Rechtspopulismus verstehen: Die Selbstschwächung des Staates (Teil 3)

In Teil 1 und 2 habe ich das rechtspopulistische Ideen-Konglomerat skizziert und seinen ideologischen Kern als eindeutig kommunitaristisch bestimmt. Nun geht es um die Frage, wie der Rechtspopulismus so zügig in so vielen Staaten eine so zahlreiche und breit gefächerte Anhängerschaft finden konnte. Dessen Bestandteile wie Nationalismus, Rassismus oder Autoritätsgläubigkeit hat es ja immer gegeben und es wird sie immer geben – aber warum hat die Zahl der Anhänger in relativ kurzer Zeit so stark zugenommen? 

Meine Antwort hat zwei Teile: In Teil 3 entwickle ich meine These, die politische Kultur unseres Wohlfahrtsstaates habe dem Rechtspopulismus konsequent den Weg geebnet und zeige dann in Teil 4, wie dadurch die rechtspopulistische Mentalität gefördert und stabilisiert wird. 

Etwas genauer: Es ist nicht der Liberalismus, der in der Krise steckt. Es sind auch nicht die anderen allseitig beliebten Sündenböcke wie Marktwirtschaft, Globalisierung oder Individualismus. Es ist vielmehr der Wohlfahrtsstaat, der an seine Grenzen geraten ist, diese überschritten hat und jetzt deutlich erodiert. Anders ausgedrückt: Der Wohlfahrtsstaat hat dem Rechtspopulismus konsequent Geburtshilfe geleistet und tut weiterhin sehr viel, um ihn hochzupäppeln und zu stärken. Gleichzeitig wird versucht, das ganze Schlamassel dem Liberalismus in die Schuhe zu schieben – unglücklicherweise mit einem gewissen Erfolg … den sich wiederum der Rechtspopulismus zu Nutzen macht. 

Meine Kernthesen zur politischen Kultur (Teil 3)

  • Die Staaten „des Westens“ haben sich bzw. ihre liberale Grundidee selbst geschwächt, indem sie über Jahrzehnte hinweg immer mehr kommunitaristische Konzepte als politische Ideale propagiert haben – und dies sogar zunehmend verstärken. Wer ständig von Dingen wie einer Solidar- oder Verantwortungsgemeinschaft, dem Gemeinwohl bzw. größerer Enteignungen in dessen Namen, einem Generationenvertrag, einer nationalen Leitkultur, oder dem verfassungsmäßigen Schutz der (christlichen) Ehe redet, braucht sich nicht zu wundern, wenn liberale Individualrechte langsam aber sicher in Misskredit geraten. Das Resultat: Wir entfernen uns seit langem schon Schritt für kleinen Schritt von einer liberalen politischen Kultur und bereiten damit unabsichtlich (?) aber konsequent dem Populismus von Rechts und Links das politisch-ideologische Feld. Wenn es primär darum geht, welche Art von Gemeinschaft der Staat sein soll und wie genau sich der Einzelne einzubringen, einzufügen und unterzuordnen hat, dann haben die Kommunitaristen – ob linke oder rechte – gewonnen.1)Im Mittelpunkt meiner Betrachtungen steht nicht der Linkspopulismus, wie er bei uns aktuell von der Linken und Teilen der SPD und der Grünen vertreten wird. Meine Analyse lässt sich aber leicht übertragen.
  • Es blieb und bleibt aber nicht bei Rhetorik und bloßem Propagieren. Vater Staat mischt sich tatsächlich immer intensiver in unser Leben ein, übernimmt immer mehr Zuständigkeiten von den Bürgern, zieht immer mehr Entscheidungen an sich. Damit aber verzettelt er sich zunehmends, macht zwar viel aber nur noch wenig gut und kann mittlerweile sogar seine eigentlichen Kernaufgaben nicht mehr angemessen erfüllen. Ich meine damit natürlich die Garantie der äußeren und inneren Sicherheit, sowie cum grano salis der sozialen Absicherung im Notfall und eines angemessenen Bildungssystems. Dazu gehört auch: Die Bürger werden immer intensiver in ihrer Lebensgestaltung gegängelt, eingeengt und bevormundet – und dadurch entmündigt. Der Rechtspopulismus beutet diese Selbstschwächung durch Verzettelung aus – mit Hilfe der Erzählung vom Staatsversagen, einer Opfersaga und dem Angebot, ein besserer Vater zu sein.

Meine Kernthesen zur politischen Mentalität (Teil 4)

  • Bei vielen Bürgern entsteht durch diese Verzettelung zunehmend der Eindruck, der Staat wolle oder könne seine Kernaufgaben nicht mehr erfüllen, Versprechen nicht halten, man würde im Stich und alleine gelassen, die eigenen Anspruchsrechte würden von der Politik ignoriert. Das wiederum führt zu politischer Enttäuschung, Frust und oft genug Wut. Die verführerische Antwort des Rechtspopulismus auf diese Gemengelage: Ihr habt völlig Recht – wir kümmern uns um Euch … aber natürlich nur um die, die zu uns gehören … für alle reicht es ja nicht.
  • Die Folgen dieser Entwicklungen sind deutlich wahrzunehmen: Wir bzw. sehr viele Staaten „des Westens“ sind mittlerweile gefährlich weit von einem wirklich belastbaren gesellschaftlichen Konsens zum Konzept der Gerechtigkeit entfernt – genau dieser hält liberale und offene Gesellschaften aber zusammen. Der Rechtspopulismus reagiert auf diese zunehmende politische Orientierungslosigkeit und normative Fragmentierung mit seinen kommunitaristischen Thesen von gesellschaftlicher Einheit und Stärke: So kann das nicht weitergehen – bei uns ziehen alle an einem Strang … und wer nicht mag, dem werden wir schon helfen.

So viel zu meinen Kernthesen. Nun gilt es, diese genauer zu formulieren, zu erläutern und zu begründen. Eines vorweg: Mir geht es hier in erster Linie um eine Bestandsaufnahme wichtiger Aspekte der politischen Kultur und Mentalität. Eine tiefergehende Erklärung und Beurteilung der skizzierten Entwicklungen muss aus Platzgründen an anderer Stelle erfolgen.

Unsere politische Argumentationskultur wird immer kommunitaristischer

Unsere Verfassung orientiert sich im Grunde am Liberalismus.2)Ich entwickle meine Überlegungen am konkreten Beispiel Deutschlands; sie sind leicht auf andere Staaten zu übertragen, in denen der Rechtspopulismus gerade blüht. Nicht in Reinkultur, aber sehr klar in der grundsätzlichen Ausrichtung. Weder das sogenannte Sozialstaatsgebot noch die Idee, dass Eigentum verpflichte, waren ursprünglich als kommunitaristische Hebel gegen Individualrechte gedacht.3)Karl-Heinz Seifert und Dieter Hömig: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar. Baden-Baden, 2003, 7. Aufl. Gerade nach den Erfahrungen der Weimarer Republik und dem Dritten Reich wurde der liberale Individualismus, also die Idee der Menschenwürde, die Überzeugung der Vorfahrt der Person vor dem Staat, der Nation oder der „Volksgemeinschaft“ in den normativen Mittelpunkt gestellt. Natürlich gelang die Umsetzung nicht in Perfektion – aber das dürfte für jede Verfassung gelten, die immer auch den Charakter einer Leitidee oder Vision hat.4)Speziell das Christentum hat sich in Form seiner Parteien CDU und CSU mit aller Macht gegen diverse Liberalisierungen gewehrt und tut das in einigen Punkten noch immer. Seine Kirchen haben sich erst sehr spät und sehr widerwillig mit der BRD und deren Grundgesetz arrangiert. In Nachbarländern wie Polen oder Ungarn wird diese christliche Feindschaft gegen den Liberalismus offen gelebt.

Den Weg von einer möglichen liberalen Entwicklung weg und hin zum Wohlfahrtsstaat hat die BRD dann vor etwa 50 Jahren mit den Regierungen Brandt und Schmidt angetreten.5)Abzulesen ist das in einem Blick an der sprunghaft und rapide steigenden Staatsverschuldung. Gerhard A. Ritter: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. München, 2010, 3. Aufl. Seither, massiv verstärkt und verschärft durch die Zäsur der sogenannten Wiedervereinigung 1989, wird die öffentliche Debatte zunehmend von kommunitaristischen Argumenten und Konzepten sowie einer Verschwörungstheorie zum Neo-Liberalismus bestimmt. Was heißt das? 

