Wo genau ist im deutschen Politikspektrum der Liberalismus eigentlich einzuordnen – eher rechts („nationalliberal“, „liberal-konservativ“), irgendwo in der Mitte (Lindners „mitfühlender Liberalismus“) oder doch vielleicht eher links („linksliberal“, „sozialliberal“)? Die Antwort: Der klassische Liberalismus hat auf unserer Rechts-Links Skala nichts verloren. Und dieses Alleinstellungsmerkmal ist in jeder Hinsicht Auszeichnung und Chance.
Liberalismus: Was ist das?
Der erste Schritt zur überzeugenden Positionierung ist die Begriffsklärung: Der Liberalismus ist eine umfassende staatsphilosophische Konzeption der Gerechtigkeit. Er definiert die Regeln für ein friedliches und gerechtes Miteinander im Staat. Dieses soll die beiden Kerninteressen respektieren, die plausiblerweise alle Bürger haben: Jeder von uns möchte in Sicherheit leben und nach seiner jeweils eigenen Fasson glücklich werden. Die klassischen liberalen Rechte – Sicherheit, Eigentum, geistige Freiheiten und Handlungsfreiheiten – ermöglichen diesen Schutz und sind genau deshalb für jeden einzelnen Bürger so wichtig. Weitergehende Interessen Einzelner oder von Gruppen an staatlichen Aktivitäten, z.B. an Umverteilung, Einrichtung von Privilegien oder Subventionen können nur über eine Verletzung der Kerninteressen anderer Bürger umgesetzt werden. Deshalb werden diese vom Liberalismus konsequent abgelehnt. Kein Mensch soll Untertan sein, instrumentalisiert, bevormundet oder „zwangsgeläutert“ werden.
Wie wird der Liberalismus wahrgenommen?
Die öffentliche Wahrnehmung des Liberalismus ist zur Zeit so verschwommen wie bei sonst keiner politischen Hauptströmung. Die Erklärung dafür ist vielschichtig und zum Teil widersprüchlich. Ein Aspekt ist – genau: die Ironie der Geschichte schlägt zu – der historische Erfolg des Liberalismus: So gut wie jede politische Richtung bekennt sich heute zur Freiheit und zu den meisten Freiheitsrechten. Damit gehen zwar oft recht eigenwillige Uminterpretationen einher, es zeigt aber auch, dass es ohne Freiheit eben „offiziell“ nicht mehr geht. Wenn allerdings eh alle die „gute“ Freiheit wollen – wofür braucht man dann noch den Liberalismus?
Diese Uminterpretationen („Freiheit von zu viel Eigenverantwortung, zu hohen Mieten, zu extremen Meinungen in der Öffentlichkeit, zu hohem Risiko insgesamt etc.“) haben leider auch zu einer weit verbreiteten Skepsis bezüglich der „bösen“ klassischen Freiheit geführt – Ironie Version 2.0.: Für sehr viele Bürger ist diese so eine Art „Faustrecht des Stärkeren“ – und davor haben sie schlicht und einfach Angst.
Zudem ist die Sache des Liberalismus beim selbsternannten Hauptvertreter FDP traditionell in sehr schlechten Händen – wofür und wo deren Funktionäre genau standen (und stehen) war und ist weder erkennbar noch vorhersehbar. Und wenn es dann mal klar war, lag meistens der Geruch von Vettern- und Lobbywirtschaft oder politischer Geschäftemacherei in der Luft. Und die braucht keiner. Kurz: Für viele Bürger ist der Liberalismus inhaltlich schwammig, moralisch fragwürdig und politisch verzichtbar.
Warum ist eine klare Positionierung wichtig?
Klare Begriffe ermöglichen eine klare und ehrliche Positionierung. Diese ist unverzichtbar als Kernelement einer nachhaltigen liberalen Überzeugungsargumentation. Beschreibt man die eigene Position z.B. als „links“ oder „rechts“, wird damit ein Bereich im politischen Koordinatensystem besetzt, der als Interpretationsrahmen für weitere Ausführungen dient – mit allen Assoziationen und emotionalen Verknüpfungen. Kurz: Die Positionierung vermittelt eine erste summarische Aussage zu wesentlichen Inhalten, möglichen Verbündeten und Gegnern.
