Klaus Kelle veröffentlicht regelmäßig als Focus-Online-Experte Gastkommentare im Focus; er ist „gelernter Journalist“ und betreibt einen Blog mit dem Titel „Denken erwünscht“. Er gehört zu den Stimmen, die unsere Flüchtlingsthematik von Anfang an kritisch begleitet haben. Als Journalist hat er meines Erachtens einen soliden Ruf. Mein Eindruck ist, dass er politisch dem konservativ-nationalen Bereich zugeordnet werden kann – diese Einschätzung hat für meine folgenden Ausführungen aber keine Bedeutung. Mir geht es konkret um Kelles Beitrag mit folgendem Titel:
Wie die ARD über Chemnitz berichtet, hat mit Journalismus nichts mehr zu tun1)Titel des Kommentars von Klaus Kelle in Focus Online, 3.9.2018.
Wirklich nicht? Ich habe gerade Urlaub, es ist seit Ende August leider kein Bergwetter und so habe ich die Vorgänge in Chemnitz bzw. die Berichterstattung dazu ausführlich und in Ruhe verfolgen können. Meine Einschätzung ist allerdings eine ganz andere als die Kelles: Gerade die Berichterstattung von ARD und ZDF war solide, abgerundet und sehr informativ.
Kelles These
drückt er gleich im ersten Absatz seines Focus-Kommentars in aller Klarheit aus:
- Die ARD-Tagesschau ist ein Musterbeispiel dafür, wie Fake News geht und warum die Öffentlich-Rechtlichen nichts mehr mit Journalismus zu tun haben.2)Klaus Kelle: Wie die ARD über Chemnitz berichtet, hat mit Journalismus nichts mehr zu tun. Focus Online, 3.9.2018.
Eine sehr harte, geradezu brutale Behauptung. Sie sollte entsprechend solide und nachvollziehbar abgesichert werden. Also: Wie lautet
Kelles Begründung?
In Chemnitz gab es am 1.9.2018 parallel 2 große Demonstrationen: 8000 Teilnehmer sind dem Aufruf von AfD und Pegida gefolgt, 3000 Leute waren bei der Demo der Evangelischen Kirche. Diese Daten stammen aus Kelles Artikel.
- Und wissen Sie was? Nicht ein einziger Teilnehmer der fast drei Mal größeren AfD-Demonstration kam in der Tagesschau zu Wort. Redner auch nicht. Niemand. Null. Nada. Stattdessen ein kurzer Kameraschwenk auf den völkischen Abschreckfaktor Björn Höcke von der AfD und dann O-Ton auf O-Ton das bunte Deutschland. Ich bin seit 35 Jahren Journalist, aber ich denke immer: Sowas können die doch nicht bringen. Das ist ja wie früher in der DDR.3)Klaus Kelle: Wie die ARD über Chemnitz berichtet, hat mit Journalismus nichts mehr zu tun. Focus Online, 3.9.2018.
Klaus Kelles zweite Begründung seines Frontalangriffes bezieht sich auf einen objektiven Fehler der ARD. In den Tagesthemen vom Sonntag danach wurden in einem Bericht über die beiden Demos am 1.9. Videoaufnahmen mit rechtsradikalen Parolen einer Demonstration vom 27.8. eingespielt und der AfD-Demo vom 1.9. zugeordnet. Kelle sieht darin Absicht:
- Es ist ein Skandal, was diese von uns mit Zwangsgebühren finanzierten Leitmedien hier treiben. … dass eine stark wachsende Zahl von Bürgern diese Art von Volksverblödung durchschauen und einfach abschalten …. 4)Klaus Kelle: Wie die ARD über Chemnitz berichtet, hat mit Journalismus nichts mehr zu tun. Focus Online, 3.9.2018.
Keine Frage, mit der Fehlzuschreibung der Videoaufnahmen hat die ARD einen dicken Fehler gemacht. Dafür gab es auch eine offizielle Entschuldigung vor laufender Kamera. Nur: Ich sehe das nicht als Ausdruck systematischen Vorgehens oder gar einer Taktik der ARD. Fehler, sogar grobe Fehler passieren den besten Medien. Ich kann mich noch gut an die Blamage mit den angeblichen Tagebüchern Adolf Hitlers erinnern …. Dieser Vorfall ist also viel zu unbedeutend, um Kelles brutalen Vorwurf zu stützen, die Berichterstattung der ARD zu Chemnitz habe mit Journalismus nichts zu tun und hätte DDR-Niveau.
