Zwei Argumente für die EU und gegen den Nationalismus


Im Rahmen diverser Diskussionen zur EU ist mir aufgefallen, dass viele Zeitgenossen gar nicht genau erkannt haben, warum die EU zum Hassobjekt für so viele Nationalisten geworden ist. Dazu ein paar Denkanstöße – wie gewohnt aus liberaler Perspektive.

Schutz von Rechtsstaat und Freiheitsrechten

Für Nationalisten hat charakteristischerweise Politik Vorrang vor dem Recht. Konkret: Man möchte das tun, was das nationale Wohl, die nationale Ehre, die nationalistisch-anständig gesinnte Mehrheit oder der nationale Vorteil erfordern – ohne sich dabei von übernationalen Normen wie Menschenrechten oder Prinzipien wie dem der Rechtsstaatlichkeit behindern oder einschränken zu lassen. Donald Trumps Schlachtruf America First bringt diese Haltung in zwei Worten sehr klar zum Ausdruck. Es ist gerade nicht von Justice First, Human Rights First oder Freedom First die Rede. Europäische Beispiele liefern aktuell Polens Versuch, die Unabhängigkeit der Gerichte unter Verweis auf nationale Traditionen und Besonderheiten auszuhebeln und das Projekt Orbans, Ungarn zu einer „illiberalen christlichen Demokratie“ zu machen – angeblich ganz im Einklang mit dem wahren Geist des ungarischen Volkes.1)https://www.handelsblatt.com/politik/international/ungarn-orban-will-bei-europawahl-illiberale-kraefte-staerken/22858334.html?ticket=ST-1719624-ogJyfHcxVqcjiSUbM5Fe-ap2

Es geht mir hier nicht darum, die Haltlosigkeit bzw. Hirnrissigkeit nationalistischer „Argumentation“ aufzuweisen; diese ist sehr leicht erkennbar und bekannt: Es fehlen bis heute brauchbare Kriterien, wie so esoterische Konzepte wie Wohl der Nation, nationale Kultur oder Geist der Nation inhaltlich zu bestimmen sind. Das Dilemma fängt ja schon damit an, dass niemand weiß, was eigentlich eine Nation sein soll, wer genau dazugehört – und wer nicht.2)Ganz ähnlich ist das mit der Heiligen Dreifaltigkeit – auch deren Identitätsbedingungen liegen seit jeher tief im Dunkeln. Was aber deren Anhänger nicht im geringsten beim Köpfeeinschlagen behindert hat. Und das führt leicht dazu, dass die jeweiligen Machthaber bzw. eine national motivierte Mehrheit Individualrechte einfach ignorieren, falls sie der nationalen Dynamik im Wege stehen sollten – was Individualrechte auch meistens tun. Das ist nun einmal eine ihrer Hauptaufgaben.

Genau hier kommt die EU den Nationalisten und ihren Vorhaben in die Quere: Die EU bietet als übernationale Einheit tatsächlich wirksame, berechenbare und systematische Interventionsmöglichkeiten. Konkret: Die EU bzw. ihre Institutionen kann Verstöße von Ländern wie Ungarn oder Polen gegen bestimmte Normen und Prinzipien feststellen, benennen und wirkungsvoll sanktionieren.3)https://www.zdf.de/nachrichten/heute/eugh-polen-muss-zwangspensionierung-von-richtern-stoppen-100.html Die Sanktionen bedienen sich natürlich des finanziellen Hebels. Der wirkt auch bei Nationalisten. Und das mögen die gar nicht.

Europa der Regionen

Wesentlich weniger spektakulär aber für die Nationalisten noch viel bedrohlicher ist das Europa der Regionen. Zur Erinnerung: Das ist ein politischer Ansatz, der zahlreiche grenzüberschreitende Regionen in den EU-Mitgliedsländern anerkennt, in ihrer Entwicklung aktiv unterstützt und so deren transnationale Eigenständigkeit unterstreicht. 

