Teil 3: Warum eine freiheitliche Demokratie?

Religionskriege und Zivilisationsbrüche, Verfolgung von Minderheiten, ethnische Konflikte und Machtkämpfe prägten Europa viele Jahrhunderte. Menschen bekämpften einander in eiferndem Hass, unterwarfen einander, grenzten ganze Bevölkerungsgruppen aus. Religiöse Minderheiten wurden vertrieben, ausgelöscht. Im Anderssein witterte man Gefahr. Andersdenkende wurden als Ketzer gebrandmarkt und verfolgt. Obwohl Europa niemals ethnische oder religiöse Homogenität gekannt hatte, suchte man in der Gleichschaltung oder der Unterwerfung ein Heilmittel. Und obwohl Migration eine Konstante der europäischen Geschichte war, blieb der Andere ein Fremder, der Neue ein Eindringling, die Minderheit ein Affront. Und dennoch kam es niemals zu Frieden durch Gleichmachen. Denn selbst wenn sich relativ homogene Gemeinschaften abschotteten, entstanden stets neue Abspaltungen und „Häresien“, waren sie nicht vor neuen Gedanken gefeit.

Friedliches Miteinander trotz aller Unterschiede?

Es drängte sich die Frage auf, ob ein friedliches Zusammen- oder Nebeneinanderleben möglich sei. Die Idee einer Gesellschaft, in der alle gleichberechtigt seien und in der keine Wahrheit die des anderen ausheble, war ein Keim der Aufklärung und trieb ihre ersten zarten Knospen aus der Asche noch glühenden Hasses und später auf den Ruinen blinder Zerstörungswut. Die Kriegsmüdigkeit angesichts der Sinnlosigkeit der Gemetzel verhalf diesen Gedanken zu einem ersten Durchbruch in der Weimarer Republik. Die Machtergreifung fegte die kaum begonnene Blütezeit hinweg. Es waren die Alliierten, die nach dem Krieg den Boden wieder bereiteten. Aber verfasst wurde das Grundgesetz von deutschen Bürgern, von überzeugten Verfechtern der Demokratie, die damals noch nicht die Mehrheit stellten.

Die Skizze zu diesem neuen Staatsverständnis findet man sehr anschaulich in einem Gedankenexperiment zum Gründungsvertrag: Man stelle sich vor, man müsse einen Gesellschaftsvertrag aushandeln, ohne zu wissen, als was man auf die Welt kommen werde, ob als Mann oder Frau, welcher Religion, Hautfarbe, sozialen Herkunft auch immer. Man würde sich um größtmögliche Gerechtigkeit und Freiheit bemühen. Man würde versuchen, den Gesellschaftsvertrag möglichst vorteilhaft zu konzipieren, egal als was man in diese Gesellschaft hineingeboren wird, ohne die Erziehungsfreiheit der Eltern einschränken zu wollen. Damit sind die Überlegungen zur Kernidee der freiheitlichen Demokratie zusammengefasst.1)John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1979. Andreas Edmüller: Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit. KDP,  2013. Im Grundgesetz ist diese Idee verankert. Der Mensch, für den das Grundgesetz konzipiert wurde, besitzt einen eigenen selbständigen Wert, Freiheit und Gleichheit (vor dem Gesetz) sind dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit. Dies ist die Grundvorstellung hinter der fdGO, laut Bundesverfassungsgericht. 2)BVerfGE 2, 1(12f.) oder NJW 1952, 1407 (1408) – SRP-Verbot. Das Grundgesetz zielt nicht auf Stabilisierung der Herrschaft (die man als vorteilhaft oder nicht empfinden kann, je nachdem wo man sich in diesem Koordinatensystem befindet), sondern auf Gerechtigkeit für jeden Einzelnen.

Was ist Sinn und Zweck der freiheitlichen Demokratie?

Die freiheitliche Demokratie verzichtet auf das Einstehen für eine weltanschauliche Wahrheit – analog der Ringparabel. In der Ringparabel lässt ein Vater, der seinen drei Söhnen Gleiches vererben will, aber nur einen Ring mit besonderen Eigenschaften besitzt, zwei weitere identische Ringe anfertigen. Nach seinem Tod weiß keiner der Söhne, wer von ihnen den „wahren“ Ring geerbt hat, denn ähnlich den Religionen, hat der Vater ihnen keine Kriterien zum Erkennen des Wahren mitgegeben. Entsprechend kann und darf der Staat nicht die wahre Weltanschauung erkennen bzw. festlegen und darf keine bevorzugen. Die freiheitliche Demokratie setzt dagegen

  • die Freiheit über die Wahrheit: Religionsfreiheit etwa hängt nicht davon ab, ob es eine religiöse Wahrheit gibt oder nicht, sie gründet vielmehr in der nicht relativierbaren Würde der Person und ihrer Freiheit;
  • das Individuum über die Gemeinschaft: Die kleinste Minderheit in einer Gesellschaft ist das Individuum. Somit ist jede Minderheit vor der Mehrheit geschützt und jede Wahrheit zulässig, sofern sie nicht andere Individuen in ihrer Freiheit oder Sicherheit unzumutbar einschränkt.

Sinn und Zweck des freiheitlichen Staates ist es also, die individuelle Freiheit und das friedliche Zusammenleben der in vielerlei Hinsichten unterschiedlichen Bürger zu garantieren. Die individuellen Grundrechte bilden den unantastbaren Kern, den der Staat schützen muss. Alle anderen Grundprinzipien der Verfassung sind nur deshalb schützenswert, weil sie selbst zum Zwecke des Schutzes der individuellen Grundrechte errichtet wurden, so die Gewaltenteilung, die Volkssouveränität, die Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Verantwortlichkeit der Regierung und das Mehrparteienprinzip mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.3)Siehe dazu das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei, einer Nachfolgepartei der NSDAP, im Jahre 1952, BVerfGE 144, 20-367 (Ls. 3). Siehe Teil 4 für die Neudefinition der fdGO.

Der freiheitliche Staat schützt also weder Meinungen, Ideologien oder Religionen, sondern lediglich die Personen, die die Meinungen, Überzeugungen und Religionen vertreten und leben – die Grundrechtsträger. Der freiheitliche Staat ermöglicht und schützt so das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Sichtweisen, Überzeugungen und Religion, unterschiedlicher Herkunft und Lebensvorstellung.

Diese als Pluralismus bezeichnete Form des Zusammenlebens ist aber nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln: Pluralismus bedeutet nämlich nicht Relativismus, sondern mehr Freiheit, d.h. mehr Wahlmöglichkeit für jeden Einzelnen. Jeder Versuch, diese Freiheit mittelbar oder unmittelbar einzugrenzen, wird als freiheitsberaubend bzw. als extremistisch betrachtet.

Judith Faessler, 22. Februar 2021

 

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References   [ + ]

1. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1979. Andreas Edmüller: Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit. KDP,  2013.
2. BVerfGE 2, 1(12f.) oder NJW 1952, 1407 (1408) – SRP-Verbot.
3. Siehe dazu das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei, einer Nachfolgepartei der NSDAP, im Jahre 1952, BVerfGE 144, 20-367 (Ls. 3). Siehe Teil 4 für die Neudefinition der fdGO.

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