Ganz pragmatisch betrachtet, sollte man sich nicht ohne wirklich guten Grund dort positionieren, wo sich schon (viele) andere tummeln. Ein Beispiel: Zwischen Union und SPD, also in der „Mitte“, ist im schwarz-rot-grünen Sozialgedrängel weder Platz noch Luft zum Atmen. Man kann sich dort auch nur sehr schwer Gehör verschaffen: Wie gesagt, „Freiheit und Gerechtigkeit“ fordern alle, auch ziemlich lautstark.
Grundsätzlicher betrachtet besteht die Gefahr, sich durch unbedachte Positionierung mit falschen Freunden einzulassen – und diese nicht mehr loszuwerden. Konkret ist das im Fall des Liberalismus gerade am rechten Rand zu beobachten: Dort missfällt vieles am und im Staat, rechts-konservative Gruppen finden (zur Zeit) die Freiheit auch gut (sagen sie jedenfalls), „political correctness“ lächerlich und sehen den Themenkomplex Europa sehr skeptisch – ganz wie der Liberalismus. Hier wäre aus liberaler Sicht allerdings entschlossene und deutliche Distanzierung angesagt – den Grund dafür erkläre ich im Folgenden.
Was ist Rechts, was ist Links?
Die Rechts-Links Achse wird schon lange als Selbstverständlichkeit in Anschlag gebracht, um politische Strömungen oder Parteien einzuordnen. Die Inhalte lassen sich im Rahmen unserer politischen Kultur ganz vage so charakterisieren:
– Ganz Rechts findet sich der braune Giftcocktail aus konsequentem Nationalismus, Militarismus und Rassismus.
– Weiter zur Mitte hin geht es dann deutlich abgemildert mehr um „gesunden“ Patriotismus, eine „wohlstrukturierte“, kompakte und klar hierarchisierte Gesellschaft, verstanden als „traditionelle“ Wertegemeinschaft. Die Toleranz gegen Minderheiten nimmt in dem Maße ab, in dem diese nicht in diese Wertegemeinschaft passen (wollen) und die bestehende „richtige“ Hierarchie gefährden bzw. ablehnen.
– Die Mitte – also der Bereich zwischen Links und Rechts – wird vom „aufgeklärten“, „weltoffenen“ Bürgertum besetzt, das vielen übertriebenen Hierarchisierungs- und Vereinheitlichungstendenzen mit milder Skepsis begegnet. Man ist dort allerdings auch sehr offen für wohldosierte erzieherische Interventionen, damit die Leute im Fall des Falles wieder auf den richtigen Weg kommen und nicht gar zu arg über die Stränge schlagen. So ein bisschen staatliches Gouvernantentum brauchen die Bürger (und Bürgerinnen) halt einfach – zu ihrem eigenen Besten natürlich (und dem des Weltklimas, der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit und der Bewusstseinsschärfung).
– Links davon steht die Sozialdemokratie. Ihr traditionelles Ziel ist eine stark egalitaristisch orientierte Gesellschaft, eine umfassende „Befreiung“ von wirtschaftlichen Zwängen und den Risiken eigenverantwortlicher Lebensführung. Die Gouvernante zieht hier schon andere Seiten auf – die meisten Bürger kriegen das mit der eigenverantwortlichen Lebensführung, der Gesundheitsversicherung und der Rente ja einfach nicht hin und brauchen deshalb eine liebevolle starke Hand.
– Und ganz links dann der rote Giftcocktail: Die zwangsstratifizierte Gesellschaft gleicher Nicht-Individuen (darum gibt es im Sozialismus auch keine Minderheitenfragen mehr), alles prima geplant und gelenkt durch eine allweise Staatsbürokratie – das ganze Wir vom hehren Streben nach Perfektionierung des weltweiten Realnirwanas angetrieben.