Wesentliche liberale Rechte wie das auf freie Lebensgestaltung oder Eigentum werden immer mehr und immer aggressiver durch kommunitaristische Argumente ausgehöhlt, beschnitten und konsequent in Frage gestellt. Beispiele gibt es in Hülle und Fülle: 

  • Der Appell an die Solidargemeinschaft oder einen fiktiven Generationenvertrag soll den Wunsch als egoistisch oder anrüchig erscheinen lassen, seine Absicherung für Alter oder Krankheit in eigene Hände zu nehmen – worauf ich selbstverständlich ein liberales Recht habe bzw. haben sollte. Schließlich geht es dabei um ganz wesentliche Aspekte meiner Lebensgestaltung!6)https://blog.projekt-philosophie.de/argumente-check/begriffsnebel/ Die politische Botschaft ist allerdings klar: Die Gemeinschaft geht vor. Zwang gegenüber dem Individualisten, der gerne auf eigenen Beinen stehen möchte, ist  im Namen der Allgemeinheit legitim. Darüber hinaus weiß Vater Staat natürlich am besten, was gut für „seine“ Bürger ist und sorgt dafür, dass keiner aus der „Familie“ ausschert und jeder sich um alle kümmert. Das ist natürlich die Prämisse, auf der die aktuelle Forderung beruht, auch Selbständige bzw. bisher privat Versicherte sollten in die staatlichen Systeme zwangsintegriert werden.
  • In diese Kategorie kommunitaristischer Konzepte gehört auch die nationalistische Variante, der sogenannte Solidaritätsbeitrag. Damit sollte die nationale Verbundenheit zwischen Ost und West ausgedrückt und gefestigt werden; es sollte die „arme Verwandtschaft“ im Osten unterstützt und integriert werden.7)Als Niederbayer habe ich nie verstanden, woher meine angebliche nationale Verbundenheit mit den Menschen in Mecklenburg-Vorpommern kommen und warum dieses Band sogar stärker sein soll als das mit den Oberösterreichern oder Tirolern. Komischerweise blühen im Osten nach immerhin 30 Jahren gigantischer nationaler Umverteilung und Solidarität nicht die Landschaften, sondern der Rechts- und Linkspopulismus.
  • Die so verbreitete wie heillos unklare und verschwurbelte Idee einer deutschen Leitkultur soll suggerieren, dass es da über die Verfassung hinaus etwas gibt, das unsere Gemeinschaft definiert und zusammenhält – und gegen das man verstoßen kann, obwohl man sich an die liberalen Normen der Verfassung und unsere Gesetze hält. Speziell die hirnfreie Behauptung, diese Leitkultur würde durch christliche Werte bestimmt ist bestens dazu geeignet, ein Wir gegen die Anderen aufzubauen.8)Andreas Edmüller: Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist. Marburg, 2015. Die mit diesem Konzept der Leitkultur verknüpfte Botschaft ist fatal und spielt direkt den Rechtspopulisten in die Hände: Die liberale Verfassung sei als normative Basis defizitär und müsse durch stark gemeinschaftsorientierte Elemente ergänzt werden. Speziell die Herren Gauland und Höcke sowie rechtsradikale Gruppierungen wie die Identitären freuen sich natürlich über derartige Steilvorlagen.
  • Es lässt sich immer wieder feststellen, dass Ansprüche von Gruppen oder Gemeinschaften in ihrer Wertigkeit mit einer gewissen Selbstverständlichkeit über die eigentlich von der Verfassung garantierten Individualrechte gestellt werden. Prominentes und noch ziemlich aktuelles Beispiel ist die Debatte um die religiös motivierte Beschneidung. Hier wird irreversible Körperverletzung an besonders schwachen und schutzwürdigen Bürgern, nämlich Kleinkindern, durch den Staat (!) legitimiert – auf Basis einer rein kommunitaristisch-esoterischen Pseudo-Argumentation: Religiöse Riten und Traditionen einer Religionsgemeinschaft haben offensichtlich Vorfahrt gegenüber dem zentralen Individualrecht auf körperliche Unversehrtheit! Ich kann und möchte diese Diskussion hier nicht aufnehmen – aber als Denkanstoß eine Frage an den Leser: Wie würden Sie reagieren, wenn plötzlich eine Sekte oder Religionsgemeinschaft damit anfängt, „auf Geheiß Gottes“ Neugeborenen das linke Ohrläppchen oder den rechten kleinen Zeh zu amputieren? 
  • Die gesamte Debatte zum von vielen Seiten erwünschten weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates in alle möglichen Richtungen ist ohne kommunitaristische Kernüberzeugungen gar nicht zu verstehen. Der Sozialstaat war ursprünglich als Überbrückungshilfe oder letzte Absicherung für den Notfall gedacht. Im Laufe der Jahre hat er sich zum umfassenden Wohlfahrtsstaat entwickelt, der grundsätzlich die Gemeinschaft in die Pflicht setzt, auch jenseits einer Notlage für jedes ihrer Mitglieder und deren Wohlergehen zu sorgen. Damit aber werden die Bürger sehr umfassend „in die Pflicht genommen“ – ob sie wollen oder nicht. Das Ergebnis: Das vermeintliche Gemeinwohl hat sehr oft und sehr weitgehend argumentative Vorfahrt vor Individualrechten. Ohne massive Eingriffe in die liberalen Rechte auf Eigentum, Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit ist das natürlich nicht denkbar: Pflichten gegenüber der Gemeinschaft stechen liberale Schutzrechte einfach aus. Aktuelles und trauriges Beispiel ist die Forderung des Juso-Dampfplauderers Kevin Kühnert und weiter Teile der Linken und der Grünen nach Enteignung von Immobilienfirmen. Auch die unsägliche Debatte zur Organspende zeigt und krönt diese Tendenz in aller Deutlichkeit: Grundsätzlich haben offenbar meine Mitbürger aus Sicht vieler Politiker und Kommentatoren einen Anspruch auf meine Organe; ich muss jetzt aktiv einer Entnahme widersprechen, um diesen abzuwehren. Was ist der nächste Schritt dieser Entwicklung?9)Das Eigentumsrecht an meinem Fahrrad wird demnach konsequenter geschützt – übrigens auch nach meinem Ableben – als das an meinen Organen. 

