Ad Hominem: Waren Bentham und Kant Autisten?

Jonathan Haidt ist einer der Stars der Moral- und Sozialpsychologie. Es gibt fast keine moralpsychologische Studie, in der Haidt nicht zitiert wird. In seinem letzten Buch The Righteous Mind 1)The Righteous Mind, E-Book benutzt Jonathan Haidt ein Ad Hominem Argument gegen Bentham und Kant, das aus zwei Gründen interessant ist: Es ist erstens eine besonders fiese und perfide Variante eines Ad Hominem Arguments. Es macht zweitens auf beeindruckende Weise deutlich, dass so mancher Moralpsychologe nicht zwischen deskriptiv (beschreibend) und normativ (vorschreibend) unterscheiden kann.

Was ist ein Ad Hominem Argument?

In einem Ad Hominem Argument wird nicht der inhaltliche Standpunkt eines Argumentierenden kritisiert, sondern der Argumentierende als Person, der diesen Standpunkt vertritt. Oft werden sein Charakter, seine Glaubwürdigkeit oder seine Motive in Zweifel gezogen. Ziel ist es, auf diese Weise auch die These, die der Argumentierende behauptet, in Frage zu stellen. Das Argumentationsmuster sieht so aus:

  • Person X vertritt die These, dass p
  • Es ist bekannt, dass X unglaubwürdig, unehrlich, etc ……….ist
  • Daher: X’ These, dass p, ist falsch

 

In den meisten Fällen ist ein Ad Hominem Argument ein logischer Fehlschluss. Es gibt jedoch Situationen, in denen ein Ad Hominem Argument, stichhaltig sein kann. Zum Beispiel vor Gericht: wenn ein Zeuge nachweislich bereits mehrfach gelogen hat oder andere charakterliche Schwächen aufweist, die seine Glaubwürdigkeit in Frage stellen, dann sind dies gute Gründe, seiner Zeugenaussage zu misstrauen.

 

Haidt’s Theorie

Um zu verstehen, wie Haidt’s Ad Hominem Argument gegen Bentham und Kant  funktioniert, muss ich zunächst Haidt’s wichtigste Thesen vorstellen. Laut Haidt sind die grundlegenden Einheiten unserer moralischen Bewertungen spontane, emotional-intuitive Urteile, denen keine rationale Begründungs- oder Abwägungsprozesse vorhergehen. Rationale Begründungen sind lediglich Post-Hoc Rechtfertigungen im Nachhinein.

Die Erklärung für diese spontanen und ganz automatisch erfolgenden moralischen Urteile liegt in der biologischen Ausstattung des Menschen. Wir verfügen über angeborene moralische Module, die sich im langen Prozess der Evolution herausgebildet haben. In moralisch relevanten Situationen werden diese Module aktiviert. Auslösende Faktoren können zum Beispiel Ekelgefühle sein.

Die moralischen Module lassen sich nach Haidt in sechs Kategorien einteilen: Sorge, Fairness, Loyalität, Autorität, Heiligkeit, Freiheit. Sie bilden die Grundlage von Moralität überhaupt. Dies ist der Kern von Haidt’s „Moral Foundations Theory“.

Wegen des modularen Aufbaus unseres moralischen Sinns plädiert Haidt deshalb auch für eine pluralistische Moral, und er ist gegen eine engstirnige reduktionistische Moral, die versucht alles auf ein einziges, mageres Moralprinzip zu gründen. An dieser Stelle kommen nun Jeremy Bentham und Immanuel Kant ins Spiel – Bentham als Begründer der utilitaristischen Ethik (größtes Glück für möglichst viele Menschen) und Kant als einflussreicher Vertreter einer Pflichtethik (der kategorische Imperativ als Moralgesetz.)

Haidt’s argumentatives Ziel besteht darin zu zeigen, dass sowohl die utilitaristische Ethik als auch die Pflichtethik à la Kant in ihrer einseitigen Reduktion auf ein einzelnes Prinzip unseren moralischen Empfindungen und Bewertungen nicht gerecht werden.

