Zur Zeit wird eine recht unübersichtliche, emotionale und sehr unsystematische Debatte zu islamisch-religiösen Bekleidungsformen wie Burka und Kopftuch geführt. Mein Ziel ist es, die liberale Perspektive klar und deutlich herauszuarbeiten. Ich wähle dafür den eher „harmlosen“ und deshalb schwierigeren Fall des Kopftuches.
Was selbstverständlich sein sollte
Der säkulare Rechtsstaat und seine Institutionen sind natürlich zu strikter und unmissverständlicher religiöser Neutralität verpflichtet. Das hat sich in den Entscheidungen und Handlungen seiner Beamten und Angestellten in jedem Einzelfall zu zeigen. Diese Neutralität sollte sich selbstverständlich auch in deren Kleidung widerspiegeln. Deshalb darf und sollte der Staat das offene Tragen religiöser Symbole für diesen Personenkreis im Rahmen der Berufsausübung grundsätzlich verbieten. In wichtigen Fällen wird diese strikte Neutralität sogar durch eine normierte Berufskleidung signalisiert, z.B. vor Gericht oder bei der uniformierten Polizei.
Argumente, die nicht greifen
Aus liberaler Perspektive lassen sich Verbote im Prinzip nur unter Rekurs auf eine unzumutbare Verletzung der Sicherheit anderer Bürger, ein unzumutbar hohes Sicherheitsrisiko oder eine unzumutbare Freiheitseinschränkung begründen. Nichts davon lässt sich ernsthaft für das Tragen eines Kopftuches durch Musliminnen in der Öffentlichkeit bzw. im Alltag behaupten.
Auch starke Irritationen sind keine Basis für ein Verbot. Bei vielen Bürgern löst der Anblick eines Kopftuches oder einer Vollverschleierung Befremden bzw. Ablehnung aus, Gefühle werden verletzt. Das ist so, das geht auch mir manchmal so – muss aber ausgehalten werden.1)Die in München immer öfter beobachtbare Kombination aus engen Jeans, bauchfreiem Top und Kopftuch irritiert mich dabei weit weniger als eine Ganzkörperverhüllung. Ich werte erstere als erfreulich erfolgreichen Angriff der finsteren Mächte der Säkularisierung. In einer offenen und pluralistischen Gesellschaft lassen sich Irritationen nicht vermeiden. Der Einzelne ist deshalb im Rahmen des Toleranzgebotes aufgerufen, sein Selbstschutzpotential zu entfalten und zu lernen, mit derartigen Angriffen auf seine „emotionale Integrität“ umzugehen. Wer Fronleichnamsprozessionen, Tanzverbote an christlichen Feiertagen, riesige Gipfelkreuze auf den allermeisten Alpengipfeln und regelmäßiges Glockengeläut seinen atheistischen Mitbürgern zumutet, muss auch den Anblick eines Kopftuches oder einer Burka ertragen. Und wer sich an Jesus- oder Mohammedkarikaturen erfreut, muss Witze und Bosheiten über Atheisten sowie Burkinis im Freibad aushalten.
Paternalistische Argumente führen ebenfalls nicht zu einem Kopftuchverbot. Ein Beispiel: Wenn niemand das Recht hat, eine Person am Eintritt in einen christlichen Orden zu hindern, gilt das auch für das Tragen einer Burka oder eines Kopftuches. Jedem steht es frei, sein Leben nach der eigenen Fasson zu leben und es im Extremfall auch nach den eigenen Vorlieben zu vermasseln – solange er anderen damit nicht schadet bzw. einem unzumutbaren Schadensrisiko aussetzt.
Das liberale Fazit ist klar: Wer in der Öffentlichkeit Kopftuch tragen möchte, darf das. Ein allgemeines Verbot ist nicht zu begründen.
Ein Gedankenexperiment
Damit ist die Debatte aber nicht zu Ende – aus liberaler Pespektive beginnt sie an genau diesem Punkt. Es gibt nämlich gute Gründe, warum auf das Tragen von Kopftüchern verzichtet werden sollte – aus eigenem (!) Entschluss. Ein Gedankenexperiment hilft zu verstehen, worum es bei der Kopftuchfrage eigentlich geht.