Mein Fazit: Kommunitaristische Argumente dominieren aktuell in zahlreichen „linken“ und „rechten“ Variationen unsere politischen und gesellschaftlichen Diskussionen. Dadurch werden liberale Argumente, also der Appell an Individualrechte, Eigenständigkeit und Eigenverantwortung, immer weiter abgewertet, oft sogar als moralisch fragwürdig diskreditiert. Aber genau diese Individualrechte bilden den Kern des Konzepts der Menschenwürde und somit unserer Verfassung!10)https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/sozialstaat-und-menschenwuerde-teil-1-2/ Dieses Hindernis möchte der Rechtspopulismus natürlich beseitigen – wir zeigen dabei eine enorme Hilfsbereitschaft.

Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat, Universalstaat … Freiheit und Selbstbestimmung werden immer weiter ausgehöhlt und abgebaut 

Leider bleibt es nicht bei einer stark kommunitaristisch geprägten Diskussionskultur – es wird seit langem auch entsprechend gehandelt. Die Folge: Zunehmende Einschränkungen der eigentlich durch die Verfassung geschützten Freiräume der Bürger, zunehmende Verzettelung des Staates, immer schlechtere Erfüllung seiner eigentlichen Kernaufgaben. Was meine ich damit?

Bisher habe ich um der Verständlichkeit willen von einem Sozial- oder Wohlfahrtsstaat BRD gesprochen. Das stimmt so nicht. Es ist schlimmer.

Leben wir in einem Sozialstaat? Nein – wenn man darunter einen Staat versteht, der die Bürger gegen die schlimmsten Notlagen absichert und ein gutes und kostenloses Bildungssystem für alle anbietet. Unser Staat verspricht und macht viel mehr. 

Leben wir in einem Wohlfahrtsstaat? Erneut ein klares Nein – wenn man darunter einen Staat versteht, der über die sozialstaatlichen Aufgaben hinaus dafür sorgt, dass Bürger umfangreiche materielle Unterstützungen auch in Lebenslagen erhalten, die im Grunde frei von Not sind. Die Beispiele sind bekannt: Eigenheimzulage oder Baukindergeld, gleiches Kindergeld für alle, Mindestlohn, Förderung diverser Anlagevarianten, Subvention des Nahverkehrs, Elterngeld und Elternzeit, Umschulungsmaßnahmen … Unser Staat verspricht und macht viel mehr.