 

Die Autismus-These

Unter Berufung auf den Autismusforscher Simon Baron-Cohen führt Haidt aus, dass jede Person hinsichtlich zwei Dimensionen beschrieben werden kann: die Fähigkeit zu Empathie und die Fähigkeit zu systematischem Denken. Menschen mit Asperger-Syndrom, einer Variante des Autismus-Spektrums, verfügen über eine außergewöhnliche Fähigkeit zu systematischem Denken, aber ihre Empathiefähigkeit ist nur gering ausgeprägt oder gar nicht vorhanden. Und dann schließt Haidt an: „The two leading ethical theories in Western philosophy were founded by men who were high as could be on systemizing, and were rather low on empathizing.“ 2)The Righteous Mind, E-Book, Kap: Taste Buds of the Righteous Mind Ist da nicht zu vermuten, dass beide Philosophen am Asperger-Syndrom litten? Und liegt darin nicht die Wurzel ihrer Moraltheorie?

Im folgenden versucht Haidt zu belegen, dass Bentham sehr wahrscheinlich das Asperger-Syndrom hatte und Kant möglicher Weise. Im Falle Benthams bezieht er sich unter anderem auf den Aufsatz von Lucas und Sheeran, Asperger’s Syndrome and the Eccentricity and Genius of Jeremy Bentham, die in ihrer Untersuchung genau zu diesem Ergebnis gekommen sind. Da auch Kant ein herausragender systematischer Kopf war, vermutet Haidt auch bei ihm, dass er an einer milden Form des Asperger-Syndroms gelitten haben könnte. Haidt’s Urteil fällt hier jedoch vorsichtiger aus. Es sei nicht eindeutig zu beurteilen, ob die Asperger-Diagnose auch auf Kant zutreffe. Das Einzige, was man sagen könne sei, dass Kant einer der außergewöhnlichsten Systematisierer in der Geschichte der Menschheit gewesen sei, aber gleichzeitig eine nur geringe Empathiefähigkeit besessen habe. Haidt’s Daten für diese Vermutung: Kant war Einzelgänger, der nie geheiratet habe. Er habe außerdem nach einem ausgesprochen rigiden Tagesablauf gelebt. Allerdings sei er sehr beliebt und gern in Gesellschaft gewesen, wenn auch wahrscheinlich aus bloßem Kalkül, weil es gut für seine Gesundheit gewesen sei. Über mehrere Seiten führt Haidt also aus, dass die beiden großen Philosophen Autisten waren: bei Bentham ziemlich klar, bei Kant zumindest in der Tendenz.

Haidt nutzt zur Veranschaulichung folgende Grafik 3)The Righteous Mind, E-Book, Kap: Taste Buds of the Righteous Mind:

Bentham_Kant_Autismus

 

Bentham sitzt im rechten Quadranten in dem unteren Rechteck, wo Autisten mit Asperger-Syndrom lokalisiert sind, und Kant kommt diesem Rechteck zumindest ziemlich nahe.

 

Die Ad Hominem Attacke

Nach diesen Überlegungen und Mutmaßungen kommt nun die eigentliche Taktik zum Einsatz. Haidt erklärt, dass er mit seiner Autismus-Hypothese natürlich nicht implizieren möchte, dass der Benthamsche Utilitarismus und die Kantische Pflichtethik falsch seien, nur weil die beiden möglicher Weise das Asperger-Syndrom zeigten. Das wäre ja ein Ad hominem Argument. „That would be an ad hominem Argument, a logical error, and a mean thing to say……“ 4)The Rigtheous Mind, E-Book, Kap: Taste Buds of the Righteous Mind

