Soll die Demokratie es ihren Feinden ermöglichen, sie zu beseitigen? Damit sich die Machtergreifung von 1933 nicht wiederholen kann, wurde die Bundesrepublik als eine wehrhafte Demokratie konzipiert. Das Bundesverfassungsgericht versteht darunter die Entschlossenheit, sich gegenüber den Feinden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) nicht neutral zu verhalten, sondern sich zur Wehr zu setzen.
FDGO – Was heißt das?
Der Begriff beschreibt zunächst ziemlich abstrakt im Grundgesetz den unabänderlichen Kern der Verfassung, unabhängig von möglichen zeitgebundenen Ausprägungen und Neuerungen durch den einfachen Gesetzgeber. Das Verbotsurteil im Jahre 1952 zur Sozialistischen Reichspartei (SRP, eine Nachfolgeorganisation der NSDAP) betonte den liberalen Kern unserer Verfassung. So wurde die freiheitliche demokratische Grundordnung folgendermaßen präzisiert:
- Freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 GG ist eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.1)BVerfGE 2,1 (Ls. 2, 12f.)
Diese im Urteil genannten acht Prinzipien waren fortan maßgeblich für Extremismusbewertungen. Wann immer der Verfassungsschutz eine Organisation als extremistisch bezeichnet, sind ihr konkrete Bestrebungen gegen mindestens eines dieser Prinzipien nachzuweisen.
Erst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Verbotsverfahren der NPD vom 17. Januar 2017 setzte einen neuen Akzent, indem es einige der Prinzipien besonders betonte:
- In seiner Begründung für die Verfassungsfeindlichkeit fokussierte das Urteil auf den Begriff der Menschenwürde. In ihm finde die fdGO ihren Ausgangspunkt.
- Andere Prinzipien, wie das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip gestalteten das die fdGO überwölbende Prinzip der Menschenwürde nur näher aus.
Also: Wenn es zukünftig um Extremismusbewertung geht, werden die Grund- und Menschenrechte auf ihren menschenwürderechtlichen Kern zurückgeführt.
Was heißt das? Dem Gedanken der Menschenwürde steht beispielsweise der Volksbegriff der NPD entgegen, sowie deren fremden- und minderheitenfeindliche Positionen.2)Siehe Dr. Gunter Warg: Nur der Kern des demokratischen Rechtsstaats – die Neujustierung der fdGO im NPD-Urteil vom 17.1.2017, NVwZ-Beilage 2017, 42. Zwar waren diese Positionen bisher auch schon verfassungsfeindlich, neu ist die ausdrückliche Verknüpfung der Begründung mit dem Begriff der Menschenwürde.
Natürlich gelten dem Gericht auch weiterhin das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip als zentrale Punkte. Es handelt sich beim Urteil von 2017 nicht um eine Verwerfung der bisherigen Bewertungskriterien, sondern um eine neue Schwerpunktsetzung auf das Individuum. Im Grunde betont das Gericht den liberalen Charakter des Grundgesetzes: Der Staat ist für den Menschen da, nicht umgekehrt.
Das historische Trauma
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 ist vermutlich das eindringlichste Beispiel dafür, wie eine Demokratie auf demokratischem Wege beseitigt werden kann. Die Weimarer Republik hatte ihren Feinden sehenden Auges den Dolch gereicht, mit dem sie gemeuchelt wurde. Joseph Goebbels, der spätere Propagandaminister der NS-Diktatur, hatte schon 1928 angekündigt:
- Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freikarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. Wir zerbrechen uns darüber nicht den Kopf. Uns ist jedes Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. […] Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.3)Joseph Goebbels: Was wollen wir im Reichstag? In: Der Angriff, 30.04.1928.
Später höhnte er:
- Es wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben, dass sie ihren Todfeinden die Mittel selbst stellte, durch die sie vernichtet wurde.4)Joseph Goebbels: Die Dummheit der Demokratie. In: Joseph Goebbels (Autor), Hans Schwarz van Berk (Hg.): Der Angriff. Aufsätze aus der Kampfzeit, München 1935, S. 61.
Nicht minder zynisch stellte SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich 1936 fest:
- Wir [die Nationalsozialisten] erledigten dieses System mit seinen eigenen Mitteln. Wir stellten uns auf seine Spielregeln ein, wir waren „legal“ wie die Verfassung es wollte, und vernichteten mit den verfassungsrechtlichen Mitteln auf legalem Wege ein System, das ohne innere Substanz jederzeit bereit war, sich selbst aufzugeben, wenn es nur auf legalem Wege geschah.5)Reinhard Heydrich: Die Bekämpfung der Staatsfeinde. In der Zeitschrift: Deutsches Recht – Zentralorgan des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen, 1936
Die Lehren aus der Geschichte
Zeitgenossen zogen daraus die folgende Lehre:
- Nie wieder sollte eine Demokratie so wehrlos und sogar zustimmend ihrem eigenen Untergang zusehen müssen.
