Sozialstaat und Menschenwürde, Teil 4.

An diesem Punkt meiner Argumentation bekomme ich es dann sehr oft mit folgendem „Appell an den gesunden Menschenverstand“ zu tun:

Das ist ja alles theoretisch vielleicht schön und richtig – aber in der realen Welt klappt es nicht. Die meisten Leute sind einfach nicht so moralisch und so kompetent wie in Deinen philosophischen Gedankenexperimenten. Genau deshalb wird es ohne Sozialstaat eine Menge Arme geben, die sich nicht selber helfen können und denen einfach keiner hilft. Und genau deshalb brauchen wir einen starken Sozialstaat – sonst bleibt die Würde dieser Armen auf der Strecke. Punkt – und jetzt kannst Du Dich mit Deiner abstrakten Philosophie schleichen.

Hört sich erst einmal recht robust, alltagsnah und wohltuend hemdsärmelig an, ist aber als Begründung für den Sozialstaat auf Basis der Menschenwürde völlig unbrauchbar.

Erstens spricht dieses Argument vielen Personen so offen wie grundsätzlich die Fähigkeit zu einem würdevollen, selbstbestimmten Leben ab und lädt damit zu berechtigten Gegenfragen ein: Warum sollten wir überhaupt den Würdebegriff als oberstes Verfassungsprinzip akzeptieren, wenn wir wissen, dass viele Bürger seiner Umsetzung nicht gewachsen sein werden (Sie erinnern sich: Ought implies can.)? Sollten wir dann nicht ehrlich sein und uns eine andere Art der Verfassung geben? Vielleicht eine, die „umfassende wohlwollende Bevormundung“ zum obersten Prinzip erhebt, einen „Bundesvormund“ zum Staatsoberhaupt und das „Bundesvormundschaftsgericht“ zum Hüter dieser Verfassung?

Zweitens missachten die klassischen Instrumente und Vorgehensweisen des Sozialstaates so tiefgreifend wie unvermeidlich die Würde aller (!) Bürger. Den Nachweis dieser These führe ich im Folgenden; hier zur Veranschaulichung der Problematik ein paar Daten:

  • Die Gesamtbelastung an direkten und indirekten Abgaben an den Staat für einen Single im Jahr 2012 beträgt 62,1 Prozent des Bruttogehalts. (Basis der Modellrechnung ist ein Bruttogehalt von Euro 5640.-).1)Wirtschaftswoche vom 9.1.2012: Wie Staat und Sozialkassen 2012 zulangen. Genauer: Der Staat verfügt über den Großteil des Einkommens dieser Bevölkerungsgruppe, nimmt es diesen Menschen einfach weg oder schreibt Ihnen vor, wie, wann und wofür sie es auszugeben haben.

Einmal ganz ehrlich: Lässt sich dieses Ausmaß an Einmischung, an Gängelung und Bevormundung ernsthaft auf Basis der Menschenwürde begründen? Diese soll doch gerade das Recht auf freie Lebensgestaltung schützen, nicht auf ein Minimum reduzieren!

Was steht hinter diesem Beispiel? Umverteilung ist das Kerngeschäft des Sozialstaates; Umverteilung im Namen der Menschenwürde die „offizielle“ Begründung dafür. Ohne materielle Mittel fehlen dem Staat allerdings schlicht und einfach die Möglichkeiten zu handeln. Diese Mittel holt er sich also in Jahr für Jahr zunehmendem Umfang über Steuern, andere Abgaben und Schuldenaufnahme von uns Bürgern. Und genau deshalb gerät er mit dem Kernbereich der Menschenwürde in unauflösbaren Konflikt. Was heißt das?2)Im Folgenden greife ich in Teilen auf mein Buch Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit (KDP, 2013) zurück.

Der Sozialstaat greift die Würde unserer Nachkommen an.