Haidt erkennt also, dass seine Darstellung als Ad Hominem Argument verstanden werden könnte, und er weiß natürlich auch, dass Ad Hominem Argumente meistens logisch ungültig sind. Also betont er, dass es sich natürlich um kein Ad Hominem Argument gegen Bentham und Kant handeln soll.Außerdem beeilt er sich zu erwähnen, dass sowohl Bentham als auch Kant eine normative Theorie entwickelt haben, also eine Theorie darüber, was getan werden soll. Aber in der Psychologie sei das Ziel deskriptiv. Man will entdecken, wie der moralische Verstand tatsächlich funktioniert, nicht wie er funktionieren sollte. Und das kann nicht allein durch Nachdenken, Logik oder Mathematik geschehen. Das geht nur durch Beobachtung. Und Beobachtung sei gewöhnlich empfindlicher und schärfer („keener“), wenn sie empathisch vollzogen wird – eine Eigenschaft die Bentham und Kant offensichtlich fehlte. Die Philosophie habe sich von Beobachtung und Empathie zurückgezogen und ein einseitiges Interesse an Vernunft und systematischem Denken gezeigt. Sie wurde analytischer und weniger holistisch. Der rationale Ansatz sei daher übersystematisiert und unterempathisiert.

Haidt zieht sein Ad Hominem Argument zwar offiziell zurück, implizit setzt er seine Ad Hominem Attacke aber fort, wenn er den Theorien Kants und Benthams bescheinigt, dass sie einen wichtigen Faktor von Moralität übersehen, was natürlich in der Persönlichkeitsstruktur der beiden Philosophen begründet ist. Und dies ist das eigentlich Perfide, Fiese und Heuchlerische an Haidt’s Taktik. Er schürt ganz bewusst weiter den Verdacht, dass Kants und Benthams Theorien falsch sein könnten, weil sie Produkte einer autistischen Persönlichkeit sind. Das ist die Taktik des Schmutzjournalismus: Genüsslich wird ein Gerücht vor den Lesern ausgebreitet. Man erklärt, dass alles natürlich nur ein Gerücht sei. Aber man rechnet damit, dass die Leser den Gedanken, an dem Gerücht könnte was dran sein, nicht mehr aus dem Kopf kriegen.

Normativ versus Deskriptiv

Haidt’s argumentativer Super-GAU besteht in dieser Passage seines Buches aber eigentlich in noch etwas anderem. Dabei mag ich gar nicht von den begrifflichen Ungenauigkeiten und Mehrdeutigkeiten sprechen, die in der Verwendung seiner Begriffe wie Moral, Moralität, Moraltheorie etc. vorkommen. (Bezeichnender Weise weigert sich Haidt am Anfang des Buches zu definieren, was er unter Moralität versteht. Die Definition kommt ganz am Ende seines Buches und ist dann eine Da-fällt-irgendwie-alles-drunter Definition.)

Nein, worauf ich hinaus möchte, ist seine Unfähigkeit zwischen deskriptiv und normativ zu unterscheiden. Dabei weist Haidt selbst auf den Unterschied hin, wenn er erklärt, dass Bentham und Kant eine normative Theorie der Moral entwickelt haben, während er als Moralpsychologe an einer deskriptiven arbeitet. Spätestens hier müsste Haidt eigentlich erkennen, dass die moralpsychologischen Erkenntnisse ja dann nicht im Gegensatz zu den normativen Theorien eines Kant oder Bentham zu sehen sind. Bentham und Kant beschäftigen sich mit einer anderen Fragestellung als der durchschnittliche Moralpsychologe. Haidt’s Argumentation hat daher folgende Qualität: Es ist zwar richtig, dass Bentham und Kant Basketball spielen und nicht Fußball so wie wir Moralpsychologen, aber trotzdem steht es 1:0 für uns.