Stellen wir uns vor, die Christen in Deutschland würden sich in großer Mehrheit dazu entschließen, ab sofort 30 cm große Kreuze um den Hals zu tragen. Die Atheisten und Agnostiker ziehen nach und laufen ab sofort mehrheitlich mit Mohammed- und Jesuskarrikaturen auf ihren T-Shirts herum. Den Satanisten fällt sicher auch das eine oder andere zum Thema Kleiderordnung ein. Und die Muslime greifen in großer Mehrheit zu diversen Formen von Kopftuch, Verschleierung bzw. deren Gegenstücken für Männer.
Jedem ist klar, dass sich in diesem Szenario unser gesellschaftliches Miteinander auch und gerade im Alltag massiv zum Negativen hin verändern würde. Es gäbe sehr viele „unausgesprochene“ Verletzungen, gefühlte Beleidigungen, emotionale Herausforderungen, Konfrontationspotentiale und die entsprechenden Gegenreaktionen. Toleranz zu üben würde sehr viel mehr Energien benötigen als im derzeitigen, doch relativ unkomplizierten Miteinander.
Wohlgemerkt: Wir dürften uns de jure für diesen Weg entscheiden; die liberalen Grundrechte ermöglichen im Prinzip so ein Verhalten und eine derartige gesellschaftliche Entwicklung. Das aber führt zur eigentlich interessanten Frage: Selbst wenn wir uns so verhalten dürfen – sollten wir uns dann auch so benehmen? Und darauf ist die Antwort klar: Nein, das sollten wir nicht! Die Begründung dieses Nein führt zu des Pudels Kern der Kopftuchdebatte.
Bürgersinn: Eine liberale Kardinaltugend
Die im Gedankenexperiment skizzierte Gesellschaft unterscheidet sich zum Glück von der unseren. Worin genau? Der entscheidende Punkt liegt in der normativen Wahrnehmung und Akzeptanz des Anderen. Diese ist im Gedankenexperiment eine grundsätzlich andere, weil wir unsere religiöse Orientierung bzw. Einstellung offensiv zur Schau stellen, sie wie eine Monstranz vor uns hertragen. Was heißt das?
Unsere (weitgehend) säkulare und offene Gesellschaft orientiert sich an einem unausgesprochenen normativen Konsens im Alltag: Wir begegnen uns als gleichberechtigte Bürger alle auf der selben normativen Basis, nämlich säkularer Verfassung und säkularer Moral.2)Unter säkularer Moral verstehe ich eine Minimal- oder Kernmoral, die sich im wesentlichen an der Kupfernen Regel orientiert: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg` auch keinem anderen zu! Andreas Edmüller: Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit. KDP, 2013. Dafür haben wir lange gekämpft: Frauen, Homosexuelle, Transsexuelle, Atheisten, Erwerbslose, Behinderte, Geringverdiener, Muslime usw. haben zumindest „offiziell“ den selben normativen Status wie alle anderen Bürger. Männer, Heterosexuelle, Christen, wirtschaftliche Leistungsträger etc. genießen zumindest „offiziell“ keine Privilegien mehr.
Ja, lieber Leser, Sie haben Recht: Das stimmt so nicht. Deshalb die Einschränkung „offiziell“. Speziell das Christentum und seine Kirchen genießen bei uns leider nach wie vor in vielen Bereichen eine Sonderstellung. Nur ist im Grunde mittlerweile allen klar, dass diese nicht durch vernünftige Argumente zu rechtfertigen ist. Es handelt sich um diverse Überbleibsel vergangener Macht und ich bin sicher, dass es uns gelingen wird, sie Schritt für Schritt zu beseitigen. Die argumentative bzw. normative Basis dafür ist durch unsere Verfassung, Aufklärung und Säkularisierung vorhanden. Ähnliches gilt für die Gleichstellung der Frau: Da gibt es auch noch die eine oder andere Baustelle, trotzdem gilt sie „offiziell“.
