Teil 9: Brauchen wir überhaupt einen Nachrichtendienst?

In diesem Teil geht es um die Frage, ob der Verfassungsschutz überhaupt notwendig ist. Ich habe bisher ja nur erläutert, warum der Verfassungsschutz aus historischen Gründen nach dem Krieg eine sinnvolle Konzeption war. Seitdem hat sich vieles geändert. Also: Brauchen wir heute noch einen Verfassungsschutz – gibt es nicht bessere Alternativen?

Die Frage, ob wir überhaupt Sicherheitsbehörden benötigen, ist nicht mein Thema. Eine klares Ja halte ich für unstrittig. Hier geht es also nur darum, ob wir einen Inlandsnachrichtendienst benötigen.

Geheimdienst oder Nachrichtendienst?

Vorab eine kurze Anmerkung zum Begriff Nachrichtendienst – und warum ich nicht von Geheimdienst spreche: Deutschland hat keinen Geheimdienst. Auch Geheimdienste sind Nachrichtendienste. 

  • Im Unterschied zum Geheimdienst verübt aber ein „reiner“ Nachrichtendienst weder false flag Aktionen oder Täuschungsmanöver, noch lanciert er Desinformationskampagnen. 

In der Öffentlichkeit werden die Begriffe fälschlicherweise häufig synonym gebraucht und verwechselt. Während die meisten anderen Länder Geheimdienste unterhalten, hat die Bundesrepublik Deutschland tatsächlich keinen Geheimdienst.

Dass in der Vergangenheit unter Erfolgsdruck stehende Behörden im Einzelfall anders gehandelt haben, wie etwa im Skandal um die Sprengung einer Gefängnismauer durch den niedersächsischen Verfassungsschutz 1978, macht aus einem Nachrichtendienst noch keinen Geheimdienst. 1)Für einen Geheimdienst wäre das im Übrigen kein Skandal. Und der streng reglementierte Einsatz von Agents Provocateurs wird zwar häufig den Nachrichtendiensten zugeschrieben, kommt aber nicht vor. Das ist bei uns ein polizeiliches „Privileg“, das ausschließlich der Aufklärung von Straftaten dient.

Gibt es Länder ohne Nachrichtendienst?

Von Gegnern der Nachrichtendienste an sich wird gerne Costa Rica als leuchtendes Beispiel genannt. In der Tat spart sich das mittelamerikanische Land die Kosten sowohl für ein eigenes Militär als auch für einen Nachrichtendienst. Der Preis dafür ist allerdings nicht trivial: Es mag in guten Zeiten bequem sein, den inoffiziellen Status eines Vasallenstaates der USA zu haben. Man ist dann aber auf Gedeih und Verderb vom Großen Bruder, der einen beschützt, abhängig. Die US-amerikanische Armee und amerikanische Geheimdienste befinden sich in Costa Rica, um (so die offizielle Begründung) auf Kolumbien aufzupassen. Mit allen Konsequenzen – wie etwa der, dass US-amerikanische Soldaten Immunität genießen. Die Costa Ricaner müssen zudem darauf vertrauen, dass die US-amerikanischen Wähler stets eine ihnen wohlgesonnene Regierung wählen. Costa Rica hat also durchaus einen Nachrichtendienst, sogar einen Geheimdienst, allerdings keinen eigenen.

Gewiss hat Costa Rica durch diese Konstruktion Vorteile: Die Steuerersparnisse sind nicht von der Hand zu weisen. Die Nachteile liegen aber auch auf der Hand: Costa Rica ist auf das Wohlwollen der USA angewiesen. Das kommt einer massiven Einschränkung seiner Souveränität gleich. De facto gibt es also kein Land auf der Welt ohne Nachrichtendienst, oder wie es so schön heißt: 

  • Jedes Land hat einen Nachrichtendienst. Im Idealfall den eigenen. 

Hätte die Bundesrepublik keinen eigenen Nachrichtendienst, würde sie nicht nur sich selbst gefährden, sondern auch die umliegenden Staaten. Diese würden dann in Folge und rechtmäßig zu ihrem eigenen Schutz nachrichtendienstlich aktiv in Deutschland. Im Gegensatz zum eigenen Nachrichtendienst könnten diese aber von deutschen Parlamenten nicht kontrolliert werden.

Alternativen zum Verfassungsschutz?

