Teil 12: Der neutrale Staat

Während ich eigentlich schon den Schluss dieser Verfassungsschutz-Reihe schreiben wollte, überboten sich Forderungen von allen Seiten nach staatlichen Maßnahmen gegen diverse Verschwörungstheoretiker, die bundesweiten Querdenker, Corona-Leugner usw. Bundesfamilienministerin Giffey forderte z.B. klar und unmissverständlich eine Beobachtung der Querdenker: 

  • Angesichts der vielen Todesfälle habe sie kein Verständnis für Corona-Demonstranten.1)Alexander Eydlin: Franziska Giffey will Beobachtung von Querdenkern (06.12.2020). Auf: www.zeit.de 

Auch die Absurdität des Leugnens von Corona und des Glaubens an Impfverschwörungen soll ein Grund zum Beobachten durch den Verfassungsschutz sein. Gerne werden auch ganz pragmatische Gründe bemüht, wie die Fähigkeit der Querdenker, zahlreiche Menschen mobilisieren zu können. Aber:

Was ist von diesen Forderungen zu halten? 

Auch ich finde es schlimm, dass Unvernunft ein derart hohes Mobilisierungspotenzial hat. Dennoch kann der Staat hier nicht eingreifen. Vermutlich folgt dann der bekannte Vorwurf, der Verfassungsschutz käme seiner Aufgabe als Frühwarnsystem nicht nach.2)Frühwarnsystem meint meist vor der Straftat – im Gegensatz zu den Strafverfolgungsbehörden, die erst nach der Straftat aktiv werden. 

Zu Recht machen sich viele Bürger Sorgen wegen der Stimmung und des schärfer werdenden Tons auf einigen der Kundgebungen gegen die Corona-Beschränkungen. Mich beschleicht ebenfalls ein Unbehagen bei dem Gedanken, was sich gerade gesellschaftlich zusammenbrauen könnte. Man beachte aber den Konjunktiv, denn staatliches Eingreifen bedarf zumindest konkreter und belegbarer Auslöser: 

  • Wer bisher alle Teile aufmerksam gelesen hat weiß, dass der Verfassungsschutz diese im Entstehen befindlichen und sehr heterogenen Bewegungen als Ganzes (noch) nicht beobachten darf. 

Natürlich werden bereits als Extremisten bekannte Teilnehmer an Kundgebungen beobachtet. Aber nicht, weil sie an diesen Kundgebungen teilnehmen. Es gibt allerdings Verschwörungstheorien, z.B. antisemitische oder die Theorie des Großen Austauschs, deren Verbreitung grundsätzlich extremistisch ist – und deren Protagonisten deshalb beobachtet werden. Aber natürlich ist der Verfassungsschutz auch hier an seinen gesetzlichen Auftrag gebunden: 

  • Gibt es hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die fdGO, und falls ja, kann man diese der Bewegung als solcher zurechnen?

Beispiel Religionsfreiheit

Zur Veranschaulichung greife ich auf das Thema Religionsfreiheit zurück. Zur Erinnerung: 

  • Religionsfreiheit in einer offenen Gesellschaft bedeutet nicht nur die Freiheit des Glaubens an anerkannte Religionen, sondern auch das Recht auf einen Irrglauben. 

Per Definition kann es nur eine Wahrheit und dementsprechend höchstens einen wahren Glauben (oder Unglauben) geben. Deshalb muss jeder Glaube (außer vielleicht höchstens einem) ein Irrglaube sein. Insofern ist der Glaube an eine Verschwörungstheorie auch durch das Recht auf Religionsfreiheit geschützt. 

Was einfach klingt, ist für viele schwer erträglich. So habe ich in Vorträgen immer wieder folgende Erfahrungen gemacht: 

  • Zuhörer finden staatliche Neutralität grundsätzlich gut … um im nächsten Augenblick für die Bevorzugung oder Diskriminierung einer bestimmten Religion zu plädieren.3)An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass der freiheitliche Staat gerade die Minderheit vor der Mehrheit schützt. 
  • Zuhörer kritisieren scharf die Religionsfreiheit oder deren Auswirkungen … fordern sie im nächsten Moment aber für sich selbst und ihren Glauben ein. 