Zurück zum eigentlichen Argumentationsgang: Religion ist bei uns Privatsache und sollte im alltäglichen bürgerlichen Miteinander erst einmal keine Rolle spielen. Niemand kann und darf Privilegien oder eine Sonderbehandlung einfordern, weil er einer bestimmten Religion oder Konfession angehört. Und niemand darf Nachteile erfahren, weil er nicht an ein bestimmtes Gottesbild glaubt. In Gottesstaaten ist das anders. Dort genießen die Angehörigen der Staatsreligion einen normativen Sonderstatus bzw. diverse Privilegien. Bei uns war vieles auch lange anders: Homosexualität stand lange unter Strafe, Frauen haben erst seit kurzer Zeit die gleichen Rechte wie Männer und auch die Religionszugehörigkeit war lange sozial prägend. Ich selbst habe in meiner niederbayerischen Heimatstadt die Katholische Knabenvolksschule besucht, meine Schwester war auf der Katholischen Mädchenvolksschule und daneben gab es noch eine Evangelische Volksschule, an der – wie komisch – Buben und Mädchen zusammen unterrichtet wurden. Viele Eltern haben tatsächlich darauf geachtet, dass ihre katholischen Kinder keine Freundschaften mit evangelischen Kindern schließen. Die Auflösung dieser Schullandschaft hat damals zu lauten und erbitterten Protesten geführt. Heute lachen wir darüber … das nennt sich zivilisatorischer Fortschritt und ist nicht vom Himmel gefallen.
Diesen normativen Konsens, uns in erster Linie als Bürger zu begegnen, drücken wir unter anderem dadurch aus, dass wir im allgemeinen darauf verzichten, unsere religiöse Einstellung wie eine Monstranz vor uns herzutragen. Es soll darauf einfach nicht (mehr) ankommen. Es kommt auch nicht mehr darauf an, ob eine Frau oder ein Mann den Kaufvertrag für ein Haus, Auto oder Grundstück unterzeichnet.
Das Delta zwischen dem, was ich de jure tun darf und dem, was ich tun oder lassen sollte, um meinen Beitrag für ein friedliches und entspanntes bürgerliches Miteinander in einer offenen Gesllschaft zu leisten, kann man am besten mit dem Begriff des Bürgersinnes charakterisieren. Er besteht unter anderem in der selbstverständlichen Bereitschaft, allen anderen als Bürger zu begegnen – eben unabhängig von deren Geschlecht, Rasse oder Konfession. Und in der Bereitschaft, auf bestimmte Handlungen zu verzichten, die es den anderen erschweren, mich in erster Linie als Bürger zu sehen und zu behandeln. Freiwillig – aus Einsicht! Dieser Bürgersinn ist eine der zentralen zivilisatorischen Errungenschaften von Aufklärung und Säkularisierung und eines der so unauffälligen wie bedeutungsvollen Charakteristika einer offenen Gesellschaft.3)Rousseau arbeitet die normative Bedeutung des Bürgerbegriffes klar und deutlich heraus. Jean-Jacques Rousseau: Gesellschaftsvertrag. Übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard, Stuttgart 1977.
Dieser Bürgersinn betrifft natürlich nicht nur die Frage nach bekenntnisorientierter Kleidung. Er strukturiert und prägt weite Teile unseres Alltags. Darum ist er auch so wichtig für ein vernünftiges Miteinander. Bürgersinn zeigt sich z.B. in dem Bemühen, grundsätzlich respektvoll mit seinen Mitbürgern umzugehen, den öffentlichen Raum nicht über Gebühr zu besetzen bzw. einzunehmen, öffentliches Eigentum mit Sorgfalt zu behandeln, die eigenen Argumente in öffentlicher Diskussion auf Basis von Verfassung und säkularer Moral zu begründen, sich sorgfältig zu informieren, bevor man zur Wahl geht – und in der Wahlkabine als Bürger abzustimmen, nicht als Nutznießer staatlicher Zuwendungen. Das alles muss ich laut Verfassung bzw. de jure streng genommen nicht – sollte es als Bürger aber.
Kopftuch und Bürgersinn
Ich glaube, damit das Unbehagen erklärt zu haben, das Kopftücher, diverse Verschleierungsvarianten und generell demonstrativ zur Schau getragene religöse Symbole auslösen. Und ich glaube gezeigt zu haben, dass dieses Unbehagen normativ berechtigt ist: Das Kopftuch steht in Konflikt mit dem Bürgersinn einer offenen und säkularen Gesellschaft. Hier wird das religiöse Bekenntnis so offensiv wie unübersehbar in das Miteinander eingebracht. Salopp formuliert sendet das Kopftuch folgende Botschaft aus:
Ich bin (in erster Linie) eine Muslima! Religion ist nicht meine Privatsache – jeder soll sehen und wissen, dass ich eine Muslima bin! Ich erwarte, dass mein Gegenüber das berücksichtigt.
