Bürger immer mehr in die Pflicht für die Gemeinschaft nimmt, ihre Freiräume beschneidet, sie zwingt, wesentliche Teile ihrer Lebensgestaltung nach staatlichem Schema F anzugehen. Als Gegenleistung steht das Versprechen der Sicherheit und der Bequemlichkeit, einer zuverlässigen Absicherung für alle möglichen Wechselfälle und Lebenssituationen, inklusive eines Schutzes vor drastischem Status- und Wohlstandsverlust. Wie in Teil 3 erläutert, schafft es der Universalstaat aber immer weniger, seine stetig und unsystematisch wachsende Menge an Aufgaben gut zu erfüllen und seine den Bürgern gegebenen Versprechen einzulösen. Dies betrifft mittlerweile sogar die zentral wichtigen Kernaufgaben wie die innere und äußere Sicherheit – ein alarmierendes Warnsignal! Kurz: Der Handel Freiheit gegen Sicherheit und Bequemlichkeit geht immer weniger auf – und die Bürger merken das natürlich. Was sind die Folgen?

Problem 1: Verlust der Glaubwürdigkeit

Es entsteht bei vielen Bürgern der nachvollziehbare Eindruck, der Staat erfülle seine Versprechungen nur unzureichend, habe diese zum Teil sogar glatt gebrochen und ließe sie im Stich. Darunter leidet die Glaubwürdigkeit des Staates und seine Akzeptanz bei den Bürgern. So gut wie alle Umfragen zeigen eine schon lange zunehmende Unzufriedenheit und Staatsverdrossenheit an. 

Betrachten wir zur Veranschaulichung ein weiteres prominentes Beispiel, in dem die Bürger in Zusammenhang mit existentiellen Fragen sehr direkt wahrnehmen, dass der Staat seine Aufgaben nicht gut erfüllt und sie „im Stich lässt“:

  • Nach 50 Jahren Wohlfahrts- und Universalstaat ist die Angst vor Altersarmut auch bei Bürgern berechtigt, die die volle Zahl an Beitragsjahren für ihre Rente erreichen. Die aktuelle Höhe der Rente beträgt 48% vom letzten Brutto-Lohn; die Medianrente liegt sehr nahe am Sozialhilfesatz. Das ist sehr wenig; aber es sind erst einmal neutrale Daten.1)Die Daten sind sehr übersichtlich hier dargestellt: https://www.mystipendium.de/geld/durchschnittsrente Vergleicht man sie allerdings mit den Versprechungen des Staates, kann man gut verstehen, warum dessen Glaubwürdigkeit erodiert und viele Leute sauer sind: Anfang der 70er Jahre, also beim Eintritt in die Entwicklung hin zum Wohlfahrtsstaat, wurde den Bürgern etwas wesentlich Attraktiveres versprochen. Der Grund ist leicht zu erraten: Man wollte Wahlen gewinnen.2)Hans Günter Hockerts: Vom Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz: Die Rentenreform 1972. In: Ders.: Der deutsche Sozialstaat. Göttingen, 2011. Die ganze Geschichte ist ein so unterhaltsames wie typisches Lehrstück der von Irrationalität und Verantwortungslosigkeit geprägten Zusammenarbeit von Politikern und Wählern im Wohlfahrtsstaat. Solide fundierte Kritik am Umlageverfahren und den versprochenen Rentenhöhen wurde und wird vom Staat und dessen Vertretern grundsätzlich als Panikmache abgetan. Norbert Blüms so unverantwortliches wie dummdreistes Die-Renten-sind-sicher genießt heute traurigen Kultstatus und gehört in eine Kategorie mit Honeckers launigem Den-Sozialismus-in-seinem-Lauf-hält-weder-Ochs`-noch-Esel-auf. Zwei Dinge wurden den Bürgern von den jeweiligen Regierungen viel zu lange vorgemacht, die längste Zeit trotz besseren Wissens: Erstens, ihr werdet Eure Rente in versprochener Höhe erhalten. Zweitens, private Zusatzvorsorge ist nicht oder nur als Bequemlichkeitsabrundung nötig. Heute haben Steuerzahler und Rentner den Salat. Aber, wie bereits klar gesagt – mir geht es nicht um Politikerschelte. Auch der angeblich mündige Wähler hatte über Jahrzehnte hinweg keine Lust, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Verschärft wird die Situation durch die völlig fehlgeleitete Null-Zins-Politik zur Rettung der maroden Universalstaaten, die es den Normalverdienern sehr schwer macht, Rücklagen zu bilden.3)https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/sozialstaat-altersarmut-und-zynismus-2/ 

