Sozialstaat und Menschenwürde, Teil 3.

Es wird auch auf einer paradiesischen Insel Menschen geben, die sich nicht selber über Wasser halten können. In erster Linie denke ich hierbei an körperlich und geistig Behinderte, sowie an Kinder. Selbstverständlich haben sie ein Recht auf Unterstützung, das sich direkt aus den liberalen Schutzrechten bzw. aus deren Begründung ergibt.1)Das Argument dafür entwickle ich ausführlich in Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit. KDP (Amazon), 2013. Kapitel 6.

Menschenwürde in Notlagen.

Daneben wird es heroisch oder unheroisch „Gescheiterte“ geben, also Personen, die trotz vorhandener Fähigkeiten Ihre Ziele nicht erreichen, die unglücklich sind, deren Leben aus der Bahn geraten ist, denen nichts gelingt, die sich in wirtschaftlicher Notlage befinden. Aber: Wenn wir davon ausgehen, dass niemand ihre Rechte verletzt hat, ihnen Unrecht getan hat, dann liegt prima facie keine Verletzung ihrer Würde vor – trotz unbestreitbarer Notlage. Es gibt eben eine ganze Bandbreite menschlicher Dramen, die sich ohne Angriff auf die Würde entfalten (können). Das ist weder schön noch erfreulich, aber leider Realität. Deshalb kann eine Unterstützungsforderung für diese Personen in Not prima facie auch nicht auf Basis des Würdekonzeptes begründet werden.

Wie sollte die Inselgesellschaft sich zu diesen Fällen stellen? Wir haben im Rahmen des Gedankenexperimentes schon gesehen, dass sich sehr schnell Institutionen der gegenseitigen Unterstützung, also Versicherungen, etablieren werden. Ein Teil dieser Personen hat sicher vor Eintritt einer Notlage Beiträge geleistet und kann somit Unterstützung im vereinbarten Rahmen einfordern. Das ist gutes Recht und durch Vertrag festgelegt. Eine Verletzung der Würde ist darin nicht zu erkennen.

Bleiben wir realistisch. Ein weiterer Teil wird diesen Anspruch auf Hilfe nicht haben. Die Gründe können auch hier wieder komplex sein: Diese Personen haben nie Beiträge geleistet, da sie vielleicht immer schon hart am Existenzminimum gelebt haben, ihre Möglichkeiten überschätzt haben, sich für unverletzlich hielten, ihren Weg aus Prinzip alleine gehen möchten oder grundsätzlich zum Lager der Grillen gehören und ein Ameisendasein langweilig finden. Es könnte auch sein, dass das Ausmaß der Notlage die ihnen zustehende Unterstützung (weit) übertrifft. Alle diese Personen sind dann in erster Linie auf die freiwillige Unterstützung durch ihre Mitmenschen angewiesen, also auf deren Solidarität. Hier greift die Ebene der Moral, die über die liberalen Schutzrechte hinaus kleinräumige und oft so tragfähige wie intensive zwischenmenschliche Pflichten generiert: Freundschaft, Partnerschaft, Familie und größere Wertegemeinschaften wie Kirchen, Gewerkschaften oder Genossenschaften sind wesentlich durch (relativ oder absolut bedingungslose) Beistandspflichten definiert. Die Mitglieder dieser Wertegemeinschaften können aufgrund gesellschaftlicher Nähe den jeweiligen Einzelfall recht genau beurteilen und ihre Unterstützung danach bemessen und genau anpassen: Es macht schon einen Unterschied, ob Krankheit die Ursache einer Notlage ist oder der Betroffene keine Zeit zum Arbeiten hat, weil er lieber an rechts- oder linksradikalen Aufmärschen als Fahnenträger teilnimmt.