Es ist sehr naheliegend, das als Aufforderung zu verstehen, ein Miteinander als Bürger hintanzustellen und Religionszugehörigkeit als bestimmende Eigenschaft des Miteinanders an die erste Stelle zu rücken. Und das wiederum ist bei uns ein klares Signal, die zivilisatorische Entwicklung der säkularen und offenen Gesellschaft wieder zurückzudrehen!
Wer Kopftuch trägt, muss sich darüber klar sein, was das bedeutet: Unser bürgerliches Miteinander und damit eine der Säulen unserer politischen Zivilisation wird grundsätzlich in Frage bzw. zur Debatte gestellt!4)In diesem Sinne sind Arschgeweihmädchen mir lieber als Kopftuchmädchen. Ich nehme an, Peter Gauweiler würde mir, jedenfalls vom Prinzip her, heute zustimmen. Spiegel Online vom 8.12.2009: Mir sind Koptuchmädchen, jedenfalls vom Prinzip her, lieber als Arschgeweihmädchen. Das ist den sogenannten Kopftuchaktivistinnen, die sich so gerne in unseren Talkshows tummeln, durchaus bewusst: Sie betonen zu Recht, dass sie de jure nicht angreifbar sind, lehnen aber gleichzeitig durch ihr Verhalten den Bürgersinn unserer Gesellschaft für sich als Konsensbasis ab. Kurz: Sie wollen eine andere Gesellschaft, sie wollen deren ungeschriebene normative Basis verändern – und zwar hin zu einem zivilisatorischen Zustand, den wir eigentlich schon hinter uns gelassen haben. Integrationsbereitschaft sieht anders aus.
Natürlich gibt es Reaktionen auf Kopftuch und Verschleierung, die auf religiöser Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus basieren. Das alles sind keine guten Gründe, Kopftücher skeptisch zu sehen und sie zu verbieten. Hat man aber erkannt, dass Kopftuch und Verschleierung ein Angriff auf unseren so wertvollen wie hart erkämpften Bürgersinn sind, sollte eines klar sein: Eine liberale Skepsis gegenüber religiösen Bekleidungsformen ist völlig berechtigt. Es ist die Aufgabe von uns Bürgern (!), unser offenes und säkulares Miteinander gegen derartige Angriffe entschlossen zu bewahren. Es ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft. Dazu brauchen wir keine zusätzlichen Gesetze, aber Bürgersinn, Zivilcourage und eine davon getragene Argumentations- und Diskussionskultur.
Mein Fazit in Frageform
- Ist es für gläubige Musliminnen tatsächlich nicht zumutbar, ihre Bereitschaft zur Integration und ihren Bürgersinn durch Verzicht auf das offensive Tragen religiöser Symbole wie Kopftuch oder Verschleierung zu signalisieren?
- Was ist an einem entspannten bürgerlichen und säkularen Miteinander so schlimm?
- Mit welchen Argumenten begründen die Verfechter des offensiven Zurschaustellens religiöser Symbole im alltäglichen Miteinander den von ihnen offensichtlich praktizierten Angriff auf den Bürgersinn unserer offenen und säkularen Gesellschaft?
PD Dr. Andreas Edmüller, 17. September 2016
References
1. | ↑ | Die in München immer öfter beobachtbare Kombination aus engen Jeans, bauchfreiem Top und Kopftuch irritiert mich dabei weit weniger als eine Ganzkörperverhüllung. Ich werte erstere als erfreulich erfolgreichen Angriff der finsteren Mächte der Säkularisierung. |
2. | ↑ | Unter säkularer Moral verstehe ich eine Minimal- oder Kernmoral, die sich im wesentlichen an der Kupfernen Regel orientiert: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg` auch keinem anderen zu! Andreas Edmüller: Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit. KDP, 2013. |
3. | ↑ | Rousseau arbeitet die normative Bedeutung des Bürgerbegriffes klar und deutlich heraus. Jean-Jacques Rousseau: Gesellschaftsvertrag. Übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard, Stuttgart 1977. |
4. | ↑ | In diesem Sinne sind Arschgeweihmädchen mir lieber als Kopftuchmädchen. Ich nehme an, Peter Gauweiler würde mir, jedenfalls vom Prinzip her, heute zustimmen. Spiegel Online vom 8.12.2009: Mir sind Koptuchmädchen, jedenfalls vom Prinzip her, lieber als Arschgeweihmädchen. |