Der Faktencheck
Grundsätzlich gilt, dass auch ein öffentlich-rechtlicher Sender nicht verpflichtet ist, in jeder Nachrichtensendung z.B. die Teilnehmer beider Demos in gleicher Ausführlichkeit zu Wort kommen zu lassen. Es kann viele gute Gründe geben, so vorzugehen, wie laut Kelle die ARD-Tagesschau. Vielleicht wollte von Pegida und AfD niemand mit den Reportern reden? Das soll ja vorkommen. Vielleicht haben die Befragten was gesagt, aber es war nicht ganz jugendfrei? Auch das soll vorkommen. Vielleicht wurden deren Standpunkte an anderer Stelle bereits ausführlich erfasst, die der „anderen Seite“ aber noch nicht?
- Ich habe gerade in der Mediathek der ARD die Tagesschau vom 1.9.2018 abgerufen. Das erste Kurz-Interview zu den Demos wird mit Martin Kohlmann von Bündnis „Pro Chemnitz“ geführt. Der gehört zwar meines Wissens nicht zur AfD, repräsentiert aber sehr wohl die „rechten“ Demonstranten. „Pro Chemnitz“ hatte seine Demo aufgelöst und mit der von Pegida und der AfD vereint. Herrn Kelle scheint das entgangen zu sein. Aber wie oben ja schon angemerkt: Fehler passieren – auch den Allerallerbesten.
- Ich konnte nirgendwo Videos zu Reden beim Trauermarsch finden. Meine Vermutung: Die AfD hatte einen Schweigemarsch angekündigt und deshalb wurden auch gar keine Reden gehalten. Und vermutlich hat die ARD deshalb auch keine Redner von AfD oder Pegida gezeigt. Aber vielleicht weiß Herr Kelle da mehr als ich …..
Wichtig ist allerdings für öffentlich-rechtliche Sender, der Öffentlichkeit insgesamt eine zutreffende, journalistisch professionelle, ausgewogene und aktuelle Berichterstattung mit erhellenden und informativen Hintergrundberichten anzubieten. Wie sieht es damit aus?5)Die Mediatheken von ARD und ZDF dokumentieren deren Berichterstattung zu Chemnitz in sehr übersichtlicher Form. Der Leser kann meine Ausführungen bzw. Einschätzungen also leicht überprüfen.
Insgesamt kamen die Teilnehmer diverser Demonstrationen von Pegida und AfD in vielen Sendungen bei ARD und ZDF sehr ausführlich zu Wort.
- Das gilt für die Berichterstattung „vor Ort“, z.B. für den mittlerweile kultverdächtigen LKA-Hutbürger, der trotz kurz zuvor erfolgter dienstlicher Schulung zum Thema Pressegesetz ganz eigene Ansichten zu diesem sensiblen Themenkomplex artikuliert hat. Man kann sagen was man will, aber: Er ist sehr ausführlich zu Wort gekommen. Das gilt auch für viele „ganz normale“ Demo-Teilnehmer, die spontan befragt wurden – bisweilen blieb es allerdings beim Versuch.6)Geben sie dazu bei Google Hayali Video Chemnitz ein. Es gibt bei der ARD sogar Interviews mit Michael Stürzenberger aus München, der zusammen mit einigen Mitstreitern zur Demo der AfD angereist war. Er kommt da wie viele andere auch in Ruhe zu Wort.7)Morgenmagazin des WDR vom 3.9.2018.
- Klaus Kelle erwähnt es nicht, man sollte es aber vor dem Hintergrund seines Angriffs auf die öffentlich-rechtlichen Sender anmerken: Bei diversen Demonstrationen in Chemnitz gab es wiederholt körperliche Angriffe von Teilnehmern von AfD-Demos auf Journalisten und Kameraleute. Auch diese Attacken wurden journalistisch sauber dokumentiert und die Öffentlichkeit darüber informiert.8)Zusammenfassung bei Dominik Lauck: Noch nie so viel Hass auf Medien erlebt. Tagesschau.de vom 2.9.2018.
- ARD und ZDF waren ausgesprochen bemüht, in Hintergrundreportagen eine ausgewogene Sicht auf die Chemnitzer Bürger und deren Meinung zu den Vorfällen anzubieten. Selbstverständlich kamen da auch Sympathisanten und Aktivisten von Pegida und AfD zu Wort.9)Ein sehr gelungenes Beispiel für unaufgeregten und soliden Journalismus stellt dieser Beitrag des MDR vom 3.9.2018 dar: Ist das noch meine Stadt?