Wie ist dieser Fehlschluss und argumentative Aussetzer zu erklären? Erstens: Haidt kennt zwar die Unterscheidung zwischen normativ und deskriptiv, aber er versteht nicht wirklich, was sie bedeutet. Zweitens: Haidt kennt und versteht die Unterscheidung, aber er will den Leser mit Absicht in die Irre führen, um zu zeigen, dass die Antwort auf moralische Fragen in erster Linie moralpsychologischer Natur ist.

Überhaupt ist es schwierig, ein klares Argument in Haidt’s Gedankengängen zu rekonstruieren. Das Beste, wozu ich in der Lage war, sieht folgendermaßen aus:

 

Argument 1

  • a) Kant und Bentham haben ihre Moraltheorie jeweils auf ein einzelnes rationales Prinzip zurückgeführt, das die Grundlage moralischen Handelns ist und uns sagt, was man tun soll. (Über diese These könnte man zumindest im Falle Kants durchaus diskutieren.)
  • b) Beide Philosophen haben daher eine normative Theorie entwickelt. (richtig)
  • c) Dass Kant und Bentham solch ein Prinzip aufgestellt haben, ist womöglich Folge des Asperger-Syndroms. (Zweifelhaft)
  • d) Dass Kant und Bentham das Asperger Syndrom hatten, beweist nicht, dass ihre Theorien falsch sind. (richtig)
  • e) Die Moralpsychologie untersucht, wie wir moralisch funktionieren. Sie gibt keine Auskunft, wie wir moralisch funktionieren sollten. (richtig)
  • f) Die Moralpsychologie stützt sich dabei auf empathische Beobachtungen, die bei Kant und Bentham aufgrund ihres Defizits nur eine untergeordnete Rolle spielen. (Ungesicherte Prämisse, aber meinetwegen richtig)
  • g) Daher: Ein Moralsystem kann nicht auf ein einzelnes Prinzip zurückgeführt werden, sondern muss die ganze Bandbreite moralischer Empfindungen berücksichtigen, und zwar so, wie es die „Moral Foundations Theorie“ beschreibt.

Die Schlussfolgerung ist erstens mehrdeutig: Moralsystem als normatives System oder als deskriptives? Und sie folgt zweitens nicht (in welcher Interpretation auch immer) aus den vorangehenden Prämissen. Die Konklusion könnte nämlich falsch sein, obwohl die Prämissen wahr sind.

Vielleicht sieht Haidt’s Argument auch einfach so aus. Es hätte zumindest eindeutig psychologischen Touch:

 

Argument 2

  • a) Kant und Bentham haben ihre Moraltheorie jeweils auf ein einzelnes rationales Prinzip zurückgeführt, das die Grundlage moralischen Handelns ist und uns sagt, was man tun soll.
  • b) Kant und Bentham liefern somit Beispiele für einen rationalen Ansatz in der Moraltheorie.
  • c) Ich (Jonathan Haidt) habe schon immer gefühlt, dass der rationale Ansatz falsch ist. „This whole approach felt wrong to me.“ 5)The Righteous Mind, E-Book, Kap: Taste Buds of the Righteous Mind
  • d) Daher: Ein Moralsystem kann nicht auf ein einzelnes Prinzip zurückgeführt werden, sondern muss die ganze Bandbreite moralischer Empfindungen berücksichtigen, und zwar so, wie es die „Moral Foundations Theorie“ beschreibt.

Die Gefühlsprämisse c) macht dieses Argument, logisch gesehen, leider nicht gültiger. Aber ist es nicht so? Nur engstirnige, gefühlsarme philosophische Kleingeister sind an Gültigkeit interessiert. Mit ein bisschen Introspektion erkennt man doch: Die Konklusion fühlt sich irgendwie richtig an.

Thomas Wilhelm

 

 

 

 

 

 

 

References   [ + ]

1. The Righteous Mind, E-Book
2, 3, 5. The Righteous Mind, E-Book, Kap: Taste Buds of the Righteous Mind
4. The Rigtheous Mind, E-Book, Kap: Taste Buds of the Righteous Mind

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