Der Ukraine-Konflikt ist gegenwärtig beherrschendes Thema in allen Medien. Dabei stößt man manchmal auf Kommentare mit klugen Argumenten, häufiger jedoch auf Kommentare mit weniger klugen Argumenten. Ein drastisches Beispiel der weniger klugen Sorte findet sich in einem Online-Artikel der Zeit vom 10. Februar 2015. Der Kommentar titelte: Ukraine. Es braucht Waffen, um diesen Krieg zu beenden. Autor ist Steffen Dobbert. Die zentrale These des Artikels lautet, dass „die ukrainische Armee mit Waffen zur Verteidigung aus Europa und den USA unterstützt werden sollte.“ Für diese These bringt Dobbert drei Argumente, die ich hier untersuchen möchte.
Das Druckmittel-Argument
Dobberts erstes Argument findet sich in folgendem Ausschnitt aus seinem Artikel:
„Wenn sich am Mittwoch in Minsk Angela Merkel, François Hollande, Wladimir Putin und Petro Poroschenko zu einer neuen Verhandlungsrunde treffen, wird das Ergebnis wohl ähnlich aussehen, wie das erste Minsker Abkommen. Damals, im vergangenen September, war das Resultat langer diplomatischer Bemühungen das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben wurde. Der Krieg tobt weiter, die prorussischen Truppen nahmen bis heute etwa 1.000 weitere Quadratkilometer ein. Die Separatisten rücken dank russischer Waffen trotz der Friedensvereinbarung weiter vor, ganz einfach, weil sie es können. Ihr nächstes Ziel ist die Besetzung des gesamten Donezker Verwaltungsbezirkes. Das werden sie erreichen, wenn der Westen Waffenlieferungen an die Ukraine weiterhin von vornherein ausschließt. Die Gespräche in Minsk können nur erfolgreich sein, wenn Merkel und Hollande konkrete Druckmittel zur Verfügung haben. Die Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland sind dabei eine Option. Doch selbst wenn diese noch ausgeweitet würden, werden sie Putin nicht kurzfristig zu einem Politikwechsel zwingen. Würden aber Merkel und Hollande als Vertreter der EU, abgestimmt mit den USA, in Minsk damit drohen können, im Falle einer Fortführung des Krieges das ukrainische Militär zu stärken, besteht eine realistische Chance, dass Putin einem Friedensplan nicht nur zustimmt, sondern sich sogar daran hält. Denn westliche Waffen würden die Kriegskosten für die andere Seite deutlich erhöhen.“
Dieses Argument nimmt zeitlich Bezug auf die durch Merkel und Hollande moderierten Friedensbemühungen in Minsk. Es lässt sich folgendermaßen rekonstruieren:
Nur wenn geeignete Druckmittel eingesetzt werden, welche die potentiellen Kriegskosten für Russland deutlich erhöhen, wird Putin einem Friedensplan zustimmen und ihn auch halten. Waffenlieferungen sind ein solches geeignetes Druckmittel. Deshalb: die EU und die USA sollten die Ukraine mit Waffen unterstützen.
Die Schwachpunkte in diesem Argument sind die beiden Prämissen, die zur Stützung der zentralen These benutzt werden. Warum sollte man glauben, dass durch den Einsatz von Druckmitteln die Chance auf einen Friedensvertrag steigt? Dobbert behauptet dies einfach und führt keinen einzigen Beleg dafür an. Eher gibt es Belege dafür, dass der Einsatz von Druckmitteln nicht zu dem gewünschten Resultat führt. Bisher haben ja beispielsweise die Sanktionen zu keiner Veränderung in der Situation in der Ostukraine geführt. Sie hatten zwar eine Wirkung, aber nicht die intendierte. Ohne irgendeinen Beleg führt Dobbert hier also eine Behauptung an, die eine entscheidende Funktion in seinem Argument übernimmt. Die Behauptung aber ist pure Spekulation. Das Argument ist daher unbrauchbar. Die zweite Prämisse ist ebenfalls zweifelhaft. Denn warum sollten ausgerechnet Waffenlieferungen geeignete Druckmittel darstellen? Wäre nicht eher zu vermuten, dass eine Waffenlieferung zu einer Verschärfung der Situation führt, weil die russische Seite sich in ihren Annahmen über den Gegner bestärkt sieht, dass der Feind nämlich der Westen sei? Eine Waffenlieferung könnte von russischer Seite als Rechtfertigung genutzt werden, seinerseits die Militarisierung voran zu treiben. Das heißt, auch Dobberts zweite Prämisse ist hoch spekulativ.