Wird die Weimarer Republik heute oft als „Demokratie ohne Demokraten“ beschrieben, so darf man nicht vergessen, dass auch die junge Bundesrepublik mit einer Minderheit überzeugter Demokraten begann.
Deshalb musste folgende Frage konsequent gestellt und überzeugend beantwortet werden:
- Wie kann die Abschaffung der Demokratie auf demokratischem Wege (z.B. durch Wahlen) auf demokratische Weise (d.h. ohne die eigenen Prinzipien zu verraten) verhindert werden?
Die Vorgängerkonzepte der wehrhaften Demokratie
Schon während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft entstand die Idee einer militanten Demokratie. Karl Loewenstein konzipierte eine streitbare Demokratie und Karl Mannheim entwarf eine geplante Demokratie. Thomas Mann hielt im amerikanischen Exil dazu Vorträge:
- Europa wird nur sein, wenn der Humanismus seine Männlichkeit entdeckt, wenn er lernt, in Harnisch zu gehen, und nach der Erkenntnis handelt, daß die Freiheit kein Freibrief sein darf für diejenigen, die nach ihrer Vernichtung trachten.6)Thomas Mann: Humaniora und Humanismus, 1936, XI, S. 447.
Aber auch an Hermann Broch, Friedrich Stampfer, Curt Geyer und an die „Union Deutscher Sozialistischer Organisationen in Groß-Britannien“ sollte in diesem Zusammenhang erinnert werden.
Eine meist übersehene Persönlichkeit sei in dieser Reihe ebenfalls erwähnt: Hans Kelsen verfasste schon während der Weimarer Republik seine Gedanken in „Wer soll der Hüter der Verfassung sein?“. Er gilt damit als wichtigster Vordenker der Verfassungsgerichtsbarkeit.7)Die ganze Debatte wird skizziert in: Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Berlin, 2018.
Errichtung der wehrhaften Demokratie
Die Umsetzung in die Realität folgte dann nach dem Krieg. Die neu errichtete Bundesrepublik sollte wehrhaft sein und nie mehr ihren Feinden die Mittel zu ihrer eigenen Beseitigung in die Hand geben. Carlo Schmid (SPD) überzeugte 1948 in einer vielbeachteten Rede:
- Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selbst die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft (…) Man muss auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.8)Rede im Parlamentarischen Rat am 8. September 1948
Vor dem Hintergrund der traumatischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und der Vorgänge in der sowjetischen Besatzungszone wurde die junge Bundesrepublik gegen ihre Feinde rechtlich aufmunitioniert. Das Bundesverfassungsgericht prägte dazu die Begriffe wehrhafte oder streitbare Demokratie, um die Entschlossenheit zum Ausdruck zu bringen, sich gegenüber den Feinden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) nicht neutral zu verhalten, sondern sich zur Wehr zu setzen. Das Prinzip der wehrhaften Demokratie wird gerne unter dem Motto Keine Freiheit den Feinden der Freiheit zusammengefasst.9)Das Zitat wird Louis Antoine de Saint-Just zugeschrieben, der als Vertreter der radikal revolutionären Abgeordneten nach der französischen Revolution insbesondere während des Großen Terrors wirkte. Er wurde auch gemeinsam mit Robespierre gestürzt und guillotiniert. Treffender wäre dagegen: Keine Freiheit zur Beseitigung der Freiheit.
Das Fazit: Unsere Verfassung hat nun im Gegensatz zur Weimarer Verfassung einen unveränderlichen Kern, der durch eine Ewigkeitsklausel geschützt ist. So proklamiert Art. 79, Abs. 3 GG:
- Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 bis 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.
Weder Parlament noch Volk können auf legalem Wege eine andere Grundordnung wählen als die freiheitliche demokratische. Die freiheitliche demokratische Grundordnung umfasst aber nur eine Teilmenge der in Art. 79 genannten Rechtsgüter, sie ist sozusagen der Kern des unveränderlichen Kerns. Die fdGO wurde durch Rechtsprechung definiert, welche im Bundesverfassungsschutzgesetz (§ 4 BVSchG) festgeschrieben wurde und kann durch das Bundesverfassungsgericht neu definiert und angepasst werden.10)Zuletzt geschah das im Rahmen des Urteils zum Verbotsverfahren der NPD im Januar 2017.
Ob dies „demokratisch“ ist, ist eine philosophische Frage. Dieses „demokratische Paradox“ soll uns aber hier nicht aufhalten. Denn der Verfassungsschutz, die zentrale Institution dieser wehrhaften Demokratie, bleibt davon unberührt.
Die Waffen der wehrhaften Demokratie
Eine Reihe repressiver Instrumente ermöglicht die Bekämpfung von Verfassungsfeinden. Einige werden aktiv genutzt, andere hängen nur wie Damoklesschwerter über den umstürzlerischen Aktivitäten:
- Während zahlreiche extremistische Vereine verboten wurden, gab es bisher nur zwei Parteiverbote. Diese betrafen 1952 die Sozialistische Reichspartei SRP, eine Nachfolgepartei der NSDAP, und 1956 dann die Kommunistische Partei Deutschlands KPD.