– Die Christen sind übrigens so gut wie überall dabei. Das hat den Vorteil, dass man weitgehend risikofrei immer mitregieren kann: Geht es schief, war man im Prinzip nachweislich dagegen bzw. in der Opposition und kann gleich wieder der nächsten Regierung ins Gewissen reden und „mahnende Stimme der Moral“ sein.
Alle eben skizzierten Grundströmungen haben eines gemeinsam: Sie wollen und brauchen einen starken und im Prinzip allgegenwärtigen Staat um die Gesellschaft und die Bürger-Untertanen nach ihren Idealen und Wertvorstellungen zu formen. Für die roten und braunen Extreme ist das klar. Aber auch alle anderen Parteien in Deutschland glauben fest an den Gestaltungs- und Formungsauftrag des Staates (bzw. ihrer Parteifunktionäre). Die ganzen „alternativlosen“ und mittlerweile sattsam in ihrer Nicht-Wirkung bekannten Interventionsprogramme veranschaulichen das: Wirtschaftssubventionen (Atom-, Kohle-, Finanz- und Solarindustrie), Umverteilung im Namen sozialer Gerechtigkeit (Eigenheimzulage, Familienpolitik, Renten- und Gesundheitssystem), Weltrettung (Klimapolitik, Entwicklungshilfe, Militärintervention) und Seelenrettung (Staatsfinanzierung der Parteien und teilweise der christlichen Kirchen).
Kurz: Sie alle fühlen sich dazu berechtigt und aufgerufen, „ihre“ Bürger bzw. Untertanen für höhere Zwecke in die Pflicht zu nehmen – ob die wollen oder nicht. Nüchterner betrachtet kann man sie alle als Ausprägungen kollektivistischer oder kommunitaristischer Gesellschafts- und Politikvorstellungen klassifizieren – das staatliche Gewaltmonopol ist ihr wichtigstes und liebstes Werkzeug. Ganz nüchtern betrachtet geht es ihnen oft genug darum, andere Menschen vor ihren Karren zu spannen und diesen ziehen zu lassen – mit ihnen selbst an den Zügeln.
Wo steht der Liberalismus?
Der Liberalismus kann nicht sinnvoll auf der Rechts-Links Skala eingeordnet werden. Er unterscheidet sich von allen anderen Grundströmungen klar und deutlich durch den konsequenten Verzicht, Bürger und Gesellschaft zu formen und auszurichten. Wie oben skizziert, garantiert er jedem von uns den Schutz zentraler Sicherheiten und Freiheiten. Solange niemand seinen Mitbürgern (unzumutbaren) Schaden zufügt, darf und soll er machen, was er für richtig hält. Auf der Kollektivismus-Individualismus Achse gehört der Liberalismus natürlich an das richtige Ende; seine Einordnung bei Links-Rechts ist ein Denkfehler bzw. Etikettenschwindel. Deshalb machen Wortbildungen wie „links-, rechts-, oder nationalliberal“ keinen Sinn: Es handelt sich dabei um die Einordnung einer individualistischen Konzeption in die Familie politischer Kollektivismen – und das geht eben nicht. Wer sich irgendwo von Rechts nach Links positioniert, hat den Boden des Liberalismus schon verlassen.
Auf dieser Rechts-Links Achse lauern allerdings diverse falsche Freunde auf die Liberalen: Punktuelle inhaltliche Übereinstimmungen (stärkere Bürgerrechte, mehr Markt, keine Militärinterventionen, weniger Gleichheitshysterie) sind nur oberflächlich. An anderer Stelle geht es den Rechts-Links Strömungen umso konsequenter um die Stärkung staatlicher (und ihrer) Macht. Der Liberalismus läuft deshalb Gefahr, vor den Karren kollektivistischer Interessen gespannt und in Schein-Koalitionen aufgerieben zu werden.