Ein oft gehörter Vorschlag von Kritikern des Verfassungsschutzes betrifft eine Aufteilung der Aufgaben: 

  • Die Beobachtung des legalistischen Extremismus sollte ein wissenschaftliches Institut übernehmen; 
  • die Aufklärung konspirativer, gewaltbereiter Netzwerke und von Terrorismus sollte ganz allein Aufgabe der Polizei sein.

Während den meisten Bürgern die Notwendigkeit von Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung von Terrorismus einleuchtet, finden die Vorschläge, den legalistischen Extremismus von einem wissenschaftlichen Institut erforschen zu lassen, zunehmend Anklang. Man sollte neuen Vorschlägen nicht prinzipiell ablehnend gegenüber stehen, sondern sie genau abwägen:

  • Wissenschaftliche Institute, die sich mit Extremismus befassen, gibt es schon zur Genüge. 2)Drei Beispiele von vielen sind das Hannah-Arendt-Institut zur Totalitarismusforschung der Technischen Universität Dresden, das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Das scheint aber nicht zu genügen. Den Kritikern schwebt offenbar mehr vor als „nur“ Wissenschaft. Sie wollen wohl die Erkenntnisse der Wissenschaft mit staatlichen Sanktionen verbinden. Dann müsste man aber das Aufgabenfeld und die Freiheit der Wissenschaft wieder einschränken. Denn Wissenschaftler interessieren sich auch für Einstellungen und Weltbilder, und akademische Forschung zum Extremismus beginnt nicht erst bei „Bestrebungen“. Man würde sich also mit Sicherheit den Vorwurf der „Gesinnungsjustiz“ einhandeln – zu Recht. Dasselbe Problem ergibt sich bei grundsätzlich begrüßenswerten Kooperationen zwischen Verfassungsschutz und wissenschaftlichen Instituten. Die Freiheit der Wissenschaft fügt sich schwer in eine so eng gefasste gesetzliche Aufgabe wie die des Verfassungsschutzes.
  • Der Verfassungsschutz unterliegt beim Sammeln von Daten im Gegensatz zur Wissenschaft gesetzlichen Beschränkungen. Der Verfassungsschutz darf Daten nur in dem Umfang sammeln und speichern, wie es zu seiner Aufgabenerfüllung notwendig ist. Alles andere muss unverzüglich und unwiederbringlich gelöscht werden. Deshalb spiegelt die Datenbank des Verfassungsschutzes stets nur eine Momentaufnahme des Aufgabenbereichs. Sie ist eine „lebende“, sich stetig wandelnde Datei, kein „Archiv“ das den jederzeitigen Abruf des historischen Datenbestands ermöglicht. 
  • Wissenschaftliche Fragen könnten also nicht mit der gewohnten wissenschaftlichen Methodik beantwortet werden. Die Erwartungshaltung diesbezüglich muss also gedämpft werden. Auch thematisch müsste die Wissenschaft dann vieles ausklammern, wie etwa den sogenannten Populismus und andere Graubereiche, die nicht unter den Beobachtungsauftrag fallen, aber aus wissenschaftlicher Sicht für Analysen einbezogen werden.
  • Sobald eine staatliche Behörde – oder ein staatliches Institut – Daten von Bürgern speichert, ruft es den Datenschutz auf den Plan. Bisher müssen wissenschaftliche unabhängige Institute keine Löschvorgaben einhalten oder Dokumente vernichten. Sie haben die Möglichkeit zur Volltextrecherche und vielen anderen Aktivitäten, die der Verfassungsschutz aus Datenschutzgründen nicht unternehmen darf. Ein wissenschaftliches Institut, das entsprechende Aufgaben bekäme, unterläge aber natürlich den gesetzlichen Vorgaben und Beschränkungen.
  • Man müsste die Wissenschaft auf eine gesetzliche Grundlage stellen: Das würde eine Einschränkung der Wissenschaft bedeuten, und letztendlich wäre man wieder beim status quo des Verfassungsschutzes.
  • Extremismus und Terrorismus sind in der Tat auch Forschungsfelder der Wissenschaft. Zu Sicherheits-Themen gibt es zahlreiche gute wissenschaftliche Publikationen, z.B. zum Terrorismus, zur Geschichte der Mafia, etc. Dabei fällt aber sofort auf, dass die Wissenschaft sich mit der Vergangenheit befasst. Das hat Gründe. Wollte man der Wissenschaft den gleichen zeitlichen Vorsprung geben wie dem Verfassungsschutz, müsste man der Wissenschaft nachrichtendienstliche Mittel an die Hand geben. Auch hier wären wir wieder bei den damit verbundenen Problemen und rechtlichen Beschränkungen – und der Frage nach der nötigen Ausbildung.
