In Teil 5 habe ich erklärt, dass und wie der Rechtspopulismus eine Strategie verfolgt, die Staatsverdrossenheit der Bürger zu verstärken, das bestehende System nachhaltig zu diskreditieren und in letzter Analyse dauerhaft zu schwächen. Es fehlt noch die Antwort auf die Frage, warum vor diesem Hintergrund so viele Wähler den Rechtspopulisten ihre Stimme geben. Warum finden so viele unzufriedene Bürger ausgerechnet den Rechtspopulismus so attraktiv?
Schritt 3: Der Rechtspopulismus als starker Retter in der Not
Die Antwort in aller Kürze: Vor dem Hintergrund der beiden ersten Schritte positioniert sich der Rechtspopulismus in Schritt 3 seiner Strategie als einzige Alternative zum versagenden System, als starker Retter in der (vermeintlichen) Not. Für den Erfolg dieser rational nicht belastbaren Selbstdarstellung spielen 4 Aspekte eine wichtige Rolle.
Aspekt 1: Infantilisierung als Brandbeschleuniger
Die in Teil 4 skizzierte Infantilisierung unserer Gesellschaft erleichtert es dem Rechtspopulisten enorm, sich über seine Kritik an realen Schwachstellen und seiner These vom Systemversagen hinaus als bessere Alternative zu positionieren. Was heißt das?
Der Glaube an Vater Staat als universaler und (all)mächtiger Problemlöser ist mittlerweile selbst in formal gebildeten Kreisen fast schon eine Selbstverständlichkeit, er ist zu einer Art von Religion geworden. Man stößt bei Diskussionen in ermüdender Regelmäßigkeit immer wieder auf diese und ähnliche Meinungsbilder:
- Ja wer sollte sich denn sonst um mich oder uns kümmern, wenn nicht der Staat?
- Aha, wir haben ein Problem: Was sollte denn der Staat machen, um es zu lösen?
- Wir gründen eine Bürgerinitiative und machen dem Staat die Hölle heiß.
Auf die historisch betrachtet mit Maximalabstand erfolgreichste Idee, dass man nämlich im Rahmen einer offenen und liberalen Gesellschaft bzw. Marktwirtschaft die Dinge einfach mal selber anpackt – ganz ohne staatliche Anleitung – kommt nach Jahrzehnten universalstaatlicher Bürgerbetreuung kaum noch jemand. Diese geistige Verengung bzw. Verflachung spielt dem Rechtspopulismus natürlich direkt in die Karten:
- Es ist in gewisser Weise folgerichtig, sich nach einem anderen Vater umzusehen, wenn ich glaube, dass der alte mich nicht mehr mag oder sogar im Stich lässt. Zumal der neue Vater sich mit einer prima facie recht verführerischen Botschaft an seine potentiellen Kinder wendet: Ihr gehört dazu, Ihr seid wichtig, wichtiger als die Anderen, ja sogar am wichtigsten. Ihr seid unschuldige Opfer, es ist Alles die Schuld der liberalen-globalen-feministischen-europäischen-kapitalistischen Eliten! Wir kümmern uns natürlich in erster Linie um Euch und nicht um die, die gar nicht zu uns gehören. Und wir schicken die Schuldigen zum Teufel, die Euch das Alles angetan haben!
- Ein Vater muss stark sein, um mich schützen und die Familie zusammenhalten zu können. Wirkt oder ist ein Vater schwach, erzeugt das Ängste und Unsicherheit in der Familie. Der Rechtspopulismus reagiert auf die Selbstschwächung, politische Orientierungslosigkeit und normative Fragmentierung im Universalstaat mit seiner kommunitaristischen Erzