Teil 4: Ab wann greift der Staat ein?

Der pluralistische Staat

Pluralismus bedeutet nicht Relativismus, sondern mehr Freiheit – mehr Wahlmöglichkeit für jeden Einzelnen. Jeder Versuch, diese Freiheit mittelbar oder unmittelbar einzugrenzen oder gar abzuschaffen, wird als freiheitsberaubend bzw. als extremistisch betrachtet. So bedeutet Extremismus für den Staat nicht die Abweichung von einer willkürlich gesetzten Norm, sondern die Gefährdung der Grundrechte des Individuums, die Einschränkung seiner Freiheit und auch seiner Gleichheit vor dem Gesetz. Und weil der Staat die Aufgabe hat, die Freiheit jedes Individuums in gleichem Maße zu schützen, muss er eingreifen. Aber wie und ab wann greift der Staat ein?

Die Aufgaben der Polizei 

sind den meisten Bürgern geläufig: Sie muss im Rahmen der Kriminalprävention eingreifen, um Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren. Außerdem hat sie im Rahmen der Repression strafbare und ordnungswidrige Handlungen aufzuspüren und zu untersuchen. An dieser Stelle sind die Straftatbestände der Volksverhetzung (§ 130 StGB) und einige Propagandadelikte (§ 86a StGB) zu erwähnen, die Kritiker als „Gesinnungsparagraphen“ verunglimpfen.1)Diese Kritik stammt meistens aus der rechtsextremistischen Ecke. 

Tatsächlich gibt es Demokratien, wie etwa die USA, deren Redefreiheit deutlich weiter geht als unsere Meinungsfreiheit. Gleichwohl wird unsere Meinungsfreiheit nach vorherrschender Rechtsmeinung durch die genannten Paragraphen nicht eingeschränkt. Die Begründung: Da die Vollendung der beschriebenen Tatbestände mit anderen Grundrechten kollidiert, ist ihre Strafbarkeit durchaus gerechtfertigt. Sie dienen also dem Schutz des öffentlichen Friedens und der Menschenwürde.

Die Aufgaben des Verfassungsschutzes

sind weniger bekannt. Dabei ist gesetzlich klar geregelt, ab wann er tätig wird:

  • Tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die fdGO eröffnen den Beobachtungsauftrag. 

Was heißt das genau? In einem demokratischen freiheitlichen Rechtsstaat kann man nur für Taten, nicht für Gesinnungen bestraft werden. Das ist eine zivilisatorische Errungenschaft, von der man um keinen Zentimeter abrücken sollte. Die wehrhafte Demokratie ermittelt keine Gesinnungen – oder „Einstellungen“, wie gelegentlich gefordert wird. Extremistische Bestrebungen sind deshalb grundsätzlich Taten: Sie erfordern ein aktives Eintreten (und sei es nur das öffentliche mündliche Propagieren) und Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, freiheitliche Grundrechte zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen.2)Vgl. § 4 Abs. 1c) BVerfSchG. Sie sind also politisch zielgerichtet gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO).

Jede Demokratie kennt Handlungen, die als Straftaten gelistet sind. Extremismus ist eine zusätzliche Kategorie von Handlungen im Vorfeld von Straftaten. Deshalb werden Extremisten zwar „beobachtet“, also selbst in ihrer Freiheit und ihren Grundrechten eingeschränkt, aber selbst Extremismus ist nicht verboten. Deshalb darf der Extremist seine Gesinnung öffentlich kundtun, beispielsweise auf Demonstrationen – und der Staat muss ihm dieses Grundrecht sogar gewährleisten. Die Unterscheidung ist gelegentlich knifflig und für manche schwer nachvollziehbar: So ist beispielsweise selbst die beleidigende und polemische Kritik an Religionen genauso von der Meinungsfreiheit gedeckt wie eine nüchtern vorgebrachte Forderung, etwa Moscheebauten allgemein zu verbieten – aber nur letztere ist extremistisch, weil ihre Ausführung die Religionsfreiheit einschränken würde. Und Forderungen nach einem Systemwechsel gelten nur dann als extremistisch, wenn zugleich keine freiheitliche Alternative angeboten wird.3)So kann eine konstitutionelle Monarchie wie Schweden oder ein Zentralstaat wie Frankreich durchaus zugleich eine freiheitliche Grundordnung sein.

Darüber hinaus greift der Staat frühzeitig im Rahmen seines Präventionsauftrags ein. So bietet der Staat vielerorts Präventionsprogramme in Form von Beratungsleistungen für Kommunen, Fortbildungen für Schulen und Sensibilisierungen der Öffentlichkeit an. Zum Eingreifen des Staats zählen aber auch zahlreiche Programme, die man unter dem Begriff der Resozialisierung zusammenfassen könnte: Der Staat unterhält eigene Aussteigerprogramme und unterstützt zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich auf Deradikalisierung spezialisiert haben. Die Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen hat den Vorteil der schnelleren Vertrauensbildung gegenüber den Betroffenen. Nachteilig mag sich die fehlende Erfahrung im Sicherheitsbereich auswirken. Gefährdungen zu erkennen erfordert meist langjährige Erfahrung. So wurde beispielsweise einer der beiden Attentäter des Anschlags auf den Essener Sikh-Tempel in einem zivilgesellschaftlichen Salafismus-Präventionsprojekt betreut. Gemeint ist hier der Sprengstoffanschlag vom 16. April 2016 auf eine größere Festgesellschaft im Gebetshaus einer Sikh-Gemeinde. Durch Zufall entgingen die meisten Menschen dem Anschlag.

