Warum ich für einen maximal harten Brexit bin

Wer mich kennt, dürfte von dieser Überschrift überrascht sein. Ich habe viele Freunde in Großbritannien (UK), war schon früh als Austauschschüler in Folkestone, habe in Oxford studiert und bin regelmäßig zum Bergsteigen in Schottland. Als Philosoph stehe ich der angelsächsischen Tradition bekanntlich viel näher als der deutschen. Und obwohl sie spinnen, die Briten, mag ich sie irgendwie. Aber gerade weil ich mir eine konstruktive und gute Zukunft für das UK wünsche, bin ich für einen zeitnahen, möglichst harten und konsequenten Brexit. 

Welche Überlegungen stehen hinter dieser These? Mir ist klar, dass sich als Antwort ein dickes Buch schreiben ließe. In einem Blog darf man aber auch einmal Denkanstöße und Anregungen formulieren, ohne jeden einzelnen Argumentationsschritt solide abzusichern. Und genau darum geht es mir heute: Ich möchte unseren Lesern einen Blick auf den Brexit anbieten, der sich in der aktuellen Debatte so kaum finden lässt und damit zum Nachdenken anregen. Ich möchte einen plausiblen Bezugsrahmen skizzieren, in den sich viele verwirrende Einzelheiten einordnen und in einen sinnvollen Zusammenhang bringen lassen.

Wann hat der Brexit begonnen?

Man liest dieser Tage oft, es wäre David Cameron gewesen, dem wir durch sein Referendum das ganze Durcheinander zu verdanken hätten. Oder – kürzer gedacht – es wäre Theresa Mays offensichtlichem Mangel an Verhandlungsgeschick und politischer Kompetenz geschuldet. 

Ich sehe die historische Wurzel der aktuellen Entwicklungen weiter in der Vergangenheit, nämlich im zweiten Irakkrieg 2003 des George W. Bush. Zur Erinnerung: Die Briten mit Premierminister Tony Blair waren bei der waffenbewehrten Suche nach den als Kriegsgrund frei erfundenen Massenvernichtungswaffen bekanntlich treu an der Seite der USA. Deutschland hat sich mit Kanzler Schröder nicht beteiligen wollen – völlig zu Recht. Frankreich wollte auch nicht. Und das haben uns die Briten sehr übel genommen. Konkreter: Tony Blair hat zuerst das Märchen von den Massenvernichtungswaffen erzählt und als das viele nicht glauben wollten, zur Strafe seine These vom „Alten Europa“ (Deutschland, Frankreich, Österreich etc.) und vom „Neuen Europa“ (UK und andere Willige) formuliert, ersterem die Zukunftsfähigkeit abgesprochen und für die Zeit nach dem Irakkrieg einschneidende Änderungen innerhalb der EU auf dieser Basis angekündigt.1)Die hat es auch gegeben: Die Regierungen des „Neuen Europa“ waren alle ziemlich schnell weg vom Fenster.

Worauf es mir im Zusammenhang mit Brexit ankommt: Es war das erste Mal in der Geschichte der EU, dass eines der großen und einflussreichen Mitgliedsländer ganz unverhohlen, gezielt und systematisch ein extrem hartes Freund-Feind Denken als Grundlage seiner Europapolitik eingeführt hat. Dazu wurde umfangreiche Propaganda betrieben, wurden Wahrheit und Respekt als Richtschnur für den Umgang miteinander abgeschafft. Es war auch das erste Mal, dass sich eines der großen und einflussreichen Mitgliedsländer zum Werkzeug einer nichteuropäischen Macht – die USA sind gemeint – erklärt hat, um die EU und deren Zusammenhalt von innen heraus anzugreifen, zu schwächen und vielleicht sogar zu zerstören. 

