Verfassungsschutzreihe: Ausblick

Angesichts der aktuellen Entwicklungen in Polen, Ungarn oder den USA sollten wir uns über die Widerstandskraft der Verfassung und der Demokratie Gedanken machen. 

  • Trump wäre in Deutschland ein Fall für den Verfassungsschutz, verriet der Präsident des bayerischen Verfassungsschutzes in einem Interview.1)Manuel Bewarder und Annelie Naumann: Darum wäre Trump ein Fall für den Verfassungsschutz. In: DIE WELT Nr.16 vom 20.01.2021. 

Ich habe mir allerdings noch keine genauen Gedanken gemacht, ab welchem Zeitpunkt er trotz des sogenannten Ramelow-Urteils hätte beobachtet werden können.2)Auf das Urteil, welches die Beobachtung von Mandatsträgern weitgehend für rechtswidrig erklärt, werde ich im geplanten zweiten Teil der Reihe kurz eingehen. Ich habe in den vorliegenden 12 Teilen in Grundzügen dargestellt, was die Aufgaben des Verfassungsschutzes sind und wie er dadurch und damit die Demokratie schützt.

  • Der Verfassungsschutz ist dabei nur einer von mehreren demokratischen Kontroll- und Sicherungsmechanismen.

Wo und wie ist unsere Demokratie angreifbar?

Die größte Schwachstelle in unserer Demokratie, die zugleich auch ihr stärkster Schutz sein sollte, sehe ich derzeit nicht beim Verfassungsschutz: 

  • Eines der wirkungsvollsten Instrumente der Machtkontrolle, neben der Gewaltenteilung und der vierten Macht – der Presse –, sind ein mündiges Bürgertum und eine kritische Zivilgesellschaft. 
  • Damit meine ich Bürger, die wissen, wie man kritische Fragen stellt, die argumentieren können, die nicht alles auf Anhieb glauben, die bereit sind, sich umfassend zu informieren, und die sich nicht einschüchtern lassen. 

Diese Bürger verantworten die Mandatsträger, die sie in die Landtage, den Bundestag und die Stadträte wählen. 

Leider wählen die Bürger nicht nur integre Demokraten, sondern bisweilen auch überzeugte Antidemokraten. Hier sehe ich ein demokratisches Einfallstor für Feinde der offenen Gesellschaft. Fast gefährlicher als die polterndern, sind dabei die diskreteren Rechtspopulisten, denen man keine formalen Fehler und Rechtsbrüche nachweisen kann. Sie verändern die Institutionen Schritt für Schritt mit dem Ziel, einen Machtwechsel zu erschweren oder zu verhindern. So haben sich Viktor Orbán und Narendra Modi prozedural korrekt verhalten. 

  • Auch in Deutschland besteht die Gefahr, dass rechtspopulistische Mandatsträger-innen über eine einfache Mehrheit im Bundestag den verfassungsrechtlichen Rahmen des demokratischen Wettbewerbs zu ihren eigenen Gunsten manipulieren und auf den Kopf stellen können, ohne dafür auch nur einen Buchstaben des Grundgesetzes ändern zu müssen. Der Schlüssel dazu ist der Teil des materiellen Verfassungsrechts, der in einfachen Gesetzen geregelt ist und zu deren Änderung eine einfache Mehrheit ausreicht: Wahlgesetz, Parteiengesetz, Parlamentsgeschäftsordnungen und vieles mehr. Und allen voran das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht.3)Maximilian Steinbeis: Wie sturmfest ist das Grundgesetz? Zur Gefahr der rechtspopulistischen Aushebelung der Verfassung. In: Nele Austermann u.a. (Hrsg.): Recht gegen Rechts. Report 2020. Frankfurt am Main, 2020, S. 48.

Bei uns ist das Bundesverfassungsgericht als letztinstanzliches Kontrollinstrument sehr mächtig. Dies sollte man sich vergegenwärtigen, bevor man dafür plädiert, die politische Kontrolle der Institutionen zu stärken.

Werte und Institutionen

Trump und Co haben noch zu einem weiteren wichtigen Punkt beeindruckendes Anschauungsmaterial geliefert. Verfassungen, Parlamentsgeschäftsordnungen etc. sind Garanten der Demokratie. Aber sie leben auch von gesellschaftlichen Normen und einem gewissen Grundkonsens der Werte. Hier muss man nicht gleich das Grundgesetz in die Hand nehmen. Ein Gespür für Menschlichkeit ist vollkommen ausreichend. Man kann z.B. den Umgang mit Gegnern anführen: 

  • Diesen sollte man stets mit Mäßigung begegnen. 
  • Der politische Gegner darf nicht wie ein Feind behandelt werden. 
  • Man sollte ihn weder dämonisieren noch entmenschlichen. 

Das alles führt letztendlich zur extremistischen Feindbildkonstruktion. Also:

  • Institutionen und Normen sind die Säulen der Demokratie.
  • Sie werden getragen von den Menschen, die die Institutionen respektieren, ihren Geist erfassen und mit Leben füllen.