Deshalb möchte ich das Grundprinzip der Religionsfreiheit (welche auch die Freiheit zur Nicht-Religion und zu persönlichen Weltanschauungen im Allgemeinen umfasst) noch einmal herausstellen – und zwar bewusst plakativ:

  • Wenn der Staat seinen Bürgern den Glauben an die Auferstehung, an Wasser-in-Wein-Wandlungen, an auf-dem-Wasser-gehen, an die jungfräuliche Geburt und die Dreifaltigkeit, an die Transsubstantiationslehre, an die Wiedergeburt, an Himmelfahrten, an einen Gottesbund, etc. zugesteht, 
  • dann kann er keine Bedenken gegenüber dem Glauben an Echsenwesen, Impfverschwörungen, Esoterik, Zauberei, Aluhüte, etc. anmelden. 

Sie sind alle nicht rational begreifbar und begründbar. Staatliche Neutralität bedeutet, nicht „offiziell“ zwischen guten und schlechten Fake News, nicht „offiziell“ zwischen gutem und schlechtem Glauben zu unterscheiden. 

  • Die Gesellschaft und die Politik dürfen Glauben und Weltbilder bevorzugen oder kritisieren, der Staat nicht.

Der Staat bewertet allein das Verhalten konkreter Gläubiger anhand weltlicher Kriterien. 

  • Dabei geht es aus Sicht des Verfassungsschutzes nur um die Frage, ob sie verfassungsfeindlich handeln. 

Polizei und Staatsanwaltschaft fragen dagegen ausschließlich nach strafbarem Verhalten. Möglicherweise liegen die Religionskriege zu weit zurück, um die unangenehmen Folgen und Auswirkungen einer staatlichen Parteinahme vor Augen zu haben – aber diese Neutralität ist eine zivilisatorische Errungenschaft, die wir gar nicht genug wertschätzen können.

Und das schreibt ausgerechnet jemand aus Bayern? … höre ich jetzt. Ja, denn Bayern ist im Grunde genau das gelungen, wonach sich weltweit viele Freiheitsliebende sehnen: 

  • Bayern ist ein Freistaat mit einer teilweise religiös geprägten Gesellschaft, mit öffentlich gelebter Religion – aber ein Staat ohne Religion. 
  • Bayern hat einen säkularen Staat – aber keine säkulare Gesellschaft. 
  • Bayern hat eine in Teilen christlich geprägte Öffentlichkeit – aber einen weltanschaulich neutralen Staat.

Das gilt sicher auch für andere Gegenden in Deutschland. 

  • Die Bundesrepublik hat eine wertegebundene, aber weltanschaulich neutrale Verfassung. 

Das macht nicht nur den Staat sympathisch, sondern auch die Religion. Gott bewahre uns (!) – das darf ich auch als Atheistin sagen – vor einer mit staatlicher Macht ausgestatteten Religion … egal welcher. Das Christentum in Deutschland ist nicht zuletzt deshalb so sympathisch, weil es durch die Säkularisierung sowohl gezähmt als auch frei wurde. 

Aber nach wie vor und von immer neuen Seiten bedrohen zahlreiche säkularisierungsfeindliche und antiliberale Bestrebungen dieses Erbe – ob weltweit, in Europa oder im Inland. Leider wird es häufig missverstanden oder bewusst verdreht. Deshalb möchte ich folgende Wesensmerkmale staatlicher Neutralität noch einmal betonen:

  • Staatliche Neutralität bedeutet nicht politische Neutralität. Beispielsweise muss ein christdemokratischer Minister in seinem Amt als Minister neutral sein, als Politiker darf er dagegen die Religion „gebrauchen“, und somit aus Sicht einiger Gläubiger „missbrauchen“. Das gilt natürlich auch für jede andere Weltanschauung.
  • Neutraler Staat bedeutet nicht neutrale Öffentlichkeit. Religion darf öffentlich gelebt werden. Und Religion gehört auch in die Öffentlichkeit. Fronleichnamsprozessionen, Kirchen, Synagogen, Moscheen, Tempel, Gipfelkreuze oder Marterl prägen Städte und Landschaften. Kopftuch, Kippa, Turban und Kreuzkette dürfen in der Öffentlichkeit gezeigt werden. Der Staat und staatliche Institutionen und Vertreter sollten dagegen weltanschaulich nicht zuordenbar sein.4)Ich interpretiere das so, dass in staatlichen Institutionen auch keine Kreuze hängen sollten.
  • Ein säkularer Staat ist nicht gleichbedeutend mit einer säkularen Gesellschaft. Die Gesellschaft kann religiös und sogar stark religiös geprägt sein. Der Glaube, dem ein Bürger anhängt, kann sich auch in einem bestimmten Spannungsverhältnis zum Staat befinden. Solange der Bürger sich gesetzeskonform verhält, ist das kein Problem. 5)Ausgenommen von dieser sehr weiten Auslegung der Religionsfreiheit ist natürlich der Beamte.
  • Das Zusammenleben verschiedener Religionen erfordert Toleranz. Jeder Glaube kann für Andersgläubige eine Zumutung sein. Jede Weltanschauung kann andere irritieren. Aber die Bürger freiheitlicher, pluralistischer Gesellschaften müssen Zumutungen aushalten. Dafür darf auch jeder seinen eigenen Glauben leben.
  • Schließlich bedeutet Neutralität nicht Gleichstellung aller Gläubigen in allen Belangen. Der Staat darf Wertentscheidungen treffen, die sich auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich auswirken. Das ist als Folge einer staatlichen Entscheidung nicht per se abzulehnen: Schließlich sind Christen nach wie vor in vielen Dingen privilegiert, etwa weil der staatliche Feiertag auf den Sonntag gelegt wurde. Solche Entscheidungen, die zu „Besserstellungen“ bestimmter Gläubige führen können, stehen der staatlichen Neutralität nicht entgegen. 

Also: Weltanschauliche Neutralität bedeutet Nichtidentifikation und Äquidistanz zu allen Weltanschauungen. Und da es keine Kriterien zum Erkennen eines wahren Glaubens und erst recht keine Kriterien zur Unterscheidung von gutem und schlechtem Glauben gibt, muss der Staat Verschwörungsgläubige wie alle anderen Gläubigen oder Ungläubigen behandeln. 

Warum beobachtet der Verfassungsschutz dann den Islamismus?

Auch zu dieser Frage gibt es viele Missverständnisse. Zum Teil sind sie die Folge von Unwissenheit, zum Teil aber auch absichtlich erzeugt, z.B. zur Diskreditierung des Verfassungsschutzes: 

  • So behaupten Islamisten immer wieder, der Verfassungsschutz bezwecke mit der Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus eine Spaltung der Muslime oder eine Kriminalisierung des Islams. 

In eine andere Richtung weist die ansonsten sehr ähnliche Kritik der Islamfeinde: 

  • Der Verfassungsschutz verharmlose bewusst den Islam mit seiner künstlichen Trennung zwischen Islam und Islamismus.6)Diese begriffliche Unterscheidung geht nicht auf den Verfassungsschutz, sondern auf die Wissenschaft zurück. Der Begriff Islamismus ist ein westlicher Neologismus. Vielleicht eine Lehnübersetzung der arabischen Wortneuschöpfung islamawiya. Sowohl der arabische als auch der deutsche Begriff sind Fremdbezeichnungen. Islamismus steht als Oberbegriff für die Überzeugung, der Islam enthalte die Grundlagen einer staatlichen Ordnung. Zugegeben, dies umfasst eine Bandbreite an Islamauslegungen – vom legalistischen gewaltablehnenden, aber dennoch in Opposition zur freiheitlich demokratischen Grundordnung stehenden Islamismus bis zum gewaltorientierten und terroristischen Jihadismus. Es gibt unterschiedliche wissenschaftliche Definitionen. Im öffentlichen Gebrauch ist die semantische Abgrenzung teilweise diffus.

Handelt es sich hier um eine theologische Anmaßung des Staates? Natürlich nicht, denn geprüft wird ausschließlich anhand der Prinzipien der freiheitlichem demokratischen Grundordnung (fdGO). Der Verfassungsschutz ist dabei der Neutralität verpflichtet. 

  • Es gibt schlicht und einfach Auslegungen des Islam, deren aktive Verbreitung durch konkrete in Deutschland lebende Gläubige als Bestrebung gegen die fdGO gewertet wird bzw. werden muss.
  • Die Prüfkriterien sind die selben wie für alle anderen Extremismen. 