Aus meiner Sicht hat damals die im UK immer schon latent vorhandene EU-Skepsis begonnen, sich in weiten Teilen der Bevölkerung und des politischen Establishments zu einer handfesten EU-Feindschaft zu verhärten. Die EU-Länder, die nicht am Krieg teilnehmen wollten, wurden als Feiglinge und Verräter bezeichnet. Daraus ist dann auch schnell ein eigenes Geschäftsmodell entstanden: Das Kerngeschäft von Medien wie dem Daily Telegraph ist systematischer Aufbau und gezielte Pflege eines Zerr- und Feindbildes EU (Deutschland). Die Nachfolgeregierungen haben diese Grundstimmung oft genug wachgehalten und sogar verstärkt, indem z.B. eigene Fehlentscheidungen der „Bürokratendiktatur in Brüssel“ angelastet wurden.2)In Frankreich und Deutschland wurde das zwar auch hin und wieder probiert, man ist aber inzwischen schon lange und aus guten Gründen davon abgekommen. In Italien und Griechenland ist nach wie vor die EU, speziell Deutschland, an Allem Schuld. Besonders weitsichtig, mutig und ehrlich ist das nicht – hat aber zum Machterhalt funktioniert. Heute ist daraus für viele Briten ein geradezu religiös-ideologischer Hass auf die „stalinistische Nazi-EU“ geworden, die vor allem eines im Sinn habe: Die „rücksichtslose Versklavung“ des UK.3)Wer diese Wortwahl für nicht ganz repräsentativ hält, dem sei ein Blick in den Daily Telegraph oder in Interviews mit Jacob Rees-Mogg, Boris Johnson, Nigel Farage und anderen Anführern der Brexit-Bestrebungen empfohlen. Da finden sich noch ganz andere Sachen. https://www.telegraph.co.uk  

Kurz: Tony Blair und seine feindbildbasierte EU-Politik in Kombination mit der Ablehnung einer starken EU durch die USA sind aus meiner Sicht der historische Ausgangspunkt für den Brexit. Eine Frage bleibt dabei aber natürlich offen: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Warum war diese Strategie so wirkungsvoll?

Welche Überzeugungen stehen hinter dem Brexit?

Die Hauptargumente der Brexit-Kampagne sind heute im Grunde als Lügen, groteske Verzerrungen bzw. Erfindungen entlarvt.4)Hier als Beispiel einer von zahlreichen Artikeln dazu: https://www.independent.co.uk/infact/brexit-second-referendum-false-claims-eu-referendum-campaign-lies-fake-news-a8113381.html Nur: Wer das wissen wollte, hatte schon vor dem Referendum sehr leicht die Gelegenheit, sich die nötigen Fakten und Daten zu beschaffen und in Gegen-Argumente umzuformen. Und: Obwohl die Argumente offensichtlich entkräftet sind, will immer noch annähernd die Hälfte der Briten den Brexit. Für mich als Argumentationsprofi heißt das: Rational betrachtet hat der Brexit mit den Argumenten seiner Befürworter bzw. deren nüchterner Bewertung nicht viel zu tun. 

Wir müssen also im Arationalen nach einer Antwort suchen. Das ist wie bei der Religion: Die zum Teil katastrophalen Denkfehler diverser Gottesbeweisversuche sind mittlerweile allgemein bekannt und Inhalt von Proseminaren zum Thema – trotzdem beeindruckt das Gläubige nicht. Sie wiederholen einfach ihre „Beweise“ und ignorieren deren Schwachstellen. Oder sie verzichten gleich darauf, die Existenz Gottes mit schnöden rationalen Mitteln beweisen zu wollen. Man glaubt und will einfach glauben. Wer braucht da schon Argumente … 

So ähnlich ist das mit dem Wunsch nach dem Brexit: Argumente greifen nicht, man braucht auch keine, man weiß einfach, dass das der rechte Weg ist. Das wiederum führt zu der Frage, wo und wie im Arationalen dieser Wunsch inhaltlich verankert ist. Meine Antwort: Im englischen Jingoism.

Colloquially, jingoism is excessive bias in judging one’s own country as superior to others—an extreme type of nationalism.5)Aus Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Jingoism

Genauer: Meiner Ansicht nach ist der mentale und arationale Bezugsrahmen der ganzen Debatte im UK auf allen Seiten von einer ausgeprägten englischen (!) Superioritätsüberzeugung geprägt, die Züge des Religiösen hat.6)Schotten, Waliser und Nordiren nehme ich davon ausdrücklich aus; sie haben mehrheitlich eine andere Einstellung zum UK. Konkreter Anknüpfungspunkt dafür ist eine kitschig-romantisierende Konzeption des britischen Empire des 19. Jahrhunderts.7)Gerade ist zum Brexit eine Untersuchung erschienen, die genau diese These vertritt: Danny Dorling, Sally Tomlinson: Rule Britannia. Brexit and the End of Empire. Biteback Publishing, 2019. Die Autoren sind Professoren der Universität Oxford. Was heißt das?