Zivilgesellschaft und Verfassungsschutz

Der Verfassungsschutz ist kein Frühwarnsystem in dem Sinne, dass er die Zukunft voraussagt oder als erstes auf gesellschaftliche Entwicklungen hinweisen soll. Ganz im Gegenteil: 

  • Er sollte sich zurückhalten und zunächst öffentlichen Diskursen den Vorrang geben.
  • Er agiert aber vor der Straftat, im Gegensatz zu den Strafverfolgungsbehörden, die nach der Straftat aktiv werden.

Es erschließt sich zudem nicht, warum der Verfassungsschutz als nachrichtendienstliche Behörde vor Gefahren warnen sollte, die jeder Bürger in der Lage sein sollte zu erkennen. Was wieder auf die Bedeutung staatsbürgerlicher Erziehung und politischer Bildung hinweist. Der Verfassungsschutz ist dagegen notwendig,

  • wo der Bürger nicht mehr hinschauen kann (weil es im Geheimen passiert, die Akteure ihre wahren Ziele verschleiern oder konspirativ vorgehen);
  • wo er durch öffentliche Stigmatisierung die Ausbreitung größerer antidemokratischer Personenzusammenschlüsse verhindern kann. 

Aber: 

  • Eine lebendige und dynamische Zivilgesellschaft kann und will der Verfassungsschutz nicht ersetzen! 

Der Verfassungsschutz ist wie jede andere Institution so gut wie der Staat, der sie vorsieht und daher nicht von diesem getrennt zu bewerten. Das kann man an anderen Beispielen veranschaulichen. So gab es im Dritten Reich formal auch Schulen. Sie waren als Zuchtanstalten für die kommende Generation fanatisierter Anhänger konzipiert. Über die Schüler wurde zudem die Gesinnung ihrer Familien ausgespäht. Schulen waren also ein weiteres, ein zentrales Kontrollinstrument des totalitären Staats. 

Der Auftrag von Schulen in Demokratien hingegen besteht darin, Schüler in all ihrer Individualität und Verschiedenheit, in Achtung vor sich selbst und den anderen zu mündigen Bürgern zu erziehen. Um sie sehr bald in die Lage zu versetzen, die nicht immer leichte Verantwortung ihrer persönlichen Freiheit zu meistern. Genauso ist das mit Nachrichtendiensten:

  • Nachrichtendienste gibt es in Demokratien, in Monarchien und in Diktaturen. Entsprechend unterschiedlich sind sie.

Es heißt oft, dass in einer gefestigten Demokratie der Zivilgesellschaft der Vorzug gegeben werden soll. Das ist richtig. Es handelt sich aber nicht um eine Alternative – Zivilgesellschaft oder Verfassungsschutz – denn Zivilgesellschaft und Verfassungsschutz ergänzen einander. 

  • Auf jeden Fall ist der Verfassungsschutz nicht dazu da, dumme oder geschmacklose Aussagen, polemische und ungerechtfertigte Kritik, Fehlinformationen und abstruse Meinungen zu beobachten. 

Sich damit auseinanderzusetzen – oder eben auch nicht, denn ignorieren kann auch eine Option sein – ist Aufgabe der Zivilgesellschaft. 

  • Als Bürger kann jeder zu allem eine Gegenmeinung äußern. 
  • Die Meinung der anderen muss man dafür ertragen, aushalten und manchmal über sich ergehen lassen. 

Eine zu frühe Beobachtung entstehender Bewegungen wäre kontraproduktiv: Sie könnte eine Bewegung stigmatisieren und damit radikalisieren. Es würde den Demokratieschutz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe allein auf den Verfassungsschutz verlagern. 

Den perfekten Schutz kann es nicht geben. Es ist wie in der Wirtschaft: Risiken werden durch Diversifizierung und mehrfache Absicherungen minimiert. Trotzdem ist eine nüchterne Fehleranalyse nach jedem Fehler, jedem Skandal der beste Weg, um sich besser gegen zukünftige Bedrohungen zu wappnen. 

  • Dabei sollten wir jetzt schon im Blick haben, dass langfristig die Entstehung eines europäischen Nachrichtendienst nicht nur ein wahrscheinliches, sondern auch ein wünschenswertes Szenario ist. 

Hierfür werden wieder Kompromisse und einheitliche Regelungen auf EU-Ebene benötigt. Es werden sich die Länder und die Nachrichtendienste durchsetzen, die Rückhalt in der Bevölkerung genießen, und das sind derzeit nicht die deutschen Dienste. Wer deutsche Standards auf europäischer Ebene haben will, sollte die Institutionen stärken, statt sie zu zerschießen. Er sollte Institutionen kritisch begleiten, aber deren Notwendigkeit erkennen.

Judith Faessler, 5. März 2021

Zum Schluss noch eine Bitte in eigener Sache

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References   [ + ]

1. Manuel Bewarder und Annelie Naumann: Darum wäre Trump ein Fall für den Verfassungsschutz. In: DIE WELT Nr.16 vom 20.01.2021.
2. Auf das Urteil, welches die Beobachtung von Mandatsträgern weitgehend für rechtswidrig erklärt, werde ich im geplanten zweiten Teil der Reihe kurz eingehen.
3. Maximilian Steinbeis: Wie sturmfest ist das Grundgesetz? Zur Gefahr der rechtspopulistischen Aushebelung der Verfassung. In: Nele Austermann u.a. (Hrsg.): Recht gegen Rechts. Report 2020. Frankfurt am Main, 2020, S. 48.

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