Dobberts Argumentation ist ein gutes Beispiel dafür, wie zwar Gründe für eine These gebracht werden, also prima facie ein Argument aufgebaut wird, die Argumentation aber nicht zu Ende gebracht wird. Denn die angeführten Gründe selber, die ja nichts anderes als Behauptungen sind, werden in keiner Weise selbst einer Überprüfung unterzogen. Wir haben daher zwar ein Argument 1. Stufe, aber die angeführten Prämissen bzw. Gründe sind mehr als zweifelhaft. Klar, dass dabei die Qualität des Arguments auf Ramschniveau sinkt.
Das Recht-auf-Verteidigung-Argument
Das zweite Argument baut Dobbert folgendermaßen auf:
„Die Ukraine ist ein eigenständiger international anerkannter Staat, in dem das Gewaltmonopol beim Staat liegt. Das heißt, die Ukraine hat ein Recht, Waffen zu benutzen, um sich zu verteidigen. Inmitten des russischen Propagandakrieges gerät diese Tatsache manchmal in Vergessenheit. Ebenso wie der 5. Dezember 1994, an dem die Ukraine das Budapester Memorandum unterschrieb und danach mehr als 1.000 nukleare Sprengköpfe nach Russland abtransportierte. Im Gegenzug für die Abrüstung garantierten die USA, Großbritannien und Russland die territoriale Integrität der Ukraine. Nach der Annexion der Krim und dem Eindringen von russischen Panzern in der Ostukraine sollte die Frage nicht mehr lauten, ob, sondern wie die Ukraine am besten gegen Russland verteidigt wird. Die EU sollte bei der Beantwortung dieser Frage eine zentrale Rolle übernehmen, da sie seit Beginn des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln versucht. Und weil es bei den Völkerrechtsbrüchen Putins um die Verteidigung von europäischen Werten geht, mitten in Europa. In der Ukraine wird entschieden, welche Wendung die europäische Geschichte einmal nehmen wird. Aufklärungsdrohnen, Nachtsichtgeräte, Radarsysteme und auch Abwehrraketen sollten deshalb durch die EU koordiniert und von den USA unterstützt an die Ukraine ausgeliefert werden.“
In diesem Abschnitt finde ich zunächst folgende Argumentation für die These, dass die EU und die USA Waffen an die Ukraine liefern sollten. Sie führt als Grund an, dass die Ukraine ein souveräner, eigenständiger Staat sei, der das Recht auf Verteidigung besitze. Das Argument geht also so:
Die Ukraine hat ein Recht auf Verteidigung. Deshalb: Die Ukraine sollte mit Waffen aus der EU und den USA unterstützt werden.
Das Problem bei diesem Argument ist, dass es gar kein Argument darstellt. Die Prämisse, die als Grund fungiert, ist nämlich für die Konklusion irrelevant. Die Prämisse, dass die Ukraine ein Recht auf Verteidigung hat, ist durchaus richtig. Man kann ihr zustimmen. Aber es ist vollkommen unklar, wie und warum daraus die Schlussfolgerung gezogen werden sollte, dass die Ukraine mit Waffen aus den USA und Europa versorgt werden sollte. Dobberts Argument ist ein Scheinargument. Das wird sofort deutlich, wenn man die nackte logische Struktur des Arguments betrachtet. Beim Lesen des Textes kann man das leicht übersehen, weil der Autor in der Regel schicke rhetorische Formulierungen benutzt, um seine Argumentation vorzubringen. Im Anschluss an dieses Scheinargument bringt Dobbert ein weiteres zweiteiliges Argument. Der erste Teil baut auf der Prämisse auf, dass die EU seit Beginn des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln versucht. Das Argument stellt sich folgendermaßen dar:
Die EU nimmt eine zentrale Rolle als Konfliktvermittlerin ein. Deshalb: Die EU sollte eine zentrale Rolle bei der Beantwortung der Frage spielen, wie die Ukraine verteidigt wird (d.h. die Ukraine sollte mit Waffen beliefert werden.)