Der Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes wird erst eröffnet, wenn hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die fdGO vorliegen. Das führt sofort zur nächsten Frage:

Wie kann der Verfassungsschutz diese Anhaltspunkte bekommen, wenn er zuvor gar nicht beobachten darf? 

Extremismus passiert öffentlich.4)Der Sonderfall des Terrorismus, der in der Regel im ideologischen Umfeld des Extremismus entsteht und gedeiht und natürlich konspirativ und nicht öffentlich vorgeht, ist hiermit nicht gemeint. Für solche Fälle benötigen die Sicherheitsbehörden nachrichtendienstliche Mittel. Und der Verfassungsschützer darf, wie jeder Bürger, Nachrichten und öffentliche Diskussionen verfolgen. Aber: Er darf sie nicht sammeln und abspeichern. Sobald er jedoch Anhaltspunkte für Bestrebungen bemerkt, darf er beginnen zu prüfen. Bestätigt sich der Anfangsverdacht und ergeben sich hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte, wird ganz offiziell ein Prüffall eröffnet. Damit wird das Sammeln von Informationen nicht nur erlaubt, sondern vorgeschrieben. Erhärtet sich das Bild und werden hinreichend gewichtige Anhaltspunkte festgestellt, wird der Prüffall zum Beobachtungsobjekt.

Kompliziert wird das Ganze durch leicht unterschiedliche Gesetzeslagen und Vorschriften in den unterschiedlichen Bundesländern, teilweise sogar mit unterschiedlichen Kategorien. Während beispielsweise das Bundesamt für Verfassungsschutz zwischen Prüffall, Verdachtsfall und Beobachtungsobjekt unterscheidet, kennt das bayerische Landesamt nur Prüffall und Beobachtungsobjekt, darf dafür aber Einzelpersonen beobachten, deren Bestrebungen unter der Hürde des aggressiv-kämpferischen liegen, was eigentlich im BfV nur bei Personenzusammenschlüssen möglich ist. 

  • Grundsätzlich gilt aber: Erst wenn sich die Erkenntnisse verdichten, spricht der Verfassungsschutz von Extremismus.

Beobachten ist für den Verfassungsschutz also ein Fachbegriff. Da das Gesetz genau vorschreibt, ab wann der Verfassungsschutz beobachten darf, wird der Begriff nicht in der üblichen Wortbedeutung gebraucht. Da es sich beim Beobachten um einen Grundrechtseingriff handelt, muss natürlich im Vorfeld sorgfältig geprüft werden. 

Hieraus ergibt sich eines der häufigsten Missverständnisse in der Öffentlichkeit: 

  • Das Frühwarnsystem des Verfassungsschutzes besteht nicht in erster Linie darin, Verfassungsfeinde früher als die Gesellschaft zu bemerken, sondern diese in die Schranken zu weisen, bevor sie die Demokratie ernsthaft gefährden können. 

Der Verfassungsschutz ist keine moralische Instanz

Personen, Personenzusammenschlüssen und Organisationen, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, kann man Bestrebungen gegen die fdGO nachweisen. Mehr nicht. Es ist keine Frage der Sympathie oder gar der Gewogenheit zur Regierung – wie häufig von Kritikern suggeriert. Im Gegenteil:

  • Verfassungsschützer sind ausschließlich an Recht und Gesetz gebunden und nicht an die Regierung. 

Sie wären schlecht beraten, sich von subjektiv beeinflussbaren Aspekten wie dem Erscheinungsbild leiten zu lassen – genauso wie Richter, Staatsanwälte und Polizisten. 

  • Der Verfassungsschutz ist auch keine moralische Instanz, die Bürger in gute oder schlechte Demokraten einteilt. 

Denn umgekehrt sind Personenzusammenschlüsse, die nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden, nicht unbedingt vorbildliche Demokraten. Was beispielsweise gemeinhin als Populismus bezeichnet wird, unterliegt in der Regel nicht der Beobachtung durch den Verfassungsschutz: Als Populismus bezeichnet man sowohl eine politische Strategie, als auch politische Inhalte mit Überschneidungen und Übergängen zum Extremismus. Wenn Populisten nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden, ist das jedenfalls nicht gleichbedeutend mit einem demokratischen Gütesiegel.