 

Das Empire als Goldenes Zeitalter

Für viele Engländer ist das 19. Jahrhundert als goldene Zeit im Bewusstsein verankert: Man regiert die Welt, sorgt überall für Menschlichkeit, Bildung, Zivilisation, High Tea und gute Manieren, bekämpft zum Nutzen der Menschheit insgesamt das Böse und das Heidentum, bringt massenhaft herausragende Gentlemen hervor, die in die Welt ziehen und selbige voller Edelmut, Tatkraft und Idealismus regieren und verbessern … bisweilen unterstützt von ebenso beeindruckenden Ladies. Überspitzt formuliert gibt es in diesem Weltbild 3 Arten von Menschen: Engländer, koloniale Untertanen der Engländer und potentielle koloniale Untertanen der Engländer.

Vor diesem Bezugs- und Vergleichspunkt ist es natürlich eine enorme Zumutung, ein EU-Mitglied unter vielen zu sein, sich mit ehemaligen Feinden wie Deutschland oder völlig unbedeutenden Ländern wie Dänemark, Litauen, Rumänien oder Spanien (und dem Rest der ganzen EU)  in wichtigen Fragen abzustimmen, sich an Vorgaben aus Brüssel zu halten oder, vermutlich am schlimmsten, sich mit den Franzosen verständigen zu müssen. Zu diesen gefühlten Demütigungen kommen dann noch die so regelmäßigen wie kapitalen Niederlagen beim Fußball und der deutlich spürbare Ärger über die stärkere Wirtschaftskraft anderer EU-Mitglieder. 

Genau diesen gefühlten Behinderungen und Einschränkungen steht der aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart übertragene Herrschaftsgedanke diametral gegenüber, England sei berufen, aktuell zusammen mit den USA, die Welt zu regieren (siehe oben). Die handfeste Verkörperung dieser Konzeption sind die beiden neuen Flugzeugträger der Royal Navy, die aktuell modernsten der Welt. Auf beiden ist übrigens eine Staffel US-amerikanischer Kampfflugzeuge stationiert.

Welche Indizien sprechen für diese These?

Wie oben schon gesagt: Es ist aussichtslos, in einem kurzen Blog-Eintrag eine derart umfassende These argumentativ solide abzusichern. Deshalb begnüge ich mich mit einigen Indizien, die zumindest nahelegen, dass meine These eine realistische und leistungsstarke Erklärung für den Brexit ist.