Der Verweis auf diese Ebenen der Unterstützung ist kein weltfremder Optimismus, sondern konsequenter und schlüssiger Ausdruck des Würdegedankens. Wir haben weiter oben ja schon gesehen, dass die Zuschreibung von Würde voraussetzt, dass die Menschen fähig sind, ihr Leben in Eigenverantwortung zu gestalten. Dazu gehört natürlich auch, eigenverantwortlich ein moralisches Umfeld aufzubauen und zu gestalten. Und dazu gehört auch die Bereitschaft, anderen zu helfen, falls sie in Not sein sollten. Diese Hilfe wird in aller Regel auch kommen. Wenn Menschen wissen, dass es jetzt auf sie ankommt, handeln und helfen sie. Nicht alle, aber sehr viele – und das reicht. Gerade der Freiraum zum Aufbau, zur Pflege und Ausgestaltung dieser moralischen Netzwerke soll ja durch den Wert der Menschenwürde geschützt und von staatlicher Bevormundung freigehalten werden. Um es ganz klar auszudrücken: Dieses Plädoyer für ein Geflecht kleinräumiger moralischer Pflichtenverbände ist kein Notnagel oder liberale Abwiegelung bzw. Verdrängung. Es ist die direkte Folge davon, den Würdegedanken ernst zu nehmen!

Würde und Nicht-Hilfe.

Es gibt allerdings einen weiteren Ansatzpunkt für die Begründung der Unterstützung von Menschen in Not auf Basis des Würdekonzeptes. Wenn jemand in Not ist und seine Mitbürger dies sehen, ihm aber nicht helfen, obwohl dies leicht möglich wäre, so kann man darin eine Verletzung der Menschenwürde erkennen. Der Mensch in Not wird durch dieses Unterlassen einer (leicht) möglichen Hilfeleistung in seinem Wert missachtet, geringschätzig behandelt. Diese Passivität bringt ein „Du bist mir nicht einmal eine Unbequemlichkeit wert!“ zum Ausdruck.

Mit dieser Argumentationslinie begibt man sich aber auf dünnes Eis. Es geht jetzt um die Motive unseres Handelns, um dessen korrekte moralische Beurteilung. Und diese ist grundsätzlich auf den Einzelfall bezogen. Ist der türkischstämmige Gastwirt tatsächlich zur Unterstützung seines „germanischen“ Mitbürgers verpflichtet, der ihm regelmäßig rassistische Parolen auf die Haustür schmiert und seine Autotüren mit Hakenkreuzen zerkratzt? Bin ich tatsächlich dazu verpflichtet, einem Menschen zu helfen, der mich jahrelang bei jeder Gelegenheit schikaniert hat? Verpflichtet die Menschenwürde tatsächlich den (z.B. in Bautzen) Gefolterten, Sozialhilfe für den Folterknecht zu finanzieren?

Diese Beispiele sind nicht verallgemeinerbar – aber genau darum geht es. Sie sollen nur zeigen, dass selbst in Notlagen eine bewusste Verweigerung möglicher Hilfe keine Verletzung der Würde darstellen muss. Es kommt auf den Einzelfall an. Diese Verweigerung kann moralisch vertretbar sein; Hilfeleistung unter Umständen sogar schlicht und einfach moralisch unzumutbar.2)Ich persönlich betrachte es als schwerwiegende Verletzung meiner Würde, dass ich als Steuerzahler im Rahmen der Parteienfinanzierung von diesem Staat gezwungen werde, Parteien wie die NPD oder die PDS zu finanzieren. Dabei geht es nicht um die Höhe des Betrages, sondern darum, dass ich dazu gezwungen werde, Ideologien zu fördern, die ich aus tiefstem Herzen verabscheue. Das macht den Gedanken plausibel, dass diese Entscheidungen im gesellschaftlichen Nahbereich getroffen werden sollten und nicht durch allgemeine staatliche Gesetze.