So weit, so bedenklich. Damit ist aber nur eine Facette des Schlamassels benannt. Seltsamerweise nämlich hat der Staat in Summe noch nie so viel „für seine Bürger getan“ wie in der Gegenwart.4)Dies zeigt ein Blick auf die Entwicklung der Steuereinnahmen und des  Bundeshaushalts der letzten Jahrzehnte sehr deutlich. Die BRD entwickelt sich immer mehr zu einer reinen Umverteilungsanstalt. Das scheint aber nicht honoriert zu werden; versprochene und tatsächlich erbrachte Leistungen des Staates werden durch die Bürger offensichtlich nicht angemessen gewürdigt. Ein Rätsel?

Aus philosophischer Sicht lässt diese Diskrepanz sich plausibel erklären: Wunscherfüllung und Zufriedenheit stehen in einem weit brüchigeren Verhältnis zueinander als gemeinhin angenommen wird. In der Regel werden Leistungen des Staates nämlich kurze Zeit nach ihrer Einführung als Selbstverständlichkeit abgehakt und somit nicht länger als besonders erwähnenswert betrachtet. Ein anschauliches Beispiel dazu liefert unser Bildungssystem:

  • Es ist eine finanziell und organisatorisch sehr anspruchsvolle Leistung für einen Staat wie die Bundesrepublik, jedem Bürger kostenlose Schul- und Universitätsbildung bis hin zur Promotion zu bieten. Trotz der bekannten Mängel unseres Bildungssystems sollte man diese Leistung der Steuerzahler erst einmal angemessen würdigen und sich darüber freuen. Das tun die allermeisten Bürger aber nicht. Sie nehmen dieses weltweit herausragende Angebot als selbstverständlich wahr. Sie sind mittlerweile sogar darüber sauer, dass es nicht auch noch die kostenlose vorschulische Betreuung der Kinder umfasst (der Universalstaat arbeitet daran allerdings schon) und entwickeln unrealistisch hohe Erwartungen an die möglichen Resultate: Die Schule hat gefälligst dafür zu sorgen, dass auch mein Kind ein sehr gutes Abitur bekommt. Sehr zum persönlichen Verdruss des Autors arbeitet der Universalstaat auch daran mit Volldampf.5)Ein Hinweis: Suchen Sie im Internet nach Stichworten wie Noteninflation oder Einserabitur.

Dieses schon den Stoikern bekannte Phänomen findet seine Erklärung in drei Aspekten: 

  • Wünsche, die erfüllt werden, werden schnell als selbstverständlich abgehakt und erzeugen neue Wünsche: Wer schwimmen gelernt hat, möchte länger und schneller schwimmen können. Wer sein erstes Auto hat, möchte bald danach ein besseres. Wer die kostenlose Schule hat, möchte schnell auch den kostenlosen Kindergarten … Statt lang anhaltender Freude über erfüllte Wünsche entsteht Unzufriedenheit, weil neue Wünsche nicht (schnell genug) erfüllt werden. 
  • Unser Staat deklariert gut kommunitaristisch dieses Bildungsangebot nicht einmal als Privileg oder als besondere Leistung, sondern als soziales Anspruchsrecht. Wenn ich aber ein „gefühltes Recht auf Abitur“ habe, dann ist die Versuchung groß, alle Unbequemlichkeiten und Kümmernisse auf diesem Weg als Defizite staatlichen Handelns zu betrachten – und meine Unzufriedenheit gegen den Staat zu richten.
  • Befeuert wird diese Dynamik im Universalstaat durch eine zügig wachsende Überfülle an Präzedenzfällen: Es lässt sich in allen Lebenslagen und sozialen Konstellationen sehr leicht eine Gruppe finden, die vom Staat etwas bekommt, was „eigentlich“ auch mir und meiner Gruppe zukommen sollte. Wenn Landwirte Subventionen bekommen, warum dann nicht auch die Stahlindustrie? Wenn kostenlose Kindergärten eingeführt werden, sollen dann die Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuen etwa leer ausgehen? Wenn die christlichen Kirchen zahlreiche Privilegien genießen, darf man diese den Muslimen verwehren?