Vater Staat kümmert sich tatsächlich noch um viele viele andere Dinge: Er fördert Kirchen und Religionsgemeinschaften, unterhält Theater und Opernhäuser, subventioniert Unternehmen in Schieflage oder auch einfach deshalb, weil der internationale Wettbewerb so unbequem ist, garantiert den Landwirten sichere Einkommen, auch wenn deren Produkte am Markt nicht nachgefragt werden, schützt bestimmte Berufsgruppen vor lästiger Konkurrenz, greift angesichts schwer belehrbarer Bürger zu erzieherischen Maßnahmen wie einem Vegetariertag oder Flugverboten (zumindest in der Phantasie bekannter Grünpopulisten). Ach ja: Er übernimmt auch unternehmerische Verantwortung für Vorzeigeunternehmen wie die Bahn und steuert mit gewohnter Präzision, Effizienz und Effektivität die Energiewende.

Aber selbst damit ist noch nicht genug. Wesentlich schlimmer und selbstzerstörerischer als diese für uns Bürger immens teuren Gschaftlhubereien und Stümpereien ist die oft mehr als fragwürdige Einstellung unserer Politik zum staatlichen Gewaltmonopol. Nicht die „offizielle“, sondern die gelebte. Verantwortliche Politiker drücken immer wieder beide Augen zu, wenn rechtsfreie Räume entstehen oder das staatliche Gewaltmonopol angegriffen wird: Hauptsache, das kommt von den gesinnungstechnisch betrachtet „richtigen“ Leuten.11)Ich habe dieses Phänomen ausführlich kommentiert in https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/hamburg-und-die-waehler/ Einschlägige Beispiele sind uns allen gut bekannt: 

  • Das tiefe Verständnis von weiten Teilen der SPD, der Grünen und natürlich der SED-Nachfolgepartei für „linke“ Gewalt drückt sich seit langem im Umgang mit rechtsfreien Zonen wie der Roten Flora in Hamburg, der Riegaer Straße in Berlin und gewaltbereiten Linksextremen wie z.B. der sogenannten AntiFa aus. In diesen Zusammenhängen werden der Rechtsstaat und sein Gewaltmonopol seit Jahren bewusst und gezielt suspendiert.12)https://de.wikipedia.org/wiki/Rigaer_94; https://de.wikipedia.org/wiki/Rote_Flora
  • Ähnlich zurückhaltend-verständnisvoll geht die CDU in Sachsen traditionell mit der dort seit Jahrzehnten blühenden und gedeihenden völkisch-rechtsradikalen Szene und deren Gewalttaten um: Verharmlosen, Ignorieren, Herunterspielen. 13)Sachsen: Hochburg des Rechtsextremismus. Faktenfinder.tagesschau.de vom 28.8.2018
  • Ein bisher meines Erachtens kaum beleuchteter Aspekt des Missbrauchsskandals der christlichen Kirchen ist die offensichtliche, jahrzehntelange und flächendeckende Passivität staatlicher Organe wie Polizei, Jugendämter und Staatsanwaltschaft. Auch die Politik hat konsequent geschwiegen, die Täter gedeckt und den Kindern nicht geholfen. Oft genug haben sich Opfer und deren Familien an staatliche Stellen gewandt – passiert ist wenig bis nichts. Man hat mitgeschwiegen und mitvertuscht. Das ist einfach nur zutiefst verwerflich. Und widerlich. Auch heute noch wird da von einer Zusammenarbeit mit kirchlichen Stellen bei der Aufklärung phantasiert und höflich um Akteneinsicht gebeten. Traurige Tatsache in der BRD des Jahres 2019: Niemand geht den Verantwortlichen ernsthaft an die Wäsche – weil niemand wirklich will! Man kann diesen Ansatz ja auch einmal bei der Bekämpfung der Clan-Kriminalität versuchen: Lieber Clan-Chef, wir bitten Sie freundlich um Zusendung aller Geschäftsunterlagen und Belege und hoffen, das macht nicht zu viele Umstände … Mit besten Grüßen, Ihre Staatsanwaltschaft.

Mein Fazit: Wir leben nach Jahrzehnten kommunitaristisch motivierten Staatshandelns in einem umfassend zuständigen und in Teilen moralisch fragwürdigen Universalstaat. Die real existierende Bundesrepublik ist ein unkonturiertes Mischmasch aus Sozial-, Wohlfahrts- und Protektionsstaat, aus Erziehungsanstalt und Gouvernante, aus Religionswächter und Komplize beim Aushebeln der Verfassung und des Gewaltmonopols. Irgendwo dazwischen spielen auch noch die liberalen Individualrechte eine gewisse Rolle – wenn sie nicht zu sehr stören und man sie gerade brauchen kann.