Das ist ausgesprochen sinnvoll: Oft sind oder waren es gerade grenznahe Regionen, die aufgrund eines fehlenden „Hinterlandes“ bzw. Einzugsgebietes wirtschaftliche Probleme haben. Und sehr oft verlaufen in Europa Staatsgrenzen quer durch Gebiete, die „irgendwie zusammengehören“. Ich bin in so einer Region aufgewachsen (Inn-Salzach-Region). Meine Heimatstadt Simbach am Inn ist zwar Grenzstadt, trotzdem verbindet uns sehr viel mit den Oberösterreichern auf der anderen Seite der aktuell bestehenden Flussgrenze. Auf jeden Fall weit mehr als mit den Bundesbürgern in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg. Weitere Beispiele gibt es in Hülle und Fülle: Aus dem Alpenraum seien noch die Regionen Tirol-Südtirol-Trentino und Salzburg-Berchtesgadener Land-Traunstein genannt.4)https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Europaregionen

Schon diese wenigen Beispiele veranschaulichen eine der größten Herausforderungen Europas. Ein kurzer Blick in unsere Geschichte zeigt nämlich in aller Deutlichkeit, dass es ziemlich sinnlos ist, von kulturell, ethnisch oder politisch dauerhaft einheitlichen Nationen oder Ländern auszugehen, die sich durch klare Grenzen bestimmen ließen. Fluktuierende Grenzen, ein ständiges Entstehen und Vergehen von Staaten, permanenter kultureller und wirtschaftlicher Austausch, ein alltägliches Miteinander prima facie verschiedener und durchaus mobiler Bevölkerungsgruppen sind bei langfristiger Betrachtung der europäische Normalfall. Europa ist, bildlich gesprochen, ein Fleckerlteppich, bei dem auch noch die einzelnen Flicken stark miteinander verwoben sind.5)Dazu als Lektüre empfohlen: Norman Davies: Verschwundene Reiche – Die Geschichte des vergessenen Europa. Theiss/WBG, Juli 2015. 

Dieser Ansatz eines Europa der Regionen hat tatsächlich zu einer wirkungsvollen Entschärfung zahlreicher Spannungsherde um „Minderheiten“ geführt. Wir tun uns zum Glück schon nach wenigen Jahrzehnten sehr schwer, dieses Europa der Regionen bzw. sein allermeistens reibungsloses Funktionieren überhaupt noch wahrzunehmen – u.a. weil die Grenzbäume verschwunden sind und das Miteinander in diesen Regionen als selbstverständlich erlebt wird. Aber auch Selbstverständlichkeiten sind oft wichtig, funktionieren nicht von alleine und sollten im politischen Kalkül nicht vergessen werden. 

Aus Sicht der Nationalisten ist dieses Europa der Regionen natürlich eine kapitale Bedrohung und ein weiterer Grund, warum sie ihren Hass auf die EU so liebevoll pflegen. Für sie ist Europa im Grunde relativ klar und übersichtlich in Nationalstaaten mit zugehörigen „Völkern“ und deren jeweils unterschiedlichen „Kulturen“ aufgeteilt. Diese Aufteilung soll in Zukunft ja gerade noch geschärft und weiter gefestigt werden. Ein konsequent gelebtes Europa der Regionen führt hingegen direkt zur Erosion eben dieser vermeintlichen „nationalen Identitäten“ und somit des Nationalismus: Wo es keine Nationen gibt, tut der Nationalismus sich schwer. Anders ausgedrückt: Das Europa der Regionen ist ein Frontalangriff auf das pseudo-politische Geschäftsmodell der Nationalisten.

Zur Veranschaulichung und als Fazit ein kleines Gedankenexperiment: Stellen wir uns ein Treffen der nationalistischen Internationale Europas vor. Die AfD lädt Herrn Salvini aus Italien, Frau LePen aus Frankreich, Herrn Strache aus Österreich und Herrn Kaczynski aus Polen zum Gedankenaustausch ein. Leitfrage: Wie soll das von uns angestrebte Europa der Nationen und Völker aussehen? Zur Begrüßung singt die Björn Höcke Combo die erste Strophe der deutschen Nationalhymne: Deutschland, Deutschland, über alles … Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt …6)https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Lied_der_Deutschen

PD Dr. Andreas Edmüller, 15. Mai 2019

References   [ + ]

1. https://www.handelsblatt.com/politik/international/ungarn-orban-will-bei-europawahl-illiberale-kraefte-staerken/22858334.html?ticket=ST-1719624-ogJyfHcxVqcjiSUbM5Fe-ap2
2. Ganz ähnlich ist das mit der Heiligen Dreifaltigkeit – auch deren Identitätsbedingungen liegen seit jeher tief im Dunkeln. Was aber deren Anhänger nicht im geringsten beim Köpfeeinschlagen behindert hat.
3. https://www.zdf.de/nachrichten/heute/eugh-polen-muss-zwangspensionierung-von-richtern-stoppen-100.html
4. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Europaregionen
5. Dazu als Lektüre empfohlen: Norman Davies: Verschwundene Reiche – Die Geschichte des vergessenen Europa. Theiss/WBG, Juli 2015.
6. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Lied_der_Deutschen

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