Mein Fazit: Auf Seiten der Bürger entsteht Unzufriedenheit, weil der Universalstaat viele und wichtige seiner Versprechen immer schlechter einlöst. Verschärft wird die Lage dadurch, dass tatsächliche Leistungen nicht angemessen gewürdigt werden. Das ist kein Zufall, diese Problematik ergibt sich zwangsläufig aus der politischen Logik des Universalstaates. Die Folge: Die Glaubwürdigkeit des Staates erodiert; das Vertrauen der Bürger in seine Zuverlässigkeit und Problemlösungsfähigkeit ebenfalls. Die Verdrossenheit der Bürger mit Vater Staat nimmt zu, obwohl dieser immer mehr Leistungen anbietet – ein Teufelskreis.

Problem 2: Verfall des Gerechtigkeitskonzeptes

Eine zweite Folge der in Teil 3 skizzierten Entwicklung hin zum Universalstaat ist die spürbare Erosion des eigentlich durch die liberale Verfassung gesetzten liberalen Gerechtigkeitskonzepts. Was heißt das?

Wenn staatliches Handeln ständig liberale Grenzen überschreitet und mit allen möglichen sozialen Anspruchsrechten, einem nebulösen Gemeinwohl, religiösen Traditionen und Werten und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft begründet wird, verlieren die klassischen Schutzrechte ihre normative Priorität und Prägnanz und es entsteht im Laufe der Zeit ein unstimmiger und unübersichtlicher normativer Brei, aus dem heraus sich so ziemlich alles irgendwie begründen lässt. Letztlich entsteht so eine Kultur der politischen Beliebigkeit.6)Falls sie das an das Phänomen Religion erinnert: Stimmt genau. Andreas Edmüller: Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist. Marburg, 2015. Beispiele dafür habe ich in Teil 3 ausführlich besprochen. Die Folgen liegen auf der Hand: 

  • Erstens werden die liberalen Schutzrechte – und somit unsere Verfassung – spürbar abgewertet und ausgehebelt. Dabei hilft natürlich die Verschwörungstheorie vom bösen Neo-Liberalismus.
  • Zweitens gewinnen nicht-liberale Vorstellungen nicht nur an argumentativem Gewicht, sondern auch einen quasi-offiziellen Status: Schließlich begründen die eigentlich als Hüter der Verfassung eingesetzten Politiker ihr Handeln auf deren Basis. Das aber führt im Laufe der Zeit zu immer mehr Präzedenzfällen, zu einer diffusen Schattenverfassung, zu emotional ansprechenden aber inhaltlich unklaren Parallelnormen und zu bisweilen grotesken Uminterpretationen der Verfassung – und somit zu deren Verwässerung und Schwächung.
  • Drittens werden politische Debatten immer unversöhnlicher und polarisierender. Der Grund: Es prallen unvereinbare Gerechtigkeitskonzepte aufeinander und es steht keine von allen geteilte Entscheidungs- und Konsensbasis mehr zur Verfügung. Das sollte natürlich die Verfassung sein – aber die hat man ja ausgehebelt bzw. stark geschwächt.
  • Viertens wird politisches Handeln zunehmend mühsam, kraftlos und irrational. Da keine Seite mehr eine bequeme Mehrheit hat und die Verfassung als Entscheidungsbasis leicht zu ignorieren ist, werden oft erkennbar unangemessene und irrationale Verlegenheitskompromisse ausgehandelt und entsprechend windig „begründet“. Dazu kommt wie schon erläutert die finanzielle Verzettelung: Kleckern statt Klotzen. Die Folge: Politisches Handeln wirkt immer unsystematischer, konzeptionsloser, unberechenbarer, unentschlossener. 
  • Fünftens wird diese Problematik durch Politiker verschärft, die bei Bedarf der Konkurrenz vorwerfen, sich mit ihren Ideen und Vorstellungen jenseits der Verfassung zu bewegen – das selbst aber immer wieder tun. Wenn z.B. die SPD der AfD verfassungsfeindliche Positionen vorwirft, hat sie damit völlig Recht – nur gilt das gleiche für deren eigene „Vordenker“ wie Kevin Kühnert und dessen Enteignungsphantasien.7)Der Ausdruck „Nicht-Denker“ wäre passender. Wenn die CDU oder die CSU der AfD vorwirft, rechte Gewalt zu verharmlosen, dann ist das korrekt – nur zeigt ein Blick auf die Entwicklung des braunen Sumpfes in Sachsen, dass die dort sehr lange regierende CDU bestimmte Teile unserer Verfassung und Rechtsordnung ebenfalls in die Rubrik unverbindliche Empfehlung eingeordnet hat. Und wenn Grüne und SPD in Koalitionen mit der SED-Nachfolgepartei eintreten und das sogar auf Bundesebene ins Auge fassen, dann haben sie keine normative Basis mehr für Vorwürfe an die AFD – ein größerer Affront gegen den Geist unserer Verfassung ist kaum möglich.