Die enorme Verschuldung Deutschlands ist in erster Linie durch die Umverteilungspolitik des Wohlfahrtsstaates entstanden.3)Hans Günter Hockerts: Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945. Göttingen, 2011. Gerhard A. Ritter: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. 3. Auflage, München, 2010. Über Jahrzehnte hinweg haben wir uns Bequemlichkeiten gegönnt, für die wir unsere Nachkommen bezahlen lassen. Genauer: Die aktuelle Pro-Kopf-Verschuldung beträgt etwa 26000.- Euro.4)Ein Blick auf die Website www.staatsschuldenuhr.de lohnt sich. Indem wir ihnen diesen Schuldenberg „vererben“, schränken wir die Möglichkeiten der Lebensgestaltung unserer Kinder massiv ein. Die Gesetzeslage sieht für sie natürlich keine Möglichkeit vor, dieses Erbe auszuschlagen: Sie müssen für unsere Schulden ihre Köpfe hinhalten. Konkret: Sie müssen einen guten Teil ihrer Lebenszeit, Lebensenergie und Kreativität aufwenden, um das abzubezahlen, was wir uns „im Namen der Würde“ geleistet haben. Das ist zwar praktisch, denn Kinder oder noch nicht Geborene können sich nur schlecht gegen diese Instrumentalisierung wehren, es ist aber auch zutiefst ungerecht: Mit welchem Recht lassen wir nachfolgende Generationen für uns arbeiten? Das ist Ausbeutung, das ist Zwangsarbeit, das ist Instrumentalisierung und davor sollte sie das Würdeprinzip eigentlich schützen.

Der Sozialstaat greift die Würde der Steuerzahler an.

Der Steuerzahler, zumindest der Nettosteuerzahler, wird vom Sozialstaat permanent gezwungen, einen sehr großen Teil seines Einkommens abzugeben und damit diverse Leistungen für andere Bürger zu finanzieren – ohne ihnen auch nur ein Härchen gekrümmt zu haben. Dabei geht es nicht „nur“ darum, dass Eigentum umverteilt wird. Es geht auch und vor allem darum, dass eine Person vom Staat gezwungen wird, einen Teil ihrer Lebenszeit, Tatkraft und Lebensenergie, ihrer Ideen und Kreativität, die sie ohne die starken Umverteilungsforderungen des Sozialstaates zur Verfolgung des eigenen Lebensplanes genutzt hätte, für andere Personen und deren Ziele, Zwecke und Pläne einzusetzen. Gemeinhin nennt man das Zwangsarbeit. Dieser Zusammenhang zwischen Eigentum und Lebenszeit (unserem wertvollsten Gut) ist kein kontingenter. Unter den Bedingungen materieller Knappheit müssen die allermeisten Menschen ein beachtliches Ausmaß an Zeit, Energie, Tatkraft etc. einsetzen, um ihre materielle Lage zu gestalten und zu verbessern.5)Ein Blick auf ihre Biographien zeigt es in aller erschreckenden und banalen Deutlichkeit: Die konkrete Erfahrung dieses Zusammenhanges fehlt den allermeisten unserer Berufspolitiker. Erwerbsarbeit unter Marktbedingungen spielt in ihren Lebensläufen oft keine Rolle. Für viele Menschen bedeutet Umverteilung also schlicht und einfach, dass sie massive Abstriche am eigenen Lebensplan, den eigenen Prioritäten und den Aktivitäten machen müssen, die für sie den Sinn ihres Lebens ausmachen. Die eigenen Projekte werden sie nur mit Verzögerungen, Einschränkungen oder im schlimmsten Fall gar nicht verfolgen können. Die eigene Person oder Familie wird durch staatliche Intervention schlechter gestellt, damit andere Bürger in den Genuss bestimmter Vorteile gelangen. Also: Umverteilung beeinträchtigt sehr stark das Recht auf Lebensgestaltung der Leistungserbringer. Warum darf deren Würde systematisch verletzt werden?

Der Sozialstaat greift die Würde der Erwerbstätigen an.

Umverteilung ermöglicht den davon Begünstigten nicht nur Konsum, sondern oft auch Eintritt in den Wettbewerb zu nicht marktgerechten Preisen. Das kann dazu führen, dass Bürger A über seine sozialen Ausgleichszahlungen an Bürger B die eigene Konkurrenz und deren Dumpingstrategie finanziert und somit vom Staat gezwungen wird, die eigene Existenz in Gefahr zu bringen – oder sie im Extremfall sogar aufzugeben. Selbstverständlich im Namen der Menschenwürde. Leider ist das keine bloße Möglichkeit, sondern Realität. Ein ganz konkretes Beispiel der jüngeren Geschichte des Sozialstaates liefert das Friseurhandwerk. Zahlreiche Ich-AGs hatten sich mit staatlicher Unterstützung etabliert und viele alteingesessene Friseurbetriebe durch Dumpingpreise massiv in ihrer Existenz gefährdet oder tatsächlich in den Ruin getrieben.6)Die Details der speziellen Problematik können Sie sich von Ihrem Steuerberater erklären lassen: diese Facette der moralischen Absurdität des Sozialstaates ist in Fachkreisen allgemein bekannt. Ein zweites Beispiel sind die regelmäßigen Subventionen für marode Firmen zum Erhalt von Arbeitsplätzen, natürlich wieder im Namen der Würde: Diese Rettungsgelder aus Steuermitteln gefährden schlicht und einfach die Arbeitsplätze des wirtschaftlich offensichtlich erfolgreicher operierenden Wettbewerbers. Der darf diese gegen ihn wirkenden Subventionen durch seine und der Mitarbeiter Arbeit auch noch selbst finanzieren. Kurz: Viele Bürger werden vom Sozialstaat gezwungen, sich selbst massiv zu schaden, sogar ihre eigene Existenz zu gefährden. Für mich ist nicht erkennbar, wie derartige Eingriffe des Staates mit Respekt vor der Würde des Menschen in Einklang zu bringen sind.

Der Sozialstaat greift die Würde der Beitragszahler an.

Die meisten Erwerbstätigen werden von diesem Staat gezwungen, sich gemäß seiner Vorgaben für den Fall von Alter und Krankheit abzusichern. Der Staat schreibt dabei im wesentlichen die Höhe der Beiträge und den Umfang der Leistungen vor. Dabei lässt er den Bürgern in der Regel nicht die Wahl, sein Angebot abzulehnen.7)Sie erinnern sich: Der Pate ….. Wer sich selbst und auf andere als vom Staat vorgeschriebene Weise absichern möchte, hat Pech gehabt: Er darf das nicht – und Punkt. Selbstbestimmung wird dem Großteil der Bevölkerung in diesen existentiell wichtigen Lebensbereichen vom Staat grundsätzlich verwehrt. Für viele Bürger mit Normaleinkommen heißt das, dass ganz wesentliche Koordinaten ihrer Lebensgestaltung für sie vom Staat gesetzt werden. Vom ersten Tag des Erwerbslebens an steckt gerade der Normalverdiener in einem inzwischen ausgesprochen engen Korsett aus Zwangsabgaben, das ihn bis zum Ruhestand begleitet und seine Möglichkeiten der Lebensgestaltung massiv beeinflusst und einschränkt. Dazu kommt das Steuer-Phänomen der kalten Progression: Die Chancen zur Verbesserung der Lebenslage durch eigene Anstrengung, Kreativität und Leistung werden aufgrund staatlicher Zwangsabgaben immer geringer.  Auch diese Überlegungen zeigen, dass das Umverteilungssystem Sozialstaat es für viele Personen oft schwer oder unmöglich macht, die eigene Lebenszeit so zu gestalten, wie sie das für richtig und wichtig halten. Damit aber ist klar und eindeutig der Lebensbereich berührt, der mit Hilfe des Würdebegriffs eigentlich geschützt werden sollte.

Der Sozialstaat greift die Würde der Leistungsempfänger an.

Auf der Empfängerseite „sozialen Ausgleichs“ sieht es in Bezug auf die Würde paradoxerweise ebenso bedenklich aus. Wie oben gesehen, bedeutet materieller Ausgleich grundsätzlich und unvermeidbar einen massiven Eingriff in eigentlich konsequent zu schützende Lebensbereiche. Deshalb haben nach der pseudo-moralischen Logik der Umverteilung die davon als Leistungserbringer Betroffenen zumindest Anspruch darauf, dass dieser Eingriff (falls überhaupt vertretbar) so klein und so schonend wie möglich erfolgt. Das heißt, dass von keiner Person mehr Zeit, Energie und Abstriche am je eigenen Lebensplan gefordert werden dürfen als für einen „wirksamen“ Ausgleich unbedingt nötig. Umverteilung sollte also so effizient und so effektiv wie möglich erfolgen, um das gesetzte Ausgleichsziel zu erreichen. Mit dieser „eigentlich plausiblen“ Überlegung wird aber eine Logik in Gang gesetzt, die für den Würdegedanken ebenso fatal ist wie der daraus resultierende Mechanismus. Was heißt das? Zum einen muss der Staat sicherstellen, dass niemand in den Genuss unverdienten Ausgleichs kommt. Zweitens muss sichergestellt werden, dass die Ausgleichsempfänger nur so viele Ausgleichsmittel erhalten, wie nötig. Drittens muss sichergestellt werden, dass die Ausgleichsmittel auf Empfängerseite tatsächlich dem gesetzten Zweck zufließen und nicht zweckentfremdet werden. Schließlich muss sichergestellt werden, dass der Ausgleich nur so lange erfolgt, wie nötig. Aus diesen im Rahmen der Umverteilungslogik berechtigten Ansprüchen der Ausgleichszahler folgt aber nichts anderes als eine das gesamte Leben umfassende und durchdringende Kontrolle, Gängelung und Entmündigung der Ausgleichsempfänger!

Die Beispiele für diese Kontrolle und Bevormundung sind allgemein bekannt. Am schlimmsten ergeht es den Menschen, die am unteren Ende der sozialen Skala zu finden sind. Sie unterliegen in der Praxis des Sozialstaats einem engmaschigen Netz aus Transparenz-, Melde- und Nachweispflichten, das weit mehr mit Entmündigung und Bevormundung zu tun hat als mit der Garantie grundlegender Freiheiten. Ihr Schutz der Privatsphäre ist aufgelöst. Ich kann z.B. nicht erkennen, dass unangemeldete Wohnungsuntersuchungen (inklusive Blick in den Toilettenschrank im Bad) von Mitarbeitern der Bundesanstalt für Arbeit bei Empfängern von Hartz IV in einem Rechtsstaat, der sich der Würde des Menschen verschrieben hat, akzeptabel sind. Die Behauptung, dass dieses ganze Netzwerk aus Einschränkungen von Selbstbestimmung, Freiheit und Ehre mit dem Würdeprinzip vereinbar ist, halte ich schlicht und einfach für absurd.

Das Fazit: Diese Liste ist nicht vollständig, reicht aber aus um meine Kernthese zu begründen: Umverteilung führt konsequenterweise zu massiven Eingriffen in das Recht auf Lebensgestaltung und somit zu starken Einschränkungen der Würde für alle daran beteiligen Bürger. Noch deutlicher: Der deutsche Sozialstaat genügt nicht der Forderung, die Würde des Menschen als dessen wertvollstes Gut zu achten und zu schützen.

PD Dr. Andreas Edmüller, 30.11.2014.

References   [ + ]

1. Wirtschaftswoche vom 9.1.2012: Wie Staat und Sozialkassen 2012 zulangen.
2. Im Folgenden greife ich in Teilen auf mein Buch Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit (KDP, 2013) zurück.
3. Hans Günter Hockerts: Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945. Göttingen, 2011. Gerhard A. Ritter: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. 3. Auflage, München, 2010.
4. Ein Blick auf die Website www.staatsschuldenuhr.de lohnt sich.
5. Ein Blick auf ihre Biographien zeigt es in aller erschreckenden und banalen Deutlichkeit: Die konkrete Erfahrung dieses Zusammenhanges fehlt den allermeisten unserer Berufspolitiker. Erwerbsarbeit unter Marktbedingungen spielt in ihren Lebensläufen oft keine Rolle.
6. Die Details der speziellen Problematik können Sie sich von Ihrem Steuerberater erklären lassen: diese Facette der moralischen Absurdität des Sozialstaates ist in Fachkreisen allgemein bekannt.
7. Sie erinnern sich: Der Pate …..

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