Auch in Bezug auf den Islamismus meinen viele Bürger im Umkehrschluss, die vom Verfassungsschutz nicht beobachteten Gruppierungen seien demnach „unbedenklich“. In der Islamdebatte offenbaren sich die Fallstricke dieses Denkfehlers: Nur weil ein Verband kein Verfassungsfeind ist, ist er noch lange kein idealer Bündnispartner für den Staat. 5)Dazu: https://blog.projekt-philosophie.de/?s=islamisierung+gesellschaftlicher+probleme 

Es ist auch nicht Aufgabe des Staates Positivlisten, Persilscheine und Anständigkeitsbescheinigungen zu erstellen oder zu urteilen, wessen Islamauslegung richtig oder falsch ist. Sobald es Menschen gibt, die eine Auslegung vertreten, ist diese als gegeben zu nehmen. Der Staat hat grundsätzlich nicht zu urteilen, ob eine Religion richtig oder falsch ausgelegt wird. Ein wegweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat das im Jahr 2000 noch einmal verdeutlicht: Der Staat darf weder Lehre noch Schriften einer Religion beurteilen, sondern lediglich die Auslegung konkreter Gläubiger anhand weltlicher Kriterien (Gesetze) bewerten. Sein Maßstab ist das Grundgesetz.6)Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 2BvR1500/97, 19. Dezember 2000. Zur Verfassungsbeschwerde der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland e.V., Randnotiz 89. Bildlich gesprochen: 

  • Auf dem Gelände der fdGO unterhält der Staat keine Wegweiser für seine Bürger, sondern lediglich Schutzdämme, die eine Flutung durch totalitäre Wellen verhindern sollen. 
  • Auf dem Gelände der fdGO kann sich der Bürger frei bewegen und wird nicht durch den Staat angeleitet. Die Verantwortung für seinen Wandel liegt allein beim Bürger mit seinen freien Entscheidungen.

Also: Der Verfassungsschutz ist eine Sicherheitsbehörde, die mittelbar den Staat schützen soll, um unmittelbar die Individualrechte der Bürger zu schützen. Seine Aufgabe besteht u.a. in der Aufklärung der Öffentlichkeit über Bestrebungen, nicht in der Erziehung von Bürgern.

Zusammenfassung

Im Zweifel für die Freiheit: Wir haben gesehen, dass der Gedanke hinter der wehrhaften Demokratie nicht im Einschränken der Freiheit, sondern in der Garantie der größtmöglichen Freiheitsrechte liegt. 

  • Unter dem Begriff des Extremismus werden alle Aktivitäten (niemals Gesinnungen) zusammengefasst, welche die freiheitliche Demokratie gefährden und bekämpfen. Die Gesinnungen der Bürger werden in freiheitlichen Demokratien nicht beobachtet und erst recht nicht sanktioniert. 
  • Im Gegenteil – der Staat greift erst ein, wenn seine Gegner mit Handlungen politisch zielgerichtet gegen die fdGO vorgehen. 
  • Der Verfassungsschutz ist eine Sicherheitsbehörde, die mittelbar den Staat schützen soll, um unmittelbar die Individualrechte der Bürger zu schützen. 
  • Seine Aufgabe besteht u.a. in der Aufklärung der Öffentlichkeit über Bestrebungen, nicht in der Erziehung von Bürgern. 
  • Das Eingreifen des Staats kann aber nur Weckruf und Signal sein. Es sollten keine überhöhten Erwartungen an den Verfassungsschutz gestellt werden. Er ist nicht dafür zuständig, die Gesellschaft in gute und schlechte Demokraten einzuteilen. Hierfür bedarf es öffentlicher Diskurse und der Beteiligung einer aktiven Zivilgesellschaft. Freiheitliche Demokratien werden von mündigen Bürgern getragen, daher ist auch zukünftig das Augenmerk auf die Bildung der Bürger zu legen.

Judith Faessler, 22. Februar 2021

Zum Schluss noch eine Bitte in eigener Sache

Falls Ihnen unser Blog gefällt – bitte empfehlen Sie uns in den sozialen Medien weiter.

References   [ + ]

1. Diese Kritik stammt meistens aus der rechtsextremistischen Ecke.
2. Vgl. § 4 Abs. 1c) BVerfSchG.
3. So kann eine konstitutionelle Monarchie wie Schweden oder ein Zentralstaat wie Frankreich durchaus zugleich eine freiheitliche Grundordnung sein.
4. Der Sonderfall des Terrorismus, der in der Regel im ideologischen Umfeld des Extremismus entsteht und gedeiht und natürlich konspirativ und nicht öffentlich vorgeht, ist hiermit nicht gemeint. Für solche Fälle benötigen die Sicherheitsbehörden nachrichtendienstliche Mittel.
5. Dazu: https://blog.projekt-philosophie.de/?s=islamisierung+gesellschaftlicher+probleme
6. Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 2BvR1500/97, 19. Dezember 2000. Zur Verfassungsbeschwerde der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland e.V., Randnotiz 89.

About

View all posts by