Das Resultat: Verzettelung und Selbstschwächung

Die Problematik dieser Entwicklung liegt aus liberaler Perspektive auf der Hand und ist seit längerem offensichtlich: Der Staat verzettelt sich heillos in einer unübersichtlichen und stetig wachsenden Fülle von Aufgaben und Interventionen, verfügt sehr oft gar nicht über Expertise und Fähigkeiten, um die erwünschten Ergebnisse zu erzielen und überdehnt seine finanziellen Mittel immer mehr. 

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht mir nicht in erster Linie um Politikerschelte, denn der Motor dieser Entwicklung ist schlicht und einfach der über Jahrzehnte hinweg in der Wahlkabine artikulierte sogenannte Wählerwille.14)Zur Problematik des Spannungsverhältnisses von Demokratie und hoffnungslos uninformierten und systematisch irrationalen Wählern gibt es exzellente Fachliteratur: Bryan Caplan: The Myth of the Rational Voter: Why Democracies Choose Bad Policies. Princeton, 2007. Jason Brennan: Against Democracy. Princeton, 2016. Sehr klar wird diese Problematik bei einem nüchternen Blick auf die eigentlichen Kernaufgaben des liberalen Verfassungsstaates: 

  • Die Bundeswehr kann nach Meinung aller Fachleute im Ernstfall keine ernsthafte Verteidigungsleistung mehr erbringen. Die Gewehre schießen nicht, die Flugzeuge fliegen nicht, die U-Boote tauchen nicht und die Panzer fahren nicht. Eine sinnvolle Strategie als Planungsgrundlage ist auch nicht vorhanden. Für Auslandseinsätze stellen suboptimale Ausstattung und Ausrüstung ein Risiko für Leben und Gesundheit der Soldaten dar. Egal, wie man zu diesen Einsätzen steht: Wer Soldaten nach Mali oder Afghanistan schickt, muss sie bestmöglich ausbilden und ausrüsten. Wer das nicht tut, hat politisch und moralisch versagt.15)Ich frage mich schon seit einiger Zeit, wie die Bundeswehr es überhaupt schaffen kann, mit einem Etat von ca. 45 Milliarden Euro dermaßen harmlos und ungefährlich zu sein.
  • Unsere Justiz ist auf vielen Ebenen sehr stark überlastet, in Teilen bereits überfordert und zahnlos. Der Rechtsstaat funktioniert in weiten Teilen der Judikative einfach nicht mehr richtig. Damit aber erodiert eine der zentralen Säulen unserer Gesellschaftsordnung.
  • Polizei und Sicherheitsbehörden können weder bei Prävention noch bei Strafverfolgung die immer größer werdenden Lücken schließen.
  • Nehmen wir das Bildungssystem zur Abrundung dazu: Auch hier zeigt sich eine systematische Planlosigkeit und Konzeptionslosigkeit auf so ziemlich allen Ebenen. Leidtragende sind unsere Kinder und Jugendlichen.

Mein Fazit: Das Selbstverständnis des Universalstaates führt zu einer in Teilen grotesken Verzettelung in alle möglichen Aktivitäten und zu einer zunehmenden Vernachlässigung der eigentlichen Kernaufgaben. Damit schwächt der Universalstaat sich selbst.16)Diese Entwicklungen sind alle schon sehr lange vor 2015 in Gang gesetzt worden und haben wenig bis nichts mit der sogenannten Flüchtlingskrise zu tun. Die in der Konzeption völlig naive und der Durchführung offensichtlich missglückte sogenannte Wiedervereinigung hat diese ganzen Fehlentwicklungen viel stärker und nachhaltiger beeinflusst, beschleunigt und verstärkt. Darüber mögen aber weder die linken noch die rechten Kommunitaristen reden. Warum wohl nicht?