  • Der Verfassungsschutz beschäftigt zunehmend wissenschaftliche Mitarbeiter. Es sollte den Kritikern zu denken geben, dass er sich dennoch nicht in ein wissenschaftliches Institut gewandelt hat und auch nicht so arbeiten kann.
  • Einzelne Arbeiten von wissenschaftlichen Instituten zu sicherheitsrelevanten Themenfeldern sind durchaus vorstellbar und auch erwünscht. Ein vollwertiger Ersatz des Nachrichtendienstes wäre ein wissenschaftliches Institut aber nicht.
  • Eine Ausgliederung der Stellen, die öffentlich zugängliche Quellen auswerten, um diese in ein „Institut zum Schutz der Verfassung“ umzuwandeln geht von falschen Vorstellungen bzw. unerfüllbaren Erwartungen aus. Denn gerade die Verzahnung von offenem mit verdeckt erworbenen Wissen verbessert die Bewertung und gibt dem Verfassungsschutz den notwendigen kurzen Zeitvorsprung, den ein wissenschaftliches Institut niemals haben kann. 
  • Und schließlich ist eine Hürde für die Wissenschaft im Nachrichtendienst auch bei der Personalauswahl zu berücksichtigen: Der (teilweise eitle) Drang nach wissenschaftlichen Meriten verträgt sich schlecht mit der anonymen Arbeit beim Verfassungsschutz. Die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes können sich sowohl über Kollegialität als auch gemeinsam über Projekte und verhinderte Anschläge freuen, dürfen aber in der Öffentlichkeit nicht darüber sprechen. Wissenschaftler beim Verfassungsschutz sollten also teamfähig und sozial sein. Das ist nicht etwas, worauf ein ausschließlich die individuelle Leistung honorierendes Studium vorbereitet.
  • Auch auf die vielfach durch Medien im Vergleich zu Verfassungsschutzbehörden als vorbildlich gepriesenen antifaschistischen Archive soll noch verwiesen werden. Tatsächlich sind sie weder an Löschfristen noch an den Datenschutz gebunden. So hatten nordrhein-westfälische Antifa-Gruppen in ihren Archiven noch 21 Jahre alte Belege, die den Täter, der die Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker mit einem Messer schwer verletzte, dem Umfeld der Bonner FAP zuordneten, schneller parat als der zuständige Verfassungsschutz.3)K: Mordanschlag auf OB-Kandidatin – Täter war früher in FAP. In: www.lotta-magazin.de Ein Glücksfall für Menschen, die sich wie ich mit Radikalisierungsbiographien befassen – aber der blanke Horror für Datenschützer. Allein deshalb könnten diese Archive den Verfassungsschutz nicht ersetzen; als staatliche Institution wären sie nämlich an den Datenschutz gebunden. Zudem vergisst man bei dem Vergleich sowohl die gesetzlichen Unterschiede – der Verfassungsschutz ist einfach nicht als Archiv konzipiert – als auch, dass die antifaschistischen Archive im Gegensatz zum Verfassungsschutz noch keinen einzigen Anschlag verhindern konnten.
  • Die Bearbeitung des Terrorismus allein durch die Polizei würde dagegen aufgrund des Legalitätsprinzips – die Verpflichtung der Polizei, jede Straftat zur Anzeige zu bringen – schnell an ihre Grenzen stoßen.4)Der Verfassungsschutz ist dagegen an das Opportunitätsprinzip gebunden, d.h. er darf nach sorgfältiger Abwägung, die Übermittlung geringerer Straftaten, z.B. Rauschgiftdelikte, an die Strafverfolgungsbehörden zurückhalten, wenn eine Strafverfolgung operative Maßnahmen zur Verhinderung von Terrorismus gefährden würde. Es sei denn, die Polizei bekäme nachrichtendienstliche Mittel an die Hand, womit man genau das hätte, was man mit dem Trennungsgebot verhindern wollte: Exekutivbefugnisse und nachrichtendienstliche Mittel in einer Hand. Daher dürfte die Existenz eines Verfassungsschutzes auch für Kritiker immer noch das „kleinere Übel“ bedeuten.