Das ist nun ein absolut hanebüchenes Argument. Nicht nur, dass die Prämisse die Konklusion in keiner Weise stützt, die Prämisse steht sogar in einem inhaltlichen Widerspruch zu der zu begründenden Behauptung. Warum? Von einem Vermittler in einem Konflikt wird in der Regel Neutralität erwartet. Waffenlieferungen an eine der Konfliktparteien stehen aber im Widerspruch zum Neutralitätsgebot. Dobbert hat in obigem Zitat aber noch ein „Argument“ in petto. Es ist in der ganzen Diskussion einer meiner Lieblingsargumente, weil es wunderbar das schwergewichtige Pathos tief empfundener Empörung zum Ausdruck bringt. Es geht so:
Bei Putins Völkerrechtsbrüchen geht es um die Verteidigung europäischer Werte. Deshalb: Die EU sollte eine zentrale Rolle bei der Beantwortung der Frage spielen, wie die Ukraine verteidigt wird (d.h. die Ukraine sollte mit Waffen beliefert werden.)
Darum geht es also: um die Verteidigung europäischer Werte. Dobbert benutzt einen diffusen emotionalen Appell, um seine These zu stützen. Aber von welchen Werten ist hier genau die Rede? Und was gilt es dabei genau zu verteidigen? Und vor allem, welcher Zusammenhang besteht da zu Waffenlieferungen in die Ukraine? Der Appell an gemeinsam geteilte Werte ist ein beliebtes rhetorisches Manöver. Er signalisiert moralische Legitimität und Handlungsdringlichkeit. Und weil Werte und deren Erhalt in der Regel von den meisten als etwas sehr Existentielles angesehen werden, haben diese Manöver oft auch eine hohe Zugkraft. Der Appell aber bleibt absichtlich im Diffusen. Denn uns wird erstens nicht erklärt, um welche Werte es sich handelt, die es zu verteidigen gilt (ich tippe auf Freiheit und Selbstbestimmung als Kandidaten), zweitens in welcher Form sie genau verletzt oder angegriffen werden, drittens warum es für uns notwendig ist, zu handeln und zu guter Letzt, warum es deswegen notwendig, ist Waffenlieferungen an die Ukraine zuzustimmen und nicht vielmehr andere Handlungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen.
Das Eskalations-Argument
Dobberts drittes Argumentationsbündel liest sich folgendermaßen:
„Ein bedeutendes Argument gegen die Aufrüstung der ukrainischen Armee ist die Befürchtung vor einer Gewalteskalation. Doch erstens gibt es dafür keine Belege. Angesichts der wirtschaftlichen Lage seines Landes und der wachsenden Kriegsmüdigkeit vieler Russen wäre es vielmehr für Putin noch schwerer, den Krieg im Nachbarland zu rechtfertigen. Zweitens verschleiert die Warnung vor einer Eskalation, was seit Monaten im Donbass geschieht: Die Lage ist bereits eskaliert. Und drittens folgt auf diese unbewiesene Annahme eine falsche Schlussfolgerung: Für den Westen gehe es nur um die Ukraine. Für Putin gehe es in diesem Konflikt um alles. Er habe in der Ukraine die Eskalationsdominanz, schreibt Michael Thumann.“
Hier kombiniert Dobbert mehrere Argumente. Im ersten Argument versucht er ein Gegenargument zu entkräften. Dieses, wie er anerkennt, bedeutende Argument geht so:
Eine Waffenlieferung wird vermutlich zu einer Eskalation führen. Deshalb: Es sollten keine Waffen an die Ukraine geliefert werden.