Diese Handlungen bestimmter Gläubiger fasst der Verfassungsschutz unter dem Begriff des Islamismus zusammen. Die Unterscheidung ist also weder politisch motiviert, geschweige denn beliebig. Es geht nicht darum, den Islam in einen guten und einen schlechten Islam zu unterteilen. Während der Verfassungsschutz für den Islam „blind“ ist, fächert er den Islamismus ideologisch sehr präzise auf. 

  • Einige US-amerikanische evangelikale Gruppierungen würden übrigens genauso unter den Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes fallen. 

Schließlich gibt es noch Auslegungen von Religion allgemein, die sogar strafbar sind. Dabei handelt es sich nicht nur um gewaltorientierte Auslegungen, sondern auch um volksverhetzende Aussagen.7)Michael Althaus: Volksverhetzung? Prozess gegen „bibeltreuen“ Pastor Latzel beginnt. (20.11.2020). Auf www.katholisch.de

Das Fazit

Säkularisierung heißt Neutralität, aber nicht Blindheit. Gegenüber Radikalisierung ist Wachsamkeit geboten. Der Rechtsstaat soll liberal, aber nicht gleichgültig sein. Die Maßnahmen gegen Extremisten sollen wirkungs- und machtvoll sein. Manche verwechseln Liberalität mit „Einknicken“ gegenüber Extremisten. Unser Staat ist kein rächender und eifernder Staat, er zahlt nicht mit gleicher Münze heim. Ein Rechtsstaat reagiert besonnen und berechenbar. Und er muss stets abwägen zwischen der größtmöglichen Freiheit des Einzelnen (so spät wie möglich eingreifen) und der Sicherheit (so früh wie nötig eingreifen).

Es ist derzeit nicht absehbar, in welche Richtung sich die diversen Verschwörungstheoretiker mit ihren vielfältigen Kundgebungen und Aktivitäten entwickeln: Ob sie auch extremistisch sind? Ob sich ihr Einfluss verfestigt? Ob sie steuernde Funktionen innehaben? 

Aber: Einzelne Radikalisierte (ohne steuernde Funktion) rechtfertigen noch nicht die Beobachtung der gesamten Bewegung. Und Polemisches? Dummes? Unschönes? Das müssen wir als Bürger eines freiheitlichen Staates aushalten.

Judith Faessler, 4. März 2021

Zum Schluss noch eine Bitte in eigener Sache

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References   [ + ]

1. Alexander Eydlin: Franziska Giffey will Beobachtung von Querdenkern (06.12.2020). Auf: www.zeit.de
2. Frühwarnsystem meint meist vor der Straftat – im Gegensatz zu den Strafverfolgungsbehörden, die erst nach der Straftat aktiv werden.
3. An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass der freiheitliche Staat gerade die Minderheit vor der Mehrheit schützt.
4. Ich interpretiere das so, dass in staatlichen Institutionen auch keine Kreuze hängen sollten.
5. Ausgenommen von dieser sehr weiten Auslegung der Religionsfreiheit ist natürlich der Beamte.
6. Diese begriffliche Unterscheidung geht nicht auf den Verfassungsschutz, sondern auf die Wissenschaft zurück. Der Begriff Islamismus ist ein westlicher Neologismus. Vielleicht eine Lehnübersetzung der arabischen Wortneuschöpfung islamawiya. Sowohl der arabische als auch der deutsche Begriff sind Fremdbezeichnungen. Islamismus steht als Oberbegriff für die Überzeugung, der Islam enthalte die Grundlagen einer staatlichen Ordnung. Zugegeben, dies umfasst eine Bandbreite an Islamauslegungen – vom legalistischen gewaltablehnenden, aber dennoch in Opposition zur freiheitlich demokratischen Grundordnung stehenden Islamismus bis zum gewaltorientierten und terroristischen Jihadismus. Es gibt unterschiedliche wissenschaftliche Definitionen. Im öffentlichen Gebrauch ist die semantische Abgrenzung teilweise diffus.
7. Michael Althaus: Volksverhetzung? Prozess gegen „bibeltreuen“ Pastor Latzel beginnt. (20.11.2020). Auf www.katholisch.de

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