Die Verschwörungstheorie vom brutalen Neoliberalismus

In Kombination mit dieser zunehmenden Beliebtheit und Umsetzung eines kommunitaristischen Staats- und Gesellschaftsmodells wird seit vielen Jahren das Märchen vom aggressiven Neo-Liberalismus erzählt, der an allen möglichen Missständen Schuld sei: Vom Personal- und Geldmangel im staatlichen Gesundheits- und Bildungssystem, vom Mangel an Wohnungen auf dem sehr stark staatlich strukturierten und regulierten Wohnungsmarkt, vom Personalmangel in der staatlichen Justiz und Polizei, bis hin zu dem völlig überraschendem Phänomen, dass unser Rentensystem die Medianrente konsequent dem Sozialhilfesatz annähert.17)Liberale Kritiker haben das schon immer vorausgesagt – die wissen nämlich, dass Schneeballsysteme auf Dauer nicht funktionieren und dass die Gesetze der Arithmetik auch dann gelten, wenn eine Parlamentsmehrheit sie gerne außer Kraft setzen möchte. Siehe dazu die oben erwähnte Literatur zu uninformierten und systematisch irrationalen Wählern. Dass bestimmte Konzerne in bestimmten Ländern keine Steuern zahlen … daran ist selbstverständlich auch die neoliberale Weltverschwörung Schuld. Komischerweise empört darüber sind gerade die Wähler, die jene Politiker gewählt haben, von denen entsprechenden Gesetze beschlossen wurden, damit die Arbeitsplätze der Wähler gesichert werden. Und der Papst sagt auch, dass das Böse in der Welt sehr viel mit dem allgegenwärtigen Liberalismus zu tun habe.18)Kurz und unterhaltsam: http://www.kathpedia.com/index.php?title=Liberalismus Also: Feind erkannt!

Da sind sich aktuell sehr viele einig: Dunkle und ausgesprochen raffinierte, mächtige und hinterhältige neoliberale Kräfte üben auf nationaler und internationaler Bühne vielfältigen Druck aus, um … ja, um was eigentlich zu erreichen? Die Antwort des Katholizismus, Satan würde hinter all dem stecken, um die Welt (Gottes Allmacht und Allgüte verhöhnend) zu verderben, zählt da noch zu den plausibelsten.

Zum Abschluss dieses eh schon sehr langen Teils lade ich den Leser ein, diese Verschwörungstheorie anhand der folgenden Aspekte zu prüfen:

  • Wie eben ausgeführt, hat Deutschland sich während der letzten 50 Jahre zu einem der umfassendsten Universalstaaten dieser Welt entwickelt – also gerade in die Gegenrichtung zum Liberalismus. Warum also trägt der Liberalismus die Verantwortung für die aktuellen Missstände und Probleme?
  • Das gleiche gilt für die allermeisten Staaten „des Westens“ – die Sozialausgaben und damit die Schuldenberge und Steuerlasten wachsen stetig. Der prägnanteste und schärfste Kritiker dieser Entwicklung ist der Liberalismus.
  • Dass dabei Sparzwänge entstehen, bringt diese Ausweitung und Verzettelung natürlich mit sich: Niemand hat unbegrenzte Mittel zur Verfügung. Das hat mit liberaler Bosheit nichts zu tun, sondern mit den Grundrechenarten. Wer nicht genug hat, um sich alle Wünsche zu erfüllen, muss sparen – ganz unabhängig davon, ob er Sozialist oder Liberaler ist.
  • Ganz akut trifft die allermeisten Bürger aktuell die Nullzinspolitik der westlichen Notenbanken: Sie werden dadurch schleichend enteignet und spüren das auch. Dadurch werden aber genau die zum Teil hoffnungslos überschuldeten und ineffizienten Universalstaaten am Leben erhalten, die Ausfluss des kommunitaristischen Wählerwillens sind. Raten Sie mal, wer dieses untrennbar mit den Wohlfahrtsmodellen verwobene Banken- und Finanzsystem am schärfsten kritisiert und realistische Gegenmodelle anbietet …
  • Das bringt uns zur aktuellen „Weltordnung“: Diverse allgemein beklagte und kritisierte „Liberalisierungen“ des Welthandels, die eh gerade wieder zurückgeschraubt werden, sind bei genauer Betrachtung lediglich Abmilderungen von Schutzzöllen und Subventionen. Richtige Freihandelsabkommen im liberalen Sinne gibt es keine. Trump und seine rechtspopulistischen Kumpane sind alle dafür, diese Schutzzölle und Subventionen auszubauen und tun das aktuell auch. Die Kritik daran kommt natürlich von liberaler Seite – dort weiß man nämlich, dass Abschottung und Protektionismus in erster Linie den Durchschnittsverdienern und Normalbürgern schaden.19)Adam Smith hat uns das schon 1776 erklärt: Lesen bildet! Viele von denen bejubeln Trump allerdings. Neoliberale Verschwörung?