Mein Fazit: Eine wirklich tragfähige gesellschaftliche Konsensbasis zur Gerechtigkeit ist nach 50 Jahren Wohlfahrts- und Universalstaat kaum noch auszumachen. Die Folge: Auf Seiten der Bürger entsteht Unzufriedenheit „mit der Politik“, weil deren Entscheiden und Handeln sich immer weniger als Ausfluss einer klaren und allgemein akzeptierten Konzeption der Gerechtigkeit verstehen lassen. Anders ausgedrückt: Der Eindruck der Beliebigkeit verstärkt sich. In letzter Analyse wird so der Gerechtigkeitssinn der Bürger geschwächt – irgendwie lässt sich für alles Mögliche irgendein Argument finden, das irgendwie relevant zu sein scheint.

Problem 3: Infantilisierung der Bürger

Eine dritte Folge des Universalstaates ist die Infantilisierung der Bürger. Das klingt hart – aber wir müssen darüber wirklich einmal klar und offen reden. Vater Staat will seinen Bürgern auf breiter Front helfen, dadurch aber werden sie zunehmend unselbständig und unsicher. In Anknüpfung an eine aktuelle Diskussion könnte man auch vom Helikopterstaat sprechen. Was meine ich damit?

Der Universalstaat bestimmt immer mehr und immer genauer, wie die Bürger ihr Leben zu gestalten haben. Dadurch nimmt er ihnen aber immer mehr Raum für Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative. 

Altersvorsorge? Macht der Staat für mich. Arbeitslosigkeit oder Krankheit? Der Staat kümmert sich. Bauwunsch und knapp bei Kasse? Der Staat springt ein. Keine Idee, was ich beruflich machen soll? Ich studiere jetzt mal ein bisschen, der Staat zahlt das schon. Die Familienplanung klappt nicht so richtig – das ist alles etwas komplexer als gedacht? Der Staat hilft. Die Branche, in der ich arbeite steckt grade in der Krise? Der Staat greift ein. Mir fehlt so ein bisschen die Motivation zum Vermögensaufbau? Der Staat bietet natürlich Anreize. Ich bin sauer, weil die jungen Leute aus meinem Dorf in Sachsen wegziehen und wähle deshalb eine rechtsextreme Partei?8)In den USA zeigen Umfragen und Wahlergebnisse, dass Wähler auch schlechtes Wetter und Missernten den gerade amtierenden Politikern ankreiden. Bryan Caplan: The Myth of the Rational Voter: Why Democracies Choose Bad Policies. Princeton, 2007. Der Staat hat natürlich Verständnis und gibt beim Aufbau Ost wieder richtig Gas. Ich möchte gerne BAFÖG für meine mehrjährige Ausbildung zum indianischen Schamanen? Abwarten …

Das Problem: Wer vom Staat „sicher durch das Leben geleitet wird“ lernt nicht, wichtige Entscheidungen selbst zu treffen, eigenverantwortlich zu handeln, sich wirkungsvoll mit anderen Bürgern zusammenzutun, gemeinsam etwas zu erreichen, auch aus den unvermeidlichen Fehlschlägen zu lernen. Diese Dinge fallen nicht vom Himmel; für mich als Person und in Verbindung mit meinen Mitbürgern muss ich diese Fähigkeiten und Haltungen erlernen und trainieren. Genau das macht die Flexibilität, Stärke und Stabilität einer offenen Gesellschaft aus! Zur Plausibilisierung bzw. Veranschaulichung ein paar Beispiele: 