  • Regierungsmitglieder betonen in ihren Reden immer wieder, das UK sei eine Weltmacht und müsse die entsprechende Politik ohne die von der EU angelegten Fesseln durchsetzen können. Übrigens: China hat auf die Ankündigung, man werde demnächst die neuen Flugzeugträger in seine Gegend schicken, mit dem Abbruch der Handelsgespräche reagiert.8)Als Beispiel: https://www.telegraph.co.uk/politics/2019/02/11/uk-must-use-hard-power-increase-mass-lethality-armed-forces/ 
  • Die Anführer der Brexit-Bewegung benutzen immer wieder Begriffe wie Nazi-EU, Stalin-EU, Sklavenhalter Brüssel etc. um die aktuellen Beziehungen zu den EU-Partnern zu beschreiben. Das dient natürlich der Feindbildpflege und der Legitimierung des Brexit-Vorhabens. Damit wird aber auch an den Mythos des Empire unter Churchill angeknüpft, das sich ganz allein einer ganzen Welt von Feinden erfolgreich entgegengestellt habe. Dass man dabei die nicht ganz unwesentliche Unterstützung der UdSSR und der USA hatte, wird weniger oft erwähnt.
  • In vielen Interviews mit Brexit-Befürwortern tauchen immer wieder Bemerkungen wie die folgenden auf: After all, we are GREAT BritainWhen I went to school, there was a lot of pink (Farbe des Empire) on the map … We want to take back control …
  • Meiner Ansicht nach erklärt dieser Jingoism auch, warum so viele Brexit-Befürworter so viele Unwahrheiten in die Welt setzen, ohne sich zu schämen oder auch nur im Ansatz ein schlechtes Gewissen dabei zu haben: Der Zweck, d.h. das Empire, heiligt die Mittel. Oder: My country – right or wrong! Und wichtig sind „die anderen“ eh nicht. 
  • Diese Quelle speist offensichtlich auch die geradezu groteske Selbstüberschätzung der eigenen Verhandlungsposition mit der EU, die wir jetzt drei Jahre lang miterleben mussten. Man kann sich offenbar auf Seiten der Brexiteers gar nicht vorstellen, dass „die anderen“ den so offensichtlich berechtigten Superioritätsanspruch des UK nicht sofort und umfassend akzeptieren. Im Bewusstsein dieser eigenen Überlegenheit fährt man natürlich ohne jede Vorbereitung, ohne Wissen um die EU und ihren legalen Rahmen und ohne konkrete Kenntnis diverser Inhalte von Verträgen zu den Verhandlungen nach Brüssel – immer und immer wieder. Ich persönlich bewundere Herrn Barnier zutiefst – ihm ist kein einziges Mal der Geduldsfaden gerissen. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit.
  • Leider gilt diese Diagnose auch für das Lager der Vertreter eines weichen Brexit sowie der Remainer, die in der EU bleiben wollen. Analysiert man deren Argumente, so dreht sich dabei alles um die gleiche Sache wie bei den Brexiteers: Es geht immer nur um das UK, was das UK will und welche Vorteile sich das UK innerhalb der EU verschaffen könne. Die eigene Nabelschau wird mit dem Blick in die weite Welt verwechselt. Was ich in der ganzen Debatte vermisse, ist eine Idee, welchen konstruktiven, in die Zukunft weisenden Beitrag man zu einem Europa leisten kann, das sich diversen Herausforderungen gegenüber sieht: Trumps Drohungen und Angriffe auf die EU, Putins hybride Kriegsführung und Chinas wirtschaftliche Infiltrationsbestrebungen, ein erneut aufflackernder Nationalismus und Rassismus, autokratische Angriffe auf das System des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates. Zudem ist es erschreckend, wie wenig auch EU-freundliche Abgeordnete im britischen Unterhaus über die EU wissen – nach fast 50 Jahren Mitgliedschaft.9)Ich habe mir über viele Stunden hinweg im Livestream die einschlägigen Debatten angesehen: Eine durchaus lehrreiche und sehr ernüchternde Erfahrung. 
  • Diese grundsätzliche Eigenzentriertheit zeigt sich auch in konkreten Einzelfällen. Ende März kam die Idee auf, das UK könne sich nach seinem Austritt der EFTA anschließen. Diese vier Staaten (Schweiz, Norwegen, Island, Liechtenstein) orientieren sich sehr eng an der EU und ihrem legalen Rahmen, sind aber keine Mitglieder. Wenige Stunden nachdem diese Idee durch die Medien geisterte, lagen sehr konkrete und undiplomatisch deutliche Stellungnahmen der Regierungen Norwegens, Islands und der Schweiz vor: Keine gute Idee, das UK möchte man auf keinen Fall in der EFTA haben. Das wird auch niemanden überraschen, der Auftreten und Verhandlungsführung der britischen Regierung während der letzten Jahre miterlebt hat. Trotzdem wurde einige Tage danach die Option einer EFTA-Mitgliedschaft zur Abstimmung im Rahmen des Selbstfindungsprozesses des House of Commons angeboten (und wie alle anderen abgelehnt). Ganz offensichtlich kam es auf britischer Seite niemanden in den Sinn, die sehr klar artikulierten Ansichten der EFTA-Länder in die eigene Meinungsbildung mit einzubeziehen. Motto: Wenn wir in die EFTA wollen, dann geht das die EFTA nichts an.
  • Ein weiteres aussagekräftiges und peinliches Beispiel verdanken wir Oppositionsführer Corbyn. Obwohl die EU seit Abschluss der Verhandlungen mit Theresa May in aller Klarheit und Bestimmtheit mindesten fünf mal am Tag erklärt hat, die Verhandlungsphase zum Austritt sei nun endgültig abgeschlossen, hat Corbyn seinerseits immer wieder erklärt, er könne einen besseren Deal in Brüssel aushandeln, wenn man ihn nur ließe. Er ist dann auch einmal mit nach Brüssel gefahren und war wohl sehr erstaunt, als niemand über seine Ideen mit ihm reden wollte.