Das Fazit: Die Gründung eines wissenschaftlichen Instituts als Ersatz für den Verfassungsschutz in seiner derzeitigen Form hätte keinen Mehrwert.

Sinnvoll sind dagegen:

  • Kooperationen und der Austausch mit der Wissenschaft sind bereichernd, z.B. gemeinsame Studien oder Auftragsstudien, wie sie vereinzelt schon vorgenommen werden … sofern der Wissenschaft die gesetzlichen Beschränkungen bewusst sind und sie keine zu weitgehenden Erwartungen hegt.
  • Auch der Vorschlag zur Gründung eines Instituts zur Archivierung von  Ermittlungsakten, wie das von Cem Özdemir im September 2020 geforderte unabhängige NSU-Archiv, wäre ein sinnvoller Schritt. Denn den Sicherheitsbehörden fehlen die Kapazitäten und die Zeit für historische Aufarbeitung, und in den bestehenden Staatsarchiven werden die Akten derzeit nicht thematisch zusammengeführt. Geht damit die Zusicherung einher, die Sicherheitsbehörden damit nicht mehr zu behelligen – z.B. indem notwendige Schwärzungen bis zum Ende der Einstufung akzeptiert würden – so wäre das ein wirklich konstruktiver Vorschlag.

Der Vergleich mit anderen Ländern

Schaut man auf andere Länder, fallen die Vorteile der deutschen Sicherheitsarchitektur auf: Selbst die ärgsten Kritiker des Verfassungsschutzes möchten diesen nicht mit den viel intransparenter agierenden Sicherheitsbehörden anderer Länder tauschen. Erst recht nicht möchten sie echte Geheimdienste auf deutschem Boden sehen.

Etwas genauer: In den meisten Ländern agieren mehrere Organisationen mit ähnlichen Befugnissen und Aufgaben nebeneinander – das erschwert sowohl Kontrolle als auch Effizienz. Zudem ist das „Gestapo-Problem“ bekannt, d.h. eine Polizei mit nachrichtendienstlichen Befugnissen. Natürlich ist eine solche Behörde in einem demokratischen Staat nicht mit der „Gestapo“ des Dritten Reiches vergleichbar – aber im Vergleich zu unserer derzeitigen Sicherheitsarchitektur büßen diese Länder an Transparenz ein. 

  • So handelt es sich beim FBI beispielsweise um die Polizeibehörde eines demokratischen Staates, welche aber weit weniger transparent als deutsche Sicherheitsbehörden agiert. 
  • Das kleine Land Belgien teilt die Terrorismusbekämpfung auf sechs teilweise in Konkurrenz zueinander stehende Behörden auf, womit deutliche Informationsverluste einhergehen. 
  • Frankreich kennt neben der Police Nationale auch die Militärpolizei Gendarmerie. Daneben agieren mehrere Nachrichten- und Geheimdienste, jeweils zentral gesteuert. Ihre Kompetenzen überschneiden sich, und so wird auch hier in einigen Bereichen sicher doppelt gearbeitet – wenn nicht sogar gegeneinander.

Mein Fazit: Natürlich würde ich auch lieber in einer Welt ohne Kriege und ohne Verbrechen leben. Aber die gibt es nun mal. Nachdem sich derzeit keine denkbare Alternative zum Verfassungsschutz auftut, sollten wir uns an den Gedanken gewöhnen, weiterhin einen Inlandsnachrichtendienst zu haben: Es ist die am wenigsten schlechte Möglichkeit, um die innere Sicherheit gemeinsam mit den Strafverfolgungsbehörden zu gewährleisten.

Judith Faessler, 27. Februar 2021

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References   [ + ]

1. Für einen Geheimdienst wäre das im Übrigen kein Skandal.
2. Drei Beispiele von vielen sind das Hannah-Arendt-Institut zur Totalitarismusforschung der Technischen Universität Dresden, das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt.
3. K: Mordanschlag auf OB-Kandidatin – Täter war früher in FAP. In: www.lotta-magazin.de
4. Der Verfassungsschutz ist dagegen an das Opportunitätsprinzip gebunden, d.h. er darf nach sorgfältiger Abwägung, die Übermittlung geringerer Straftaten, z.B. Rauschgiftdelikte, an die Strafverfolgungsbehörden zurückhalten, wenn eine Strafverfolgung operative Maßnahmen zur Verhinderung von Terrorismus gefährden würde.

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