Wir basteln einen Strohmann ….

Bei der Strohmanntaktik geschieht Folgendes: Dem Gesprächspartner wird ein fiktiver Standpunkt unterstellt, oder sein Standpunkt wird verzerrt oder übertrieben. Der fiktive oder veränderte Standpunkt ist dann ein leichter Gegner, der vom Manipulator mühelos niedergestreckt werden kann.1)Andreas Edmüller und Thomas Wilhelm: Manipulationstechniken. Haufe, 2016 (4. Auflage.

Die Vorteile dieser Manipulationstaktik: Sie ist ohne große Vorbereitung, ohne viel Hirn und mit guter Aussicht auf Erfolg in emotional aufgeheizter Atmosphäre einzusetzen – passt also prima zum Themenkomplex Flüchtlinge. 

Der Alle-Sachsen-sind-Nazis Strohmann

Seit dem Mord an Daniel H. in Chemnitz durch Flüchtlinge und den sich anschließenden Demonstrationen wird immer wieder behauptet, es würden alle Sachsen als Nazis dargestellt – durch diverse Politiker und selbstverständlich die „Lügenpresse“. Dazu ein paar Beispiele:

  • Jörg Urban, Fraktionschef der AfD im sächsischen Landtag behauptet, dass im Umgang mit den Protesten in Chemnitz die Bürger von Sachsen und Chemnitz diffamiert würden.2)MDR Sachsen: Kretschmer: Ostdeutschland ist Seismograph. mdr.de vom 5.9.2018.
  • Marlen Hobrack baut ihren Strohmann in der Welt unter diesem Titel: Hört auf, uns Sachsen als Nazis zu bashen!3)Welt.de vom 31.8.2018. Der Artikel selbst ist allerdings recht differenziert gehalten.
  • Jörg Meuthen, Bundessprecher der AfD, zeigt sich in Dunja Hayalis Talkshow empört über die Stigmatisierung der Menschen in Sachsen. Dem ganzen Land würde unterstellt, Hetzjagden zu betreiben.4)Huffpost vom 6.9.2018: AfD-Chef macht Claudia Roth Vorwürfe – Göring-Eckardt schreitet ein.
  • Schaut man sich in Ruhe die Videos mit Interviews von Teilnehmern der Demos der verschiedenen Medien an (ja, das fällt mir mittlerweile auch ziemlich schwer), so taucht dieser Strohmann regelmäßig als Vorwurf auf: Ihr stellt uns (Sachsen) alle als Nazis dar …..

Was soll dieser Sachsen-Strohmann leisten?

  • Er soll zur Solidarisierung aller Sachsen bzw. möglichst vieler Sachsen mit denen führen, die edlerweise die Sachsen gegen den Nazi-Pauschalvorwurf verteidigen – gegen eine bösartige Übermacht natürlich.
  • Er soll zur Solidarisierung aller Sachsen bzw. möglichst vieler Sachsen mit den real existierenden Nazis und Rechtsradikalen führen. Motto: Wenn ich ein Nazi sein soll, dann können die ja gar nicht so schlimm sein.
  • Der Sachsen-Strohmann soll die Glaubwürdigkeit und die Aufrichtigkeit der angeblichen Autoren des Vorwurfs zerstören: Die Behauptung, alle Sachsen seien Nazis ist so offensichtlich absurd, dass sie auf den „Absender“ zurückfällt.
  • Er soll für emotionale Entlastung und Bestätigung bei den angeblich Pauschalverurteilten sorgen: Ha – endlich sagt mal einer, dass ich kein Nazi bin!
  • Natürlich soll er bereits etablierte Stereotype, Strohmänner, Vorurteile oder Verschwörungstheorien bestätigen: Aha – typisch Lügenpresse! Wahlweise auch: Typisch Bevormundungswessi!
  • Er soll von dem eigentlichen Thema ablenken, das für den Erbauer des Strohmannes dann doch sehr schnell sehr peinlich werden könnte.

Der Faktencheck

Mir ist selbst nach sorgfältiger Suche im Internet mittels verschiedener Suchanfragen kein konkretes Beispiel für diesen Pauschalvorwurf untergekommen. Am ehesten geht noch der eine oder andere Schriftzug „Sachsen“ in Fraktur in diese Richtung – die Interpretation im Sinne unseres Strohmannes ist allerdings an sehr langen Haaren herbeigezogen und in den von mir gefundenen Kontexten nicht haltbar. Auf keinen Fall lässt sich die Aussage erhärten, die Sachsen würden oft oder gar regelmäßig alle als Nazis dargestellt. Also: Der Alle-Sachsen-sind-Nazis Strohmann ist tatsächlich einer.

Was soll der Sachsen-Strohmann verschleiern?

Der Strohmann soll verhindern, dass folgende Fragen rational, faktenbasiert und in Ruhe diskutiert werden. Diese Fragen sind sinnvoll und wichtig – für den einen oder anderen Strohmannbauer allerdings eher peinlich:

  • Warum gibt es seit der Wiedervereinigung in Sachsen rechtsradikale Aktivisten und Wähler in einem Ausmaß wie sonst (fast) nirgends in Deutschland?5)Sachsen: Hochburg des Rechtsextremismus. Faktenfinder.tagesschau.de vom 28.8.2018.
  • Was genau haben Parlament und Regierung in Sachsen in den letzten Jahren und Jahrzehnten konkret getan, um Rechtsstaat und Verfassung gegen diese rechte Bedrohung zu schützen?
  • Haben sich die Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit der nötigen Konsequenz der rechtsradikalen Szene in Sachsen angenommen – und welche Erfolge haben sie erzielt?
  • Welche Verbindungen inhaltlicher und personeller Art gibt es zwischen AfD und der rechtsradikalen Szene in Sachsen – und warum eigentlich? Auch diese Frage ist berechtigt: Wer mit Pegida, „Pro Chemnitz“ und Leuten eine Demo durchzieht, die den Hitlergruß zeigen und entsprechend verbal untermalen, ist eine Antwort schuldig.6)Natürlich gilt das sinngemäß auch für Politiker aus dem grünen und linken Spektrum, die mit der linksradikalen sogenannten AntiFa gemeinsam auftreten. Die haben auch schon ganze Strohmannkompanien in die Welt hinausgeschickt. 
  • Übrigens: Wer einen Parteivorsitzenden Gauland hat, der kein Problem dabei erkennen kann, Mitglieder der rechtsradikalen Identitären aufzunehmen, darf und muss gefragt werden, was das soll. Zumal auch sein Parteikollege Höcke in dieser Richtung ganz entspannt ist und den Identitären „einen intelligenten Esprit“ attestiert.7)„Können alle zu uns kommen“ – Gauland fordert Identitäre zu AfD-Beitritt auf. ntv.de, 18.10.2016.
  • Mich würde auch interessieren, warum so viele Sachsen, die keine Nazis sind, sich nicht sofort aus einer Demo entfernen, in der ständig rechtsradikale und rabiat verfassungsfeindliche Hetzparolen gerufen werden. Zumindest könnte man durch körperliches Abrücken diese Schreihälse und „Hitlergrüßer“ isolieren. 
  • Oder: Könnte man bei sich bietender Gelegenheit als „normaler“ Demo-Teilnehmer nicht auch das eine oder andere Wort an die Deppen mit dem Hitlergruß richten? Man hat ja erkennbar kein Problem damit, während der Demo seine Meinung zur „Lügenpresse“ deren Vertretern in aller Intensität kundzutun. Anti-Nazi Parolen habe ich in keinem der von mir betrachteten Videos aus dem Demozug selbst gehört: Warum eigentlich nicht?
  • Und schließlich: Wann genau wird man eigentlich zu Recht als Nazi eingestuft? Dieses Phänomen ist mit Sicherheit vielen aus meiner Generation bekannt: Man hatte als Jugendlicher recht oft mit reinrassigen Nazis aus der Elterngeneration zu tun, die allerdings sofort tief beleidigt waren, wenn man sie als Nazi bezeichnet hat. Als Unternehmensberater würde ich das so formulieren: Wie ist bei so manchem Demoteilnehmer die große Kluft zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung zu erklären?

Mein Fazit: Es ist erstaunlich, wie gut eine so alte, bekannte und so leicht zu durchschauende Manipulationstaktik wie der Strohmann immer wieder funktioniert. Warum eigentlich?

PD Dr. Andreas Edmüller, 7. September 2018

References   [ + ]

1. Andreas Edmüller und Thomas Wilhelm: Manipulationstechniken. Haufe, 2016 (4. Auflage.
2. MDR Sachsen: Kretschmer: Ostdeutschland ist Seismograph. mdr.de vom 5.9.2018.
3. Welt.de vom 31.8.2018. Der Artikel selbst ist allerdings recht differenziert gehalten.
4. Huffpost vom 6.9.2018: AfD-Chef macht Claudia Roth Vorwürfe – Göring-Eckardt schreitet ein.
5. Sachsen: Hochburg des Rechtsextremismus. Faktenfinder.tagesschau.de vom 28.8.2018.
6. Natürlich gilt das sinngemäß auch für Politiker aus dem grünen und linken Spektrum, die mit der linksradikalen sogenannten AntiFa gemeinsam auftreten. Die haben auch schon ganze Strohmannkompanien in die Welt hinausgeschickt.
7. „Können alle zu uns kommen“ – Gauland fordert Identitäre zu AfD-Beitritt auf. ntv.de, 18.10.2016.

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