  • Ich vermute, dass genau diese Entwicklung erklärt, warum unsere Gewerkschaften während der letzten Jahrzehnte immer mehr an Dynamik, Durchschlagskraft und Einfluss verloren haben – und mit ihnen die SPD: Der Staat hat Schritt für Schritt – durchaus von ihnen gewollt – ihre Anliegen zu den seinen gemacht und ihnen damit in weiten Teilen den Existenzgrund entzogen! Warum soll ich mich gewerkschaftlich organisieren und engagieren? Der Staat kümmert sich eh um alles, inklusive Mindestlohn, Elternzeit, Kindergarten und Urlaubstage. Falls Sie jetzt überrascht sein sollten: Natürlich bin ich gerade als Liberaler für starke und unabhängige Gewerkschaften. Unter anderem genau deshalb haben wir ja das Recht auf freie Berufswahl und Vereinigung: Damit wir unser Leben selbst mitgestalten und in die eigenen Hände nehmen. Arbeitnehmer, die sich entschlossen und engagiert für ihre Anliegen einsetzen, leisten einen wertvollen Beitrag zu einer offenen und dynamischen Gesellschaft.9)Es ist kein Zufall, dass viele Politiker, die gerade die frühen Jahre der BRD stark und durchaus konstruktiv mitgeprägt haben, aus den Gewerkschaften kamen. Arbeitnehmer, Parteien und Gewerkschaften, die das bereitwillig Vater Staat für sich machen lassen, tragen mittelfristig zu Selbstentmündigung und gesellschaftlicher Hilflosigkeit bei.  Unabhängig davon, dass – wie oben ausführlich erläutert – Vater Staat damit überfordert ist.
  • Ein sehr aussagekräftiges Freilandexperiment zu meiner These der zunehmenden Infantilisierung bietet der Osten Deutschlands, die ehemalige DDR. Die Haltung, den Staat als umfassende Problemlösungsinstanz zu sehen, ist dort nach wie vor wesentlich stärker verankert als im Westen. Deshalb sind dort auch Frust und Enttäuschung der Bürger weiter verbreitet. Wunder ist das keines. Nach dem Nationalsozialismus kamen Stalinismus und diverse Kommunismusvariationen über die Leute. In der alten BRD fand als Alternativprogramm das nicht zuletzt aus enormer Eigeninitiative geborene Wirtschaftswunder statt. Eine liberale und wirklich dynamische Bürgergesellschaft gab es im Osten bis 1989 nicht – sie ist bis heute auch nicht entstanden. Eine konsequente Entwicklung in diese Richtung hat der Universalstaat mit seinem Fürsorgeanspruch erschwert, vielleicht sogar verhindert:  So, herzlich willkommen, wir kümmern uns jetzt um Euch und bringen Eure Landschaften zum Blühen – das war 1989 die Botschaft an die 17 Millionen Neu-BRDler. Sie haben es natürlich gerne geglaubt – wenn das der Staat sagt, wird es schon so sein – sich über die D-Mark und einen surrealen Wechselkurs gefreut und den Staat machen lassen. Heute warten sie größtenteils immer noch drauf, dass der Staat etwas macht, wenn es Probleme gibt. Diejenigen, die nicht warten wollten oder wollen, sind mittlerweile fast alle im Westen.10)https://www.n-tv.de/wirtschaft/wirtschaft_startup/In-Ostdeutschland-will-kaum-jemand-gruenden-article21145284.html Und im Osten blühen das Jammern, die Staatsverdrossenheit, die Opfermentalität, die SED-Nachfolgepartei und die AfD. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber ein Hauptelement der politischen Mentalität in den neuen Bundesländern ist dieses: Da muss sich doch der Staat drum kümmern – der macht aber nichts, sondern lässt uns böse im Stich! Könnte das nicht ein guter Teil der Erklärung dafür sein, dass der größte friedliche Finanztransfer der Menschheitsgeschichte nach 30 Jahren Laufzeit in erster Linie eine enorme gesellschaftliche Kluft zwischen Ost und West generiert hat?11)Sehr interessant dazu: https://www.n-tv.de/politik/Der-Osten-muss-mit-den-Lebensluegen-brechen-article21052504.html 
  • Ein Musterbeispiel für diese gesellschaftliche Infantilisierung liefert – garantiert ungewollt aber dafür um so aussagekräftiger – Petra Köpping, sächsische Integrations- und Gleichstellungsministerin, mit ihrem Buch Integriert doch erst mal uns!12)Petra Köpping: Integriert doch erst mal uns! Berlin, 2018. Diese Aufforderung habe sie im Osten immer wieder von unzufriedenen Bürgern als Antwort auf ihre Fragen zu hören bekommen, woher Unmut und Staatsverdrossenheit denn eigentlich kämen. Ich stelle fest: Nach 30 Jahren gigantischer finanzieller Anstrengungen der alten Bundesländer, deutlicher Verbesserungen in so gut wie allen sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Gegebenheiten der neuen Länder setzt man sich dort hin und nörgelt gen Westen, man möchte endlich richtig integriert werden! Jetzt mal im Ernst: Geht`s noch? Genau die Leute, die so einen Unsinn im Interview erzählen, teilen mit Freude und Energie allen Flüchtlingen und Ausländern lautstark mit, Integration sei gefälligst deren eigene Aufgabe! Das ist Infantilismus in Reinkultur!13)Sie können mir jetzt gerne infantile Mails schicken. Die beantworte ich aber nur, wenn darin ein geistiges und sprachliches Niveau gewahrt wird, wie man es von einem vernünftigen Erwachsenen erwarten kann.
  • Aber auch im Westen greift diese Entselbständigung zügig um sich. Die Spiegel-Journalistin Höhne ruft in einem geradezu grotesk-infantilen Artikel Vater Staat auf, noch weiter in unser Leben einzugreifen, uns noch weiter zu bevormunden und zu entmündigen – zu unserem eigenen Wohl! Das hat für mich fast schon sadomasochistische Qualität und eröffnet neue Perspektiven: Der Universalstaat als Domina!14)https://www.spiegel.de/politik/deutschland/klimaschutz-wir-brauchen-mehr-verbote-a-1279540.html Lustig, aber leider nur eine klitzekleine Facette der Problematik der Selbstentmündigung. 