Kurz und schmerzhaft klar: Großbritannien leidet unter einem umfassenden und tief sitzenden gesellschaftlichen Autismus als Folge eines Superioritätsdenkens, das im 19. Jahrhundert bzw. einer surrealen Vorstellung des britischen Empire wurzelt. Eine Folge davon ist die aktuelle politische Krise: Sowohl die konservative Partei als auch die Labour-Opposition haben den Sprung ins 20. bzw. 21. Jahrhundert verweigert.

Warum ein harter Brexit für das UK am besten ist

Das Referendum hat eine Mehrheit für den Brexit ergeben. Klare Ideen und Vorstellungen, wie dieser Brexit realistisch zu gestalten ist, gab und gibt es im UK bis heute nicht. Phantasievorstellungen dominieren die Debatte. Nüchterne Sachargumente spielen nach wie vor keine einflussreiche Rolle. Das immer noch sehr starke und einflussreiche Lager der Brexiteers, die einen harten Brexit um jeden Preis wollen, wird auch in Zukunft keine andere Lösung akzeptieren und seinen Propagandafeldzug mit den bisherigen Mitteln weiterführen. Sie werden erbittert gegen die jeweils eigene Regierung und gegen die EU kämpfen. Es wird ihnen leicht fallen, jede andere Lösung, die natürlich mit großer Wahrscheinlichkeit dem UK mehr Nachteile als Vorteile bringen wird, schlecht zu machen und auf bisherigem „Argumentationsniveau“ zu kritisieren: Bei einem harten und ehrlichen Brexit wäre das alles viel besser gelaufen … In ihrem Leitmedium, dem Daily Telegraph, wird übrigens bereits an einer Dolchstoßlegende (Stab in the Back) gestrickt: May und die Remainers würden dem aufrechten Teil des edlen britischen Volkes in den Rücken fallen und deren klar artikulierten Willen nach einem harten Brexit verraten. Weimar lässt grüßen …

Die einzige realistische Möglichkeit für das UK, die gesellschaftliche Spaltung zu überwinden, sich vom Phantasiebild des 19. Jahrhunderts zu lösen und endlich den Weg ins 21. Jahrhundert anzutreten ist ein Rendezvous mit der Realität im Rahmen eines harten Brexit. Klappt es wider Erwarten, kann man sich darauf einigen, dass die Brexiteers Recht hatten, die Vorteile genießen, der EU eine lange Nase drehen und die entsprechenden politischen Lehren daraus ziehen. Klappt es nicht, was zu erwarten ist, dann haben die Brexiteers deutlich weniger Möglichkeiten, in ihrer Phantasiewelt zu verharren und das politische System kann sich im Rahmen der Krisenbewältigung reformieren – weil es muss. Dieser gesellschaftliche Lernprozess wird sehr schmerzhaft und langwierig, ist meiner Ansicht nach aber der einzig realistische Weg für das UK aus dem ganzen Schlamassel. Dass die EU dabei nach Kräften helfen sollte, versteht sich von selbst.

Warum ein harter Brexit für die EU am besten ist

Bleibt das UK nun doch aus irgendeinem Grund in der EU, dann sehe ich die große Gefahr, dass der dadurch sich garantiert verschärfende Kampf der Brexiteers auf andere Länder bzw. die EU übergreifen wird. Sie werden keine Ruhe geben und alles tun, um die EU wie bisher von innen heraus zu schwächen und zu bekämpfen. Gleiches gilt für diverse sanftere Lösungen: Sie werden auch darin eine perfide Versklavung der Briten sehen und dagegen ins Feld ziehen. Verschärft wird diese Befürchtung noch durch einen recht einflussreichen Verbündeten, den sie in diesem Kampf gegen die EU haben: Trump und die USA. Was also bei einem Verbleib oder einer relativ engen Anbindung des UK auf die EU zukommt, wird auf lange Sicht viele unserer Energien in reine Schutz- und Abwehrmaßnahmen umleiten. Diese Energien könnten wir ohne das UK besser in konstruktive Aufbau- und Weiterentwicklungspläne investieren. Kurz: Ohne das UK hat die EU einen massiven, beratungsresistenten, sehr unberechenbaren und leider unfair agierenden Bremsklotz und Quertreiber weniger.