Aber trotzdem haben wir es bei diesem „Missachtungsargument“ mit einem möglichen Aspekt des Würdebegriffs zu tun, der nachvollziehbar ist und vielleicht auch auf Gesetzesebene berücksichtigt werden sollte. Fragt sich nur: Wie genau? Die Forderung nach dem starken Sozialstaat kann man so jedenfalls nicht untermauern. Erstens können dadurch die allermeisten Sozialleistungen inhaltlich nicht begründet werden. Diese richten sich ja gar nicht an Menschen in Not. Betreuungs- und Kindergeld, freie Gymnasialbildung plus Studium, Eigenheimzulage und der Zwang zur staatlichen Rente etc. für Normalbürger können gerade nicht als Hilfe in Not interpretiert werden. Zweitens folgt daraus auch nicht, dass die helfende Instanz der Staat bzw. die Gesamtheit der Bürger sein muss. Viel mehr entspricht es dem Würdegedanken und der oben skizzierten Beurteilungsproblematik, sich in erster Linie auf Instanzen und Institutionen im gesellschaftlichen Nahbereich, z.B. Gemeinden, zu verlassen. Und deren Pflicht zur Hilfe in Not wird nur dann aktiviert, falls die anderen oben skizzierten Hilfsnetze nicht greifen sollten.

Eine Zwischenbilanz.

Der schrittweise Aufbau des Gedankenexperimentes hat gezeigt, dass viele Notlagen zwar „unverdient“ und sehr hart sein können, per se aber keine Verletzung der Menschenwürde darstellen. Speziell Armut und materielle Ungleichheit sind als solche keine Würdeverletzung – deshalb ist staatliche Intervention dagegen auch nicht auf Basis des Würdegedankens zu begründen.

Anders sieht die Sache aus, wenn Armut und materielle Verteilung durch eine Verletzung der liberalen Schutzrechte entstanden sind. Versklavung, Berufsverbote, Vereinigungsverbote, Regierungsmonopole, Betrug, Erpressung, staatlich gewährte Privilegien, religiöse Diskriminierung – sie alle können Ursachen von Armut und Ungleichheit sein. Dann ist selbstverständlich auch und gerade aus liberaler Sicht eine Korrektur begründet und zwingend erforderlich. Aber eben nur dann: Nur die Verletzung der Menschenwürde liefert diese Begründung.

Gerade wenn man den Würdegedanken ernst nimmt, sind die primären Instanzen für die Bewältigung von Notlagen diverse nicht-staatliche Wertegemeinschaften, die durch Beistandspflichten in ihrem Kern definiert sind. Erst falls diese nicht greifen sollten, kann im Einzelfall Hilfe zur Bewältigung einer Notlage von vorzugsweise „kleinen“ politischen Einheiten, z.B. Gemeinden, gefordert werden.

Das Fazit: Der Sozialstaat in seiner gegenwärtigen Gestalt kann nicht auf Basis des Konzeptes der Menschenwürde begründet werden. Das schließt zwar eine andere Begründung prima facie nicht aus. In Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit habe ich aber gezeigt, dass auch der Gleichheitsgedanke dafür nicht in Frage kommt; gleiches gilt natürlich für den Wert der Freiheit. Und wenn weder ein Appell an Freiheit, Gleichheit noch Menschenwürde den Sozialstaat legitimieren kann, wird der argumentative Spielraum für dessen Vertreter sehr, sehr eng. Genau das erklärt, warum deren „Argumente“ sich in aller Regel in die Beliebigkeit (vortheoretischer) moralischer Intuitionen, in die Esoterik religiöser Glaubensinhalte oder das Wunschdenken irgendwelcher Ideologien flüchten. Diese haben alle eines gemeinsam: Autoimmunität gegen nüchterne und klare Argumentation.

PD Dr. Andreas Edmüller, 30.11.2014.

References   [ + ]

1. Das Argument dafür entwickle ich ausführlich in Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit. KDP (Amazon), 2013. Kapitel 6.
2. Ich persönlich betrachte es als schwerwiegende Verletzung meiner Würde, dass ich als Steuerzahler im Rahmen der Parteienfinanzierung von diesem Staat gezwungen werde, Parteien wie die NPD oder die PDS zu finanzieren. Dabei geht es nicht um die Höhe des Betrages, sondern darum, dass ich dazu gezwungen werde, Ideologien zu fördern, die ich aus tiefstem Herzen verabscheue.

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