- Gleiches gilt für Talkshows, die ich mir eigentlich nur im akuten Notfall anschaue. Ein Beispiel: Am 30.8.2018 konnten bei Maybritt Illner sehr klar und ausführlich auch die Überlegungen vorgebracht werden, die verständlich machen sollen, woher der ganze Frust in Chemnitz bzw. Sachsen kommt.10)Antje Hermann bei Mabritt Illner: Hetzjagd in Chemnitz – Bewährungsprobe für den Rechtsstaat. ARD vom 30.8.2018
Mein Fazit zu Kelles Vorwürfen
- Die Berichterstattung von ARD und ZDF zu Chemnitz kann in ihrer Gesamtheit eindeutig als solider Journalismus eingestuft werden.
- Kelles konkrete Behauptung, Vertreter der „rechten“ Demos wären in der Tagessschau nicht zu Wort gekommen ist falsch – zumindest für die Sendung am 1.9. um 20 Uhr.
- Seine Aussage, Redner von AfD bzw. Pegida beim Trauermarsch seien nicht gezeigt worden, ist vermutlich irreführend: Es war ein Schweigemarsch und meines Wissens wurden gar keine Reden gehalten.
- Kelles Vergleich von ARD und ZDF mit dem „Journalismus“ in der DDR ist ganz einfach kompletter Quatsch. Offensichtlich hat er in diesem Zusammenhang große Wissens- und Bildungslücken.
- Was am beunruhigendsten an Kelles Ausführungen ist: Er verstärkt damit die Verschwörungstheorie von der Lügenpresse – und das ist ebenfalls ganz einfach Quatsch, gefährlicher Quatsch sogar.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich behaupte nicht, dass ARD und ZDF immer vorbildlichen Journalismus praktiziert hätten. Haben Sie nicht. Und werden sie auch in Zukunft nicht.11)Das wird übrigens auch der Focus nicht schaffen. Gerade zu Beginn der Flüchtlingsthematik 2015 müssen sie sich den Vorwurf der Einseitigkeit gefallen lassen. Zudem hat der BR jahrzehntelang ein ganz eigenes Verhältnis zur CSU gepflegt. Aus meiner Sicht kommen auch religions- und kirchenkritische Themen viel zu kurz. Außerdem werden viel zu wenig Spiele des TSV 1860 live übertragen. Und weitere kritische Aspekte wüsste ich auch noch …..
Aber: Es wäre unrealistisch und unfair, von unseren Medien Perfektion zu fordern. Auch für sie gilt Murphys Law. Genau deshalb ist ja die Presse- und Meinungsfreiheit so wichtig: Die verschiedenen Medien sollen sich gegenseitig herausfordern und kontrollieren. Klaus Kelle ist das mit seinem Kommentar zu ARD und ZDF eindeutig nicht gelungen. Er hat Quatsch produziert, oder: Fake News.
PD Dr. Andreas Edmüller, 4. September 2018
References
1. | ↑ | Titel des Kommentars von Klaus Kelle in Focus Online, 3.9.2018. |
2, 3, 4. | ↑ | Klaus Kelle: Wie die ARD über Chemnitz berichtet, hat mit Journalismus nichts mehr zu tun. Focus Online, 3.9.2018. |
5. | ↑ | Die Mediatheken von ARD und ZDF dokumentieren deren Berichterstattung zu Chemnitz in sehr übersichtlicher Form. Der Leser kann meine Ausführungen bzw. Einschätzungen also leicht überprüfen. |
6. | ↑ | Geben sie dazu bei Google Hayali Video Chemnitz ein. |
7. | ↑ | Morgenmagazin des WDR vom 3.9.2018. |
8. | ↑ | Zusammenfassung bei Dominik Lauck: Noch nie so viel Hass auf Medien erlebt. Tagesschau.de vom 2.9.2018. |
9. | ↑ | Ein sehr gelungenes Beispiel für unaufgeregten und soliden Journalismus stellt dieser Beitrag des MDR vom 3.9.2018 dar: Ist das noch meine Stadt? |
10. | ↑ | Antje Hermann bei Mabritt Illner: Hetzjagd in Chemnitz – Bewährungsprobe für den Rechtsstaat. ARD vom 30.8.2018 |
11. | ↑ | Das wird übrigens auch der Focus nicht schaffen. |