Für einen harten Brexit spricht noch ein weiteres Argument; es geht dabei ganz handfest um unsere Sicherheit. Wie oben skizziert, sieht das UK sich als Weltmacht mit der Motivation, seine Ansprüche auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Das wird ganz unverhohlen von verschiedenen Seiten zum Ausdruck gebracht. Klare Linie britischer Regierungen seit Blair ist es, die EU immer mehr zum Instrument der NATO zu machen und die NATO bzw. deren Auftrag weg von einem reinen Defensivbündnis hin zu einem aktiven Interventionsbündnis (Terrorbekämpfung, Regimewechsel etc.) zu machen. Bei einem Verbleib des UK in der EU oder einer engen Anbindung entsteht so die nicht zu unterschätzende Gefahr, in militärische Abenteuer verwickelt zu werden, die aus einer englischen Weltmachtvorstellung entstehen, die in einer Phantasieidee zum 19. Jahrhundert wurzelt. Kurz: Das UK in seiner derzeitigen politischen Verfassung ist ein handfestes Sicherheitsrisiko für Europa und die EU. Ein harter Brexit kann dieses Risiko für uns deutlich minimieren.

Wie geht es mit Europa und der EU weiter?

Zum Abschluss noch ein Blick in die Kristallkugel. Treffen meine Ausführungen zu, dann ist mittelfristig mit folgenden Entwicklungen zu rechnen:

  • Europa bzw. die EU ohne das UK wird sich sicherheitspolitisch zunehmend auf eigene Beine stellen (müssen); sich auf die USA bzw. Trump zu verlassen ist fahrlässig.
  • Speziell die osteuropäischen Mitglieder in NATO und EU werden sich in diesem Zusammenhang entscheiden müssen, welche Rolle eine deutsche Armee dabei spielen sollte und ob die EU bzw. Europa nicht doch die sinnvollste Option für eine sichere Zukunft ist.
  • Es wird ein Russland nach Putin geben – wir sollten unabhängig von den USA, Trump und der „Weltmacht UK“ schon jetzt überlegen, wie wir die sich abzeichnende politische Krise entschärfen können. Konkret: Wir brauchen einen Plan, der einen friedlichen Wandel Russlands hin zu einem freiheitlichen Rechtsstaat kraftvoll unterstützt. Flugzeugträger sind dabei keine Hilfe.
  • Nordirland, Wales und Schottland werden das UK verlassen und sich der EU anschließen. Bisher war z.B. Spanien gegen diesen Weg – aus Angst, einen Präzedenzfall für Katalonien zu schaffen. Da das UK aber bald kein Mitglied der EU mehr sein wird, sieht die politische Konstellation anders aus: Der Weg für die Iren, die Waliser und die Schotten ist frei. Speziell für die Schotten würde ich mich sehr freuen!

PD Dr. Andreas Edmüller, 4. April 2019

References   [ + ]

1. Die hat es auch gegeben: Die Regierungen des „Neuen Europa“ waren alle ziemlich schnell weg vom Fenster.
2. In Frankreich und Deutschland wurde das zwar auch hin und wieder probiert, man ist aber inzwischen schon lange und aus guten Gründen davon abgekommen. In Italien und Griechenland ist nach wie vor die EU, speziell Deutschland, an Allem Schuld.
3. Wer diese Wortwahl für nicht ganz repräsentativ hält, dem sei ein Blick in den Daily Telegraph oder in Interviews mit Jacob Rees-Mogg, Boris Johnson, Nigel Farage und anderen Anführern der Brexit-Bestrebungen empfohlen. Da finden sich noch ganz andere Sachen. https://www.telegraph.co.uk
4. Hier als Beispiel einer von zahlreichen Artikeln dazu: https://www.independent.co.uk/infact/brexit-second-referendum-false-claims-eu-referendum-campaign-lies-fake-news-a8113381.html
5. Aus Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Jingoism
6. Schotten, Waliser und Nordiren nehme ich davon ausdrücklich aus; sie haben mehrheitlich eine andere Einstellung zum UK.
7. Gerade ist zum Brexit eine Untersuchung erschienen, die genau diese These vertritt: Danny Dorling, Sally Tomlinson: Rule Britannia. Brexit and the End of Empire. Biteback Publishing, 2019. Die Autoren sind Professoren der Universität Oxford.
8. Als Beispiel: https://www.telegraph.co.uk/politics/2019/02/11/uk-must-use-hard-power-increase-mass-lethality-armed-forces/
9. Ich habe mir über viele Stunden hinweg im Livestream die einschlägigen Debatten angesehen: Eine durchaus lehrreiche und sehr ernüchternde Erfahrung.

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