Die traurige Liste an Beispielen ließe sich beliebig verlängern. 

  • Greta Thunberg schlägt vor, die Atomenergie auszubauen, um das CO2-Problem in den Griff zu kriegen: Die gesamte „Umweltbewegung“ bei uns ist kindisch genug und ignoriert dieses ungute Thema einfach – das könnte nämlich das grüne Wohlgefühl stören. 
  • In diesem Geiste wurde auch eine ernsthafte Debatte zu Köhlers unbequemen Thesen zum Feinstaub verhindert – kurz und laut empören und dann einfach nicht mehr darüber reden. 
  • Die Mieten sind (zu) hoch? Die Lösung liegt für Kevin Kühnert und seine Bewunderer auf der Hand: Flächendeckende Enteignungen.15)Das darf dann wahrscheinlich die Berliner Truppe organisieren, die seit Urzeiten erfolglos versucht, so etwas ähnliches wie einen Flughafen zu bauen. Das klappt zwar nachweislich nie – man vermeidet aber durch die Delegation an Vater Staat unbequeme und emotional verstörende Analysen und Lösungsansätze. 
  • Der bayerische Ministerpräsident Söder möchte den gesellschaftlichen Zusammenhalt oder „unsere Kultur“ stärken oder so was in der Richtung: In jeder bayerischen Amtsstube werden Kreuze an die Wand genagelt – was denn auch sonst? Hauptsache, man hat was getan und ein paar Leute haben irgendwie ein gutes Gefühl. Ein Massengebet zur Eröffnung des Oktoberfestes vor dem Anzapfen wird ihm vermutlich auch noch wer einreden. 
  • Die Linken schlagen vor, Fluglinien zu verstaatlichen, um Emissionen zu verringern. Das ist zwar komplett hirnrissig, bedient aber antikapitalistische Ressentiments einer bestimmten Klientel – und wieder darf Vater Staat sich um die Problemlösung kümmern (und Fluglinien in Grund und Boden managen). 

Das alles sind keine Beiträge, die man von Erwachsenen oder mündigen Bürgern erwarten würde.

Mein Fazit: Der Universalstaat führt in einen Teufelskreis. Wenn Bürger zunehmend unselbständiger werden, rufen sie in immer mehr Fällen immer schneller, selbstverständlicher und lauter nach Führung durch den Staat. Irgendeine Partei wittert dabei immer die Chance, sich bei Wählern beliebt zu machen und verspricht, sich des neuen Kümmernisses anzunehmen. Klar, man will ja gewählt werden. Das Resultat: Wieder wurde den Bürgern (auf eigenen Wunsch!) ein Stück Verantwortung abgenommen – „weil man es gut meint“. Wieder wurde den Bürgern eine Chance zu Eigenverantwortung und Entwicklung von Selbständigkeit genommen. Wieder hat Vater Staat sich etwas mehr verzettelt und selbst geschwächt. Und wieder funktioniert es nicht oder nur mangelhaft … und wieder lachen sich die Rechtspopulisten ins Fäustchen.