Wenn meine Überlegungen stimmen, dann wird auch die derzeitige Lage der FDP verständlich. Ein Teil dieser Partei sieht sich irgendwo auf der Links-Rechts Achse zu Hause; ein anderer nimmt den Begriff Liberalismus ernst und ist entschlossen, ab jetzt den Individualismus zu schärfen und zu stärken. Diese inhaltlichen Differenzen sind nicht gradueller, sondern grundsätzlicher Natur und genau deshalb wohl dauerhaft kaum zu überbrücken. Ehrlicher wäre es, dies offen einzugestehen und organisatorische Folgen daraus abzuleiten.
Das Charakteristikum des Individualismus erklärt meines Erachtens auch, warum sich der Liberalismus traditionell schwer damit tut, sich politisch zu organisieren: Ihm fehlt ja (zum Glück und unser aller Wohl) die inhaltlich definierte Vision, wie Menschen leben sollten oder die Gesellschaft „wertemäßig“ durchstrukturiert sein soll. Und damit fehlt dem Liberalismus auch die Motivation sich in Dinge einzumischen, die ihn Nichts angehen. Genau diese Gschaftlhuber-Mentalität treibt aber leider sehr viele Zeitgenossen an und in die Politik. Immer nur deren Übergriffe abzuwehren ist aus liberaler Sicht natürlich ermüdend – da kann man mit seinem Leben wirklich was besseres anfangen, z.B. eine Firma betreiben oder zum Bergsteigen gehen. Und: Welcher Individualist wird schon gerne Parteifunktionär, auch bei einer individualistischen Partei? Da muss man sich dann nur mit lauter anderen Individualisten im eigenen Verein und mit den diversen kollektivistischen Spinnern in den anderen Parteien herumärgern. Danke, siehe oben: Firma, Bergsteigen etc.
Die Stärke des Liberalismus: Individualismus
Das Alleinstellungsmerkmal Individualismus macht aber auch die wesentliche Stärke des Liberalismus aus. Er verfügt über die einzige Gerechtigkeitskonzeption, die den Einzelnen – jeden Einzelnen – konsequent vor Kollektiven und deren Ansprüchen und Zumutungen schützt. Dadurch erst entsteht Raum für Entwicklung, für Entfaltung, für einen selbstbestimmten Lebensweg. Und das ist doch auch die normative (und optimistische) Kernbotschaft der Aufklärung und des Humanismus – die Besinnung auf den Wert und die Würde des Individuums, dessen Fähigkeit sein Leben zu einem guten und glücklichen zu machen, seine Fähigkeit friedlich mit anderen zusammenzuleben und zusammenzuarbeiten.
Aber genau das konnte der Liberalismus vielen Menschen noch nicht vermitteln. Oft sehen sie im Liberalismus paradoxerweise mehr Gefahren lauern als im vermeintlich beschützenden und menschliche Wärme spendenden Kollektiv. Dazu kommt, dass es von interessierter Seite sehr geschickt verstanden wurde und wird, den Liberalismus (die Marktwirtschaft, den Kapitalismus und überhaupt das allgegenwärtige neoliberale Ungeheuer) für die Ungerechtigkeiten und Krisen des Wohlfahrtsstaates (und der ganzen Welt) verantwortlich zu machen – obwohl wir meilenweit von freier Marktwirtschaft und dem Prinzip Eigenverantwortung entfernt sind (und waren).
Das ist leider so, muss aber nicht so bleiben. Der Liberalismus ist die mit Abstand humanste und bestbegründete philosophische Gerechtigkeitskonzeption und verfügt mit der österreichischen Schule über eine so ausgefeilte wie erklärstarke Wirtschaftstheorie. Jetzt geht es darum, diese theoretische Stärke in Überzeugungskraft umzusetzen. Das geht nur, wenn es der Liberalismus versteht, selbstbewusst ein klares und attraktives Bild seiner Werte, seiner theoretischen und praktischen Inhalte zu entwickeln – und das beginnt mit der konsequenten Abgrenzung von der Links-Rechts Achse.
PD Dr. Andreas Edmüller, 7.11.2013.