Hier passiert nun etwas Interessantes. Dobbert kritisiert die Begründung, weil sie eine Annahme benutzt, für die kein Beleg angegeben wird. Man muss darüber schmunzeln, hat er doch selbst bis zu dieser Stelle keine Belege für seine eigenen Annahmen geliefert. Was er prompt gleich im nächsten Satz wieder unter Beweis stellt. Denn da spricht Dobbert davon, dass angesichts der wirtschaftlichen Lage und der wachsenden Kriegsmüdigkeit vieler Russen, es für Putin noch viel schwerer wird, den Krieg zu rechtfertigen. Auch das nenne ich eine unbewiesene Annahme. Das einzige, was wir ziemlich sicher wissen, ist, dass sich die wirtschaftliche Lage in Russland stark verschlechtert hat. Aber wir haben keine Belege für die wachsende Kriegsmüdigkeit und vor allem nicht dafür, dass eine Rechtfertigung des Krieges für Putin schwerer würde. Ich behaupte einfach mal das Gegenteil: Waffenlieferungen erleichtern Putin eine Rechtfertigung des Krieges. Selbst wenn die Sorge einer Eskalation unbegründet wäre, ließe sich daraus jedoch nicht herleiten, dass die Ukraine bewaffnet werden sollte. Denn das Argument würde folgendermaßen aussehen.
Es ist nicht zu erwarten, dass Waffenlieferungen zu einer Eskalation führen. Deshalb: die EU und USA sollten Waffen an die Ukraine liefern.
Es ist deutlich, dass hier keinerlei Begründungszusammenhang besteht. Aus einer fehlenden Eskalation lässt sich nicht folgern, dass Waffenlieferungen stattfinden sollten. Im darauf folgenden Argument gegen die Gegner von Waffenlieferungen führt Dobbert die These an, die Warnung vor einer Eskalation verschleiere, dass der Konflikt bereits eskaliert ist. Was möchte Dobbert damit zum Ausdruck bringen? Dass der Konflikt bereits so weit eskaliert ist, dass eine Waffenlieferung keine weitere Eskalation nach sich ziehen könnte? Und dass damit der Einwand einer Eskalation faktisch hinfällig ist? Hier irrt Herr Dobbert gewaltig: dass Der Konflikt eine hohe Eskalationsstufe erreicht hat, heißt nicht, dass er sich nicht noch weiter verschlimmern kann. In den Konflikt könnten noch wesentlich mehr Menschen hinein gezogen werden als bisher, das heißt die Konfliktarena könnte sich erweitern. Auch das Ausmaß der Zerstörung könnte noch größer sein. Aber selbst wenn wir Dobbert die Prämisse zugestehen würden, dass der Konflikt in keiner Weise weiter eskalieren könnte, folgt daraus nicht seine zentrale These, nämlich dass die EU und USA Waffen an die Ukraine liefern sollte.
Die dritte Begründung im obigen Abschnitt übergehe ich, weil sie sich auf einen Kommentar von Michael Thumann bezieht. Und um Dobberts Argument richtig würdigen zu können, müsste ich Thumanns Argumentation referieren. Darauf verzichte ich hier. Denn es dürfte bereits mehr als deutlich geworden sein, dass Dobberts Argumente, in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus, ganz unabhängig davon, wie man inhaltlich zu dem Thema steht. Der Kommentar besteht im wesentlichen aus diffusen emotionalen Appellen (Rettet unsere Werte!, Da muss doch was getan werden!, Wir können das mitten in Europa nicht dulden!), Scheinargumenten und unbewiesenen Behauptungen. Dies wird klar, wenn man die Argumente ihres rhetorischen Gewands entkleidet und allein die logische Struktur analysiert. Was übrig bleibt, sind leere Behauptungen. Das Schlimme ist, dass diese Art von Argumentation gefährliche Konsequenzen haben kann. Und viele Menschen dies für seriösen Journalismus halten.
Thomas Wilhelm