Zusammenfassung

Ich habe in diesem Teil den aus liberaler Sicht offensichtlichen Selbstschwächungsmechanismus des Universalstaates hinsichtlich seiner Folgen für die politischen Mentalität der Bürger skizziert:

  • Der Universalstaat verliert gerade durch seine kommunitaristisch inspirierten Aktivitäten zunehmend an Glaubwürdigkeit bei „seinen“ Bürgern. Diese haben immer weniger Vertrauen in Zuverlässigkeit und Problemlösungskompetenz des Staates.
  • Der Universalstaat verwässert zunehmend die eigentlich liberale  Gerechtigkeitskonzeption unserer Verfassung und führt zu einer Kultur der normativen Beliebigkeit. Das wiederum führt zu einer Schwächung des Gerechtigkeitssinns der Bürger.
  • Eigenverantwortung und Selbständigkeit sind weder angeboren noch durch Appelle abrufbar – sie müssen durch Handeln eingeübt und stabilisiert werden. Der Universalstaat engt den Spielraum der Bürger dafür aber immer weiter ein. Die Folge ist eine zunehmende Infantilisierung der Bürger. Bei immer kleineren Problemen rufen sie immer schneller nach Vater Staat und haben immer mehr Angst vor den Unwägbarkeiten des Lebens – eben weil sie das Vertrauen in die eigene Stärke und Findigkeit immer weniger entwickeln können.

Zum Schluss noch eine Bitte in eigener Sache

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PD Dr. Andreas Edmüller, 21. September 2019

References   [ + ]

1. Die Daten sind sehr übersichtlich hier dargestellt: https://www.mystipendium.de/geld/durchschnittsrente
2. Hans Günter Hockerts: Vom Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz: Die Rentenreform 1972. In: Ders.: Der deutsche Sozialstaat. Göttingen, 2011. Die ganze Geschichte ist ein so unterhaltsames wie typisches Lehrstück der von Irrationalität und Verantwortungslosigkeit geprägten Zusammenarbeit von Politikern und Wählern im Wohlfahrtsstaat.
3. https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/sozialstaat-altersarmut-und-zynismus-2/
4. Dies zeigt ein Blick auf die Entwicklung der Steuereinnahmen und des  Bundeshaushalts der letzten Jahrzehnte sehr deutlich. Die BRD entwickelt sich immer mehr zu einer reinen Umverteilungsanstalt.
5. Ein Hinweis: Suchen Sie im Internet nach Stichworten wie Noteninflation oder Einserabitur.
6. Falls sie das an das Phänomen Religion erinnert: Stimmt genau. Andreas Edmüller: Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist. Marburg, 2015.
7. Der Ausdruck „Nicht-Denker“ wäre passender.
8. In den USA zeigen Umfragen und Wahlergebnisse, dass Wähler auch schlechtes Wetter und Missernten den gerade amtierenden Politikern ankreiden. Bryan Caplan: The Myth of the Rational Voter: Why Democracies Choose Bad Policies. Princeton, 2007.
9. Es ist kein Zufall, dass viele Politiker, die gerade die frühen Jahre der BRD stark und durchaus konstruktiv mitgeprägt haben, aus den Gewerkschaften kamen.
10. https://www.n-tv.de/wirtschaft/wirtschaft_startup/In-Ostdeutschland-will-kaum-jemand-gruenden-article21145284.html
11. Sehr interessant dazu: https://www.n-tv.de/politik/Der-Osten-muss-mit-den-Lebensluegen-brechen-article21052504.html
12. Petra Köpping: Integriert doch erst mal uns! Berlin, 2018.
13. Sie können mir jetzt gerne infantile Mails schicken. Die beantworte ich aber nur, wenn darin ein geistiges und sprachliches Niveau gewahrt wird, wie man es von einem vernünftigen Erwachsenen erwarten kann.
14. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/klimaschutz-wir-brauchen-mehr-verbote-a-1279540.html
15. Das darf dann wahrscheinlich die Berliner Truppe organisieren, die seit Urzeiten erfolglos versucht, so etwas ähnliches wie einen Flughafen zu bauen.

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