Mein Fazit: Weit und breit gibt es keine liberalen Strukturen und Staaten. Was wir haben, ist das Resultat jahrzehntelanger anti-liberaler Politik. Wo bitte ist da Platz für den Sündenbock Neoliberalismus?

Zum Schluss noch eine Bitte in eigener Sache

Falls Ihnen unser Blog gefällt – bitte empfehlen Sie uns in den sozialen Medien weiter.

 

PD Dr. Andreas Edmüller, 21. September 2019

References   [ + ]

1. Im Mittelpunkt meiner Betrachtungen steht nicht der Linkspopulismus, wie er bei uns aktuell von der Linken und Teilen der SPD und der Grünen vertreten wird. Meine Analyse lässt sich aber leicht übertragen.
2. Ich entwickle meine Überlegungen am konkreten Beispiel Deutschlands; sie sind leicht auf andere Staaten zu übertragen, in denen der Rechtspopulismus gerade blüht.
3. Karl-Heinz Seifert und Dieter Hömig: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar. Baden-Baden, 2003, 7. Aufl.
4. Speziell das Christentum hat sich in Form seiner Parteien CDU und CSU mit aller Macht gegen diverse Liberalisierungen gewehrt und tut das in einigen Punkten noch immer. Seine Kirchen haben sich erst sehr spät und sehr widerwillig mit der BRD und deren Grundgesetz arrangiert. In Nachbarländern wie Polen oder Ungarn wird diese christliche Feindschaft gegen den Liberalismus offen gelebt.
5. Abzulesen ist das in einem Blick an der sprunghaft und rapide steigenden Staatsverschuldung. Gerhard A. Ritter: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. München, 2010, 3. Aufl.
6. https://blog.projekt-philosophie.de/argumente-check/begriffsnebel/
7. Als Niederbayer habe ich nie verstanden, woher meine angebliche nationale Verbundenheit mit den Menschen in Mecklenburg-Vorpommern kommen und warum dieses Band sogar stärker sein soll als das mit den Oberösterreichern oder Tirolern.
8. Andreas Edmüller: Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist. Marburg, 2015.
9. Das Eigentumsrecht an meinem Fahrrad wird demnach konsequenter geschützt – übrigens auch nach meinem Ableben – als das an meinen Organen.
10. https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/sozialstaat-und-menschenwuerde-teil-1-2/
11. Ich habe dieses Phänomen ausführlich kommentiert in https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/hamburg-und-die-waehler/
12. https://de.wikipedia.org/wiki/Rigaer_94; https://de.wikipedia.org/wiki/Rote_Flora
13. Sachsen: Hochburg des Rechtsextremismus. Faktenfinder.tagesschau.de vom 28.8.2018
14. Zur Problematik des Spannungsverhältnisses von Demokratie und hoffnungslos uninformierten und systematisch irrationalen Wählern gibt es exzellente Fachliteratur: Bryan Caplan: The Myth of the Rational Voter: Why Democracies Choose Bad Policies. Princeton, 2007. Jason Brennan: Against Democracy. Princeton, 2016.
15. Ich frage mich schon seit einiger Zeit, wie die Bundeswehr es überhaupt schaffen kann, mit einem Etat von ca. 45 Milliarden Euro dermaßen harmlos und ungefährlich zu sein.
16. Diese Entwicklungen sind alle schon sehr lange vor 2015 in Gang gesetzt worden und haben wenig bis nichts mit der sogenannten Flüchtlingskrise zu tun. Die in der Konzeption völlig naive und der Durchführung offensichtlich missglückte sogenannte Wiedervereinigung hat diese ganzen Fehlentwicklungen viel stärker und nachhaltiger beeinflusst, beschleunigt und verstärkt. Darüber mögen aber weder die linken noch die rechten Kommunitaristen reden. Warum wohl nicht?
17. Liberale Kritiker haben das schon immer vorausgesagt – die wissen nämlich, dass Schneeballsysteme auf Dauer nicht funktionieren und dass die Gesetze der Arithmetik auch dann gelten, wenn eine Parlamentsmehrheit sie gerne außer Kraft setzen möchte. Siehe dazu die oben erwähnte Literatur zu uninformierten und systematisch irrationalen Wählern.
18. Kurz und unterhaltsam: http://www.kathpedia.com/index.php?title=Liberalismus
19. Adam Smith hat uns das schon 1776 erklärt: Lesen bildet!

About

View all posts by