- Bisher gab es keine einzige Grundrechtsverwirkung.
Zur Erläuterung: Das Grundgesetz sieht als Möglichkeit vor, einzelnen besonders gefährlichen Verfassungsfeinden bestimmte Grundrechte abzuerkennen, auch ohne dass sie eine Straftat begangen hätten. Die betroffenen Grundrechte und das Aberkennungsverfahren sind in Art. 18 GG geregelt:
- Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs.1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs.3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.
Bisher wurden vier Verfahren auf Aberkennung der Grundrechte beim Bundesverfassungsgericht angestrengt. Alle betrafen Rechtsextremisten und alle wurden zurückgewiesen. Der Gedanke dahinter ist ein grundsätzlich abgestuftes, maßvolles und zurückhaltendes Einsetzen der Repression.
Die wehrhafte Demokratie ist mit einem breiten Repertoire an möglichen Maßnahmen ausgerüstet. Je nach Gefährdungsgrad und Wahl der Mittel des Gegners kann sie angemessen reagieren. Die exekutive Auseinandersetzung bietet repressive Mittel von der Beobachtung in unterschiedlicher Intensität (hier ist die Hürde bei hinreichend gewichtigen Anhaltspunkten erfüllt) bis hin zu Verboten (die Hürden sind hier beim aggressiv-kämpferischen Vorgehen gesetzt).
- Vereine können beispielsweise verboten werden, wenn sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten, indem sie als solche nach außen eine kämpferisch-aggressive Haltung gegenüber den elementaren Grundsätzen der Verfassung einnehmen. Das wird auch in Art. 9, Abs 2 GG und der dazugehörigen Rechtsprechung geregelt.
- Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz beginnt mit der Auswertung offener Publikationen und kann bis zum Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel gehen.
Wichtig: Der Verfassungsschutz nutzt den Begriff Beobachten nicht im allgemein gebräuchlichen Sinn, sondern als einen juristischen Fachbegriff:
- Beobachtet wird erst nach einer rechtlichen Prüfung, die durch die Beobachteten angefochten werden kann.
Die wehrhafte Demokratie setzt in der Auseinandersetzung mit Verfassungsfeinden außerdem auf den geistig-politischen Diskurs. Dieser ist in erster Linie eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, mit Politik, öffentlichen Medien und Zivilgesellschaft als zentralen Akteuren. Auch staatliche Maßnahmen, wie Aufklärung durch die für Extremisten oft ziemlich unangenehmen öffentlichen Verfassungsschutzberichte, zählen dazu.
- Da sie eine für die darin genannten Extremisten diffamierende Wirkung erzielt, gilt eine Nennung im Verfassungsschutzbericht als Grundrechtseingriff. Dagegen können die Betroffenen sich rechtlich zur Wehr setzen.
Deshalb gilt auch hier ein maßvolles Abwägen der Berichterstattung als Leitlinie und nicht deren Vollständigkeit. Es ist grundsätzlich eine restriktive Auslegung der Anwendung geboten, also „im Zweifel für die Freiheit“ (in dubio pro libertate) – auch die der Extremisten. Zudem gilt: Je gefestigter die Demokratie, desto eher kann man der zivilen Auseinandersetzung den Vorzug geben.
Judith Faessler, 21. Februar 2021
Zum Schluss noch eine Bitte in eigener Sache
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References
1. | ↑ | BVerfGE 2,1 (Ls. 2, 12f.) |
2. | ↑ | Siehe Dr. Gunter Warg: Nur der Kern des demokratischen Rechtsstaats – die Neujustierung der fdGO im NPD-Urteil vom 17.1.2017, NVwZ-Beilage 2017, 42. |
3. | ↑ | Joseph Goebbels: Was wollen wir im Reichstag? In: Der Angriff, 30.04.1928. |
4. | ↑ | Joseph Goebbels: Die Dummheit der Demokratie. In: Joseph Goebbels (Autor), Hans Schwarz van Berk (Hg.): Der Angriff. Aufsätze aus der Kampfzeit, München 1935, S. 61. |
5. | ↑ | Reinhard Heydrich: Die Bekämpfung der Staatsfeinde. In der Zeitschrift: Deutsches Recht – Zentralorgan des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen, 1936 |
6. | ↑ | Thomas Mann: Humaniora und Humanismus, 1936, XI, S. 447. |
7. | ↑ | Die ganze Debatte wird skizziert in: Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Berlin, 2018. |
8. | ↑ | Rede im Parlamentarischen Rat am 8. September 1948 |
9. | ↑ | Das Zitat wird Louis Antoine de Saint-Just zugeschrieben, der als Vertreter der radikal revolutionären Abgeordneten nach der französischen Revolution insbesondere während des Großen Terrors wirkte. Er wurde auch gemeinsam mit Robespierre gestürzt und guillotiniert. |
10. | ↑ | Zuletzt geschah das im Rahmen des Urteils zum Verbotsverfahren der NPD im Januar 2017. |