Wissenschaftliche Integrität

_20160823_150747Niemals zuvor in der Geschichte war Wissen so leicht zugänglich und studierten so viele Bürger an Universitäten. Paradoxerweise hat dies die wissenschaftliche Sicht nicht gestärkt. Dass die Wissenschaft vom einstmals hohen Sockel in den Alltag der Menschen hinabgestiegen ist, mag mit einer der Gründe für ihren Prestigeverlust sein. Und dennoch kann man, um es plastisch auszudrücken, eine Google-Suche nicht annähernd mit Expertenwissen gleichsetzen. Um mir die Welt zu erklären – ob es um Kriege, um Flüchtlinge, um Krankheiten, um den Klimawandel oder um die Finanzkrise geht – benötige ich weiterhin Experten, denen ich vertrauen kann. Ich bin aber selbst nicht immer in der Lage, zwischen echten und falschen Experten zu unterscheiden. Diese Aufgabe kommt der Wissenschaft zu. Ich bin deshalb auf einen vertrauenswürdigen wissenschaftlichen Betrieb angewiesen. Aber kann ich diesem wirklich im nötigen Ausmaß vertrauen?

Warum sinkt das Vertrauen in die Wissenschaft?

Zur Zeit leidet der wissenschaftliche Betrieb an einem spürbaren Verlust an Glaubwürdigkeit – woran er selbst nicht ganz unschuldig ist. Neben flüchtigen und unsauberen Arbeiten, Korruption, Datenfälschung und Betrug (z.B. falsche Doktortitel), sogenannter advocacy science (z.B. Gefälligkeitsgutachten oder Studien im Dienste des Auftraggebers), sind es oft Wissenschaftler selbst, die kein Vertrauen mehr in die Wissenschaft haben.

Ein Beispiel: Ich habe kürzlich den Vortrag einer jungen Linguistin gehört. Sie hatte die Sprache aus Texten verschwörungstheoretischer Seiten im Netz untersucht. So entschlossen sie ihre Erkenntnisse vertrat, so hilflos war sie am Ende angesichts der zwangsläufigen Publikumsfrage, was sie gegen Verschwörungstheorien empfehlen könne. Kein Wunder, teilte sie doch die (postmoderne) radikal interpretierte Grundannahme, alles sei eine Frage der Perspektive. Und demnach seien Verschwörungstheorien auch nur eine Perspektive auf die Wirklichkeit neben anderen.

Warum vertraut eine junge Wissenschaftlerin so wenig der eigenen Zunft? Wieso übersieht sie beispielsweise schon den augenscheinlichen Unterschied, dass sie selbst einige Jahre studieren muss, um ihre „Perspektive“ zu erreichen, der Verschwörungstheoretiker aber so gut wie kein Vorwissen braucht? Geht der Anspruch der Wissenschaft auf gesichertes Wissen, auf nachvollziehbare Erkenntnis, auf objektive und überpersönliche Gültigkeit, auf Gewissheit und somit auf vorläufige Wahrheit verloren? Ist Wahrheit nur noch Verhandlungssache, wie manche behaupten?

Wenn die Wissenschaft nur eine Perspektive sein soll, braucht es nicht zu wundern, dass sie mit Dogmatismus verwechselt wird. Die wissenschaftliche Empfehlung, alles kritisch zu hinterfragen verkommt zur Maxime der Beliebigkeit: „Glaube nichts, was dir nicht gefällt.“
Andreas Edmüller würde sich an dieser Stelle über die zunehmende Verdummung und aktiv betriebene Nichtbildung der Menschen beklagen. Wer wissenschaftliche Erkenntnis mit einer von mehreren Perspektiven gleichsetzt, hat tatsächlich von Wissenschaft nicht viel verstanden. Das ist nicht nur bedauerlich für den Einzelnen, sondern betrifft uns alle, denn damit werden die Voraussetzungen für fatale Entwicklungen geschaffen. Da unsere gesamte freiheitliche demokratische Ordnung auf Wissenschaftlichkeit beruht, bedroht eine Erosion der Wissenschaft sämtliche positiven Errungenschaften der Aufklärung, bis hin zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ausgerechnet heute, in Zeiten, in denen wir mehr denn je auf Wissenschaftler angewiesen sind, sinkt das Vertrauen in die Wissenschaft. Wissenschaftliche Meinungen zählen häufig nur noch, wenn sie die eigene Meinung bestätigen.

Warum benötigen wir vertrauenswürdige Wissenschaft mehr als früher?

Menschen, die sich alles Wissen ihrer Gesellschaft im Laufe ihres Lebens aneignen konnten, gibt es höchstens noch im Amazonasgebiet und in einigen anderen Exklaven menschlicher Zivilisation. Spezialisierung ist zwar nichts Neues – sie hat schon in der Bronzezeit begonnen. Aber gerade zunehmend spezialisierte Gesellschaften sind auf vertrauenswürdige Experten angewiesen. Zahlreiche demokratische Institutionen funktionieren nicht mehr ohne die Hinzuziehung externer Experten aus der Wissenschaft. Gerichte verlassen sich regelmäßig auf sachverständige Wissenschaftler, wie beispielsweise bei Strafverfahren: Auf Mediziner (Gerichtsmedizin ist gar ein eigenes Fach), auf Ballistiker, Physiker, Chemiker, etc.

Was macht Experten zu Experten? Wie unterscheidet man Pseudo-Wissenschaft, z.B. Holocaustleugnung, von Wissenschaft?

Manchmal sind Fachfragen auch Gegenstand von Gerichtsverfahren: Dann müssen Richter entscheiden, wer der wahre Experte ist – und müssen sich dabei auf die Wissenschaft verlassen. Eines der erfolgreichsten Dokumente der Holocaustleugnung ist der sogenannte Leuchter-Report, der 1988 als Gerichtsgutachten verfasst wurde, seinen damaligen Zweck (Entlastung eines Holocaust-Leugners in einem kanadischen Gerichtsverfahren) zwar verfehlte, sich aber seitdem großer Beliebtheit in der neonazistischen Szene erfreut. Leuchter führte in seinem Report auf pseudowissenschaftliche Weise den Nachweis, dass in den Gaskammern keine Menschen getötet worden sein könnten. Seine Argumentation wurde wissenschaftlich sofort entkräftet. Aber wer nicht weiß, dass Blausäure für Menschen und andere Warmblüter deutlich giftiger als für Läuse ist, dass die Entwesungskammern in Auschwitz im Gegensatz zu den Gaskammern intakt geblieben sind, dass die Gaskammern Entlüftungssysteme hatten, oder wem die methodischen Fehler Leuchters bei der Probenentnahme nicht bekannt sind, der könnte sich durch die scheinbar erdrückende Fülle an Indizien gegen die Anwendung von Zyklon B überzeugen lassen.

Der Leuchter-Report ist einer der Fälle, in denen Laien nicht selbst urteilen können, sondern sich zwischen Gutachten echter und vermeintlicher Experten entscheiden müssen. In diesem Fall könnte zwar die Fülle an anderweitigen Beweisen, wie Zeugenaussagen und Berichte von überlebenden Opfern wie Tätern, die Entscheidungsfindung erleichtern. Der vorsitzende Richter des kanadischen Gerichts konzentrierte sich in seiner Argumentation interessanterweise ausschließlich auf die fehlende Expertise des Gutachters. So urteilte er: „Es ist seine in dem Report geäußerte Meinung, dass es dort niemals Vergasungen oder Hinrichtungen gegeben habe. Meiner Meinung nach und nach dem, was hier vorgetragen wurde, liegt es jenseits seiner Befähigung, eine solche Meinung begründet vertreten zu können … Es mangelt ihm an Kompetenz zu beurteilen, was an dem besagten Orten durchgeführt werden konnte oder nicht, wie er in seinem Bericht pauschal behauptet.“

Warum seriöse Wissenschaftler nur sehr beschränkte Expertise haben können

Die Spezialisierung ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass selbst Wissenschaftler kaum noch Einblick in benachbarte Disziplinen haben. Der durchaus anerkannte und ernstzunehmende Biochemiker Otto E. Rössler klagte 2008 gegen die Inbetriebnahme des Teilchenbeschleunigers LHC am CERN: Er befürchtete die Erzeugung künstlicher Schwarzer Löcher, die seiner Ansicht nach exponentiell wachsen würden. Die Teilchenforscher und Quantenphysiker widersprachen dieser Ansicht und warfen ihm mangelndes Verständnis der allgemeinen Relativitätstheorie vor. Seine Klagen scheiterten. Auch in diesem Fall mussten sich die Gerichte auf die Urteile von Wissenschaftlern verlassen. In Bezug auf den Teilchenbeschleuniger waren die Quantenphysiker vertrauenswürdigere Experten als der Biochemiker.

Und genauso müssen wir in Fragen des Klimawandels, der Finanzwelt oder der Wirtschaft echten Experten vertrauen, deren Expertise wir nicht mehr selbst überprüfen können, weil uns die fachliche Kompetenz fehlt. Echte Experten werden durch den wissenschaftlichen Betrieb selbst selektiert. Darauf müssen wir vertrauen. Nicht zuletzt deshalb ist wissenschaftliche Integrität wichtiger denn je. (Davon unbenommen können Wissenschaftler natürlich irren.)

Dem entgegen steht die Tendenz, alles zu relativieren. Menschliche Wahrnehmung ist zwar subjektiv, und natürlich sind individuelle und daher unterschiedliche Perspektiven auf die Welt nicht zu leugnen. Selbst wenn man nach einheitlicher Methodik vorgeht, können die Meinungen auseinandergehen, etwa weil man bei komplexen Sachverhalten die Erkenntnisse gewichten und manches ausblenden muss. Diese Auswahl ist wieder subjektiv. Aber das sollte nicht zum allgemeinen und absoluten Relativismus führen. Denn die Wissenschaft bleibt nur dann glaubwürdig, wenn sie ihrer Methodik treu bleibt und ihren Anspruch auf Objektivierbarkeit verteidigen kann.

Die Wissenschaft sucht den Perspektivwechsel und landet bei der Beliebigkeit

Hinter diesem wissenschaftsfeindlichen Relativismus steht eine philosophische Schule mit politischem Anspruch, die Postmoderne. Sie war seit den 1960ern zu einem Feldzug gegen Unterdrückung und Diskriminierung jeglicher Art angetreten. Sexismus, Patriarchat, Feudalismus, Imperialismus, Kolonialismus sollten ausgemerzt werden. Dieses Ziel hatten auch Liberale und Universalisten verfolgt, nur mit anderen Argumenten. Die Postmodernisten beriefen sich dagegen auf einen totalen Relativismus. Menschen, Geschlechter, Konzepte, einfach alles sei sozial konstruiert. Das sind nicht nur Theorien geblieben. Die Auswirkungen des politischen Feldzugs der Postmoderne können wir beobachten: Man kann sich beispielsweise bei Facebook zwischen 60 verschiedenen Geschlechtsangaben entscheiden. Das ist harmlos, treibt bisweilen auch absurde Blüten. Eine postmoderne Philosophin behauptete, es sei kein Fakt, sondern nur eine Bestimmung religiösen Glaubens in unserer Kultur, dass Giraffen größer seien als Ameisen.1)Siehe auch https://areomagazine.com/2017/03/27/how-french-intellectuals-ruined-the-west-postmodernism-and-its-impact-explained/, gesichtet am 02.04.2017

Aber es bleibt nicht nur bei harmlosen und amüsanten Anekdoten. Denn die Postmoderne wendet sich nicht nur gegen vormoderne Unterdrückungsmechanismen, sondern auch gegen wichtige Errungenschaften der Moderne: Liberalismus, Universalismus und Wissenschaft seien dogmatisch und trügen zur Unterdrückung von Minderheiten bei. Wissenschaft sei gleichberechtigt neben Hexerei oder Esoterik nur eine Perspektive unter vielen. Die Kreationisten in den USA verdanken ihren Erfolg möglicherweise auch der Schwächung wissenschaftlicher Positionen durch die Postmoderne. Die Gleichbehandlung von „Intelligent Design“ und Darwins Evolutionslehre ist jedenfalls ganz im Sinne vieler Protagonisten der Postmoderne.

Die Verbreitung dieser gewollten umfassenden Beliebigkeit hat drei Auswirkungen, von denen nur die erste beabsichtigt war: Das Aufbrechen verkrusteter Strukturen, alter Geschlechterstereotype und das Überdenken gewisser Machtstrukturen. Die anderen beiden Auswirkungen waren von den Begründern der Postmoderne wohl so nicht vorgesehen, denn als eine weitere Auswirkung erhalten Fundamentalisten Zulauf. Ihr Dogmatismus bietet verunsicherten Leuten in einer relativistischen und beliebigen Welt einen gewissen Halt. Genauso bedenklich ist auch die dritte Auswirkung: Die politischen Gegner der ursprünglich linken Postmodernisten ermächtigen sich der Argumente der Postmoderne, um wiederum ihren eigenen Feldzug gegen Universalismus, Liberalismus und Wissenschaft anzutreten, allerdings mit der umgekehrten Zielrichtung – zurück in die Vormoderne. Gegen die eigenen Argumente sind die Verfechter der Postmoderne aber wehrlos. Dies erklärt unter anderem möglicherweise den erstaunlichen Erfolg eines offensichtlich lügenden Präsidenten und „alternativer Fakten“. Dies erklärt auch den Siegeszug neuer rechtsradikaler Bewegungen. Protagonisten der Identitären Bewegung greifen wie Postmodernisten auf ähnliche Argumente zurück und halten Universalismus und Liberalismus für ihre Feinde. Dies erklärt schließlich, warum gerade die eifrigsten politischen Gegner der „Neuen Rechten“, linke Verfechter von Identitätspolitik, ihnen argumentativ so wenig entgegenzusetzen haben. Als Zwischenfazit muss der Zeitgenosse feststellen, dass eine radikal verstandene Postmoderne – wiewohl sie einen wichtigen Beitrag zu intellektuellen Diskursen geleistet hat – Verschwörungstheoretikern und alternativen Fakten Tür und Tor geöffnet hat.

Pluralismus ist gut, er basiert ja auf kompetent entwickelten Meinungsunterschieden. Beliebigkeit aber ist nicht nur als solche gefährlich, sondern auch, weil viele Menschen auf der Suche nach Eindeutigkeit Zuflucht bei Dogmatikern suchen. Der beste Schutz vor Beliebigkeit ist eine vertrauenswürdige Wissenschaft. Wissenschaftliche Integrität ist daher für unsere Gesellschaft von überragender Bedeutung. Vertrauen in die Wissenschaft schützt die Demokratie. Wenn alles beliebig ist, arbeiten wir den Verbreitern alternativer Fakten, den Fundamentalisten, den Radikalen, den großen Vereinfachern, den Verschwörungstheoretikern in die Hände. Die Wissenschaft gräbt sich selbst das Wasser ab, wenn sie die Universitäten für „alternative Wissenschaften“ öffnet und ihre eigenen Standards aufweicht.

Es ist also nicht nur Selbstzweck, wenn Universitäten sich selbst vor einer Erosion bewahren. Ich möchte mich als Bürgerin auf die Wissenschaft verlassen, weil sie mir die komplexer werdende Welt erklären soll und muss. Und weil ich mich weiter auf die demokratischen Institutionen verlassen will. Oder, um es überspitzt zu formulieren, würden Sie einem Gerichtsverfahren vertrauen, in dem Experten mit Pendel, Tarotkarten oder göttlichem Orakel befragt würden?

Übrigens: Die Wahrung wissenschaftlicher Standards ist nebenbei der beste Schutz gegen Diskriminierung an den Universitäten.

Judith Faessler, 10. Februar 2018

Über mich

Ich wurde 1971 in Genf (Schweiz) geboren, besuchte den Kindergarten in Kalifornien, verbrachte meine gesamte Schulzeit in Frankreich und studierte Orientalistik in München. Seit vielen Jahren habe ich nun zwei Hauptaufgaben, denen ich fast meine gesamte Wachzeit widme: Die Befassung mit Extremismus und der Versuch, zwei Kinder (männlich) großzuziehen.

References   [ + ]

1. Siehe auch https://areomagazine.com/2017/03/27/how-french-intellectuals-ruined-the-west-postmodernism-and-its-impact-explained/, gesichtet am 02.04.2017

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