Sozialstaat und Menschenwürde, Teil 5.

Hinter den eben aufgezeigten Angriffen auf die Menschenwürde stehen so allgemeine wie gefährliche Entwicklungstendenzen: Die Macht des Staates steigt beständig an, der politische Einfluss der Bürger nimmt zunehmend ab und der Staat schüttelt konsequent die Mechanismen der Machtkontrolle ab.

Die Macht des Staates nimmt zu.

Der Staat und seine Institutionen verfügen über immer mehr materielle Mittel: Jedes Jahr steigen Steueraufkommen, Einnahmen des Staates und dessen Gesamtverschuldung. Unsere Politiker gehören natürlich zu den größten Nutznießern der Umverteilungsmaschinerie Sozialstaat. Zum einen haben die Parteien und deren Funktionäre es inzwischen geschafft, ihre Finanzierung aus Steuermitteln zu sichern, also aus dem Einkommen der Bürger. Zum anderen bedeutet jeder Euro mehr an Umverteilungsmasse ein Stück Machtgewinn für den Staat und die Politiker, die über dessen Verwendung bestimmen. Geld ist Macht!

Die materielle ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere – zwangsläufig damit verknüpft – ist die konsequente Auflösung unserer Privatsphäre. Umverteilung basiert auf Informationen über Geber und Nehmer, mehr Umverteilung erzwingt mehr Informationen. Ein aktuelles Beispiel: Das Bankgeheimnis – und damit ein wesentliches Stück Privatsphäre – wurde abgeschafft. Ein weiteres Beispiel: Die von vielen Politikern geforderte Einführung einer Vermögenssteuer heißt konkret, dass jeder Bürger „zum Zweck einer gerechten Erhebung“1)Genau: Orwell, 1984. dem Staat Jahr für Jahr detaillierten Einblick in seine Lebenssituation gewähren muss. Keine Schublade bleibt ungeöffnet, kein Teil unseres Besitzes ungeschätzt. Aber auch ohne Vermögenssteuer gibt es mittlerweile aus staatlicher Sicht kaum noch Informationslücken zum Treiben „seiner“ Bürger. Angesichts des Datenbestandes, den jedes normale Finanzamt über uns hat und angesichts der Zerstörung des Bankgeheimnisses verstehe ich die allgemeine Aufregung über die Spionageaktivitäten der NSA wirklich nicht. Die paar Mails, Telephonate und SMS-Nachrichten sind im Vergleich dazu unerheblich. Wissen ist Macht!

Die Macht der Bürger nimmt ab.

Der Sozialstaat nimmt uns, wie oben ausführlich erläutert, immer stärker „in die soziale Pflicht“. Das heißt konkret, dass wir über immer weniger unserer Lebenszeit und unseres Eigentums frei und nach unseren eigenen Vorstellungen verfügen können. Die Aufgabe, den staatlichen Vorgaben und Ansprüchen zu genügen ist schon jetzt für die allermeisten Bürger dominant. Wer aber immer mehr für den Staat bzw. nach dessen Vorgaben arbeiten muss, hat immer weniger Zeit und Energie für eigene Vorhaben und Pläne, für die eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens. Und dazu gehört im demokratischen Rechtsstaat eigentlich auch, sich aktiv politisch zu engagieren. Politisch passive Bürger bedeuten Macht für den Staat!

Der Sozialstaat wird immer undurchschaubarer und komplexer; ich glaube  nicht, dass es noch jemanden gibt, der einen verlässlichen Überblick zu all den Gesetzen, Institutionen und Programmen hat, die „soziale Gerechtigkeit“ fördern sollen. Es gibt aber jede Menge staatlich besoldeter „Experten“, die selbstverständlich jede staatliche Intervention als wichtigen Beitrag zum Ringen um die Menschenwürde, zum Kampf für Gleichheit, gegen Armuts- oder Diskriminierungsgefahr, gegen „asoziale“ Bevölkerungsgruppen ausführlich und „stichhaltig“ begründen können. Was nie versiegen wird, ist dieser Fluss an steuerfinanzierter Pseudo-Argumentation. Wie es dem Bürger dabei geht, hat Franz Kafka 1922  in Das Schloß ausführlich beschrieben: Undurchsichtigkeit bedeutet Macht für den Staat!2)Dieses erschreckende System der absichtlich erzeugten Intransparenz funktioniert auch blendend auf europäischer Ebene; Hans-Werner Sinn gebührt großer Dank dafür, es in vielen Teilen durchleuchtet zu haben: Die Targetfalle. München, 2012.

Schließlich hängt nach Jahrzehnten des Wohlfahrtsstaates das Einkommen einer zunehmenden Zahl von Bürgern, neben dem der Berufspolitiker und Parteifunktionäre, direkt von staatlichen Zuwendungen ab: Rentner, alle Empfänger von Sozialleistungen, unser Beamtenheer, subventionierte Branchen, Unternehmen und die damit verknüpften Arbeitsplätze etc. Wie realistisch ist die Annahme, dass diese Bürger auf Basis von Überlegungen zum Würdebegriff über politische Reformen die eigene Einkommensquelle gefährden werden? Auch finanzielle Abhängigkeit bedeutet Macht!

Die Mechanismen der Machtkontrolle funktionieren immer schlechter.

Ich möchte mich hier auf den aus philosophischer Sicht bedenklichsten Aspekt konzentrieren, nämlich die bereits erfolgte Aushöhlung bzw. Aushebelung unserer Verfassung in wesentlichen Teilen. Die Verfassung ist eigentlich die Basis jeder Machtkontrolle; demokratisch gewählte Parlamente, der Bundespräsident, das Verfassungsgericht wichtige Instrumente. Das Problem: Diese Sicherungen funktionieren immer schlechter. Die eben erläuterten Angriffe auf die Würde des Menschen sind allgemein bekannt; wir reden nicht über Dinge, die im Geheimen geschehen oder verschleiert würden. Sie werden aber von den wenigsten Bürgern als Würdeverletzung wahrgenommen und eingeordnet. Sie werden von Institutionen wie dem Verfassungsgericht als legitim eingestuft.

Was ist da passiert? Im Lauf der Jahrzehnte wurde unsere Verfassung, genauer, der im Würdebegriff verkörperte Kerngedanke der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, Schritt für Schritt und ohne große Nebengeräusche oder Proteste weginterpretiert und durch den der Verpflichtung auf ein diffuses Kollektivwohl ersetzt. Konkreter: Der in unserer Verfassung geforderte Schutz des Individuums und seiner Würde wurde und wird in der politischen Praxis Schritt für Schritt durch das Prinzip allumfassender Instrumentalisierung und Bevormundung im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ und der Gleichheit ersetzt. Kurz: Das in Artikel 20 extrem schwammig und diffus formulierte „Sozialstaatsgebot“ wurde zur bestimmenden und dominanten Leitlinie der Verfassungsinterpretation. Die genaue Erklärung dieser Fehlentwicklung kann sicher nur eine so detaillierte wie umfassende Untersuchung liefern; das kann hier nicht geleistet werden.

Wenn wir aber einen auf der Menschenwürde basierenden Gerechtigkeitsbegriff ernst nehmen wollen, dann gilt es, konsequent und nachhaltig diese jahrzehntelange normative Fehlentwicklung des Sozialstaates zu korrigieren. Deutschland benötigt eine Strategie, die Schritt für Schritt aufzeigt, wie die Bürger Freiraum, Freiheit und Würde zurückgewinnen können, wie der Staat wieder aus unserem Leben gedrängt werden kann. Die Basis dafür kann meines Erachtens nur durch eine Verfassungsreform im Namen der Menschenwürde bzw. der Freiheit gelegt werden. Die Verfassung ist im Rechtsstaat nämlich die Begründungsbasis jeglichen politischen Handelns.

Konkret: Das Sozialstaatsgebot sowie die damit verknüpfte Einschränkung des Eigentumsschutzes (Artikel 14) sind aus der Verfassung zu entfernen. Der Zweck des Staates ist auf den Schutz von Sicherheit, Freiheit und Eigentum der Bürger zu begrenzen, also auf den Schutz ihrer Würde.

Das ist unbequem – aber wir sollten die Würde des Menschen nicht mit seiner Bequemlichkeit verwechseln. Darum sollte und muss es in der Debatte zum Sozialstaat gehen: Um Würde und Gerechtigkeit. Stammtischnahe Diskussionen zur genauen Höhe von Hartz IV oder V, der Höhe von Managergehältern, oder der Frage danach, welche Bevölkerungsgruppen denn nun wirklich die größten „asozialen Schmarotzer“ sind, lenken vom eigentlichen Thema ab und dienen im Grunde nur der Stabilisierung eines eklatant der Menschenwürde widersprechenden Status Quo: Im Sozialstaat bleibt die Würde aller Bürger auf der Strecke.

Es ist nicht zu erwarten, dass diese Debatte von unseren Politikern auch nur angestoßen, geschweige denn geführt wird. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Warum sollten sie den Ast absägen, auf dem sie sitzen und das Geschäftsmodell ändern, das ihre Karriere erst ermöglicht? Die Lösung muss von uns, den Bürgern kommen. Schließlich geht es um unsere Würde.

PD Dr. Andreas Edmüller, 30.11.2014.

References   [ + ]

1. Genau: Orwell, 1984.
2. Dieses erschreckende System der absichtlich erzeugten Intransparenz funktioniert auch blendend auf europäischer Ebene; Hans-Werner Sinn gebührt großer Dank dafür, es in vielen Teilen durchleuchtet zu haben: Die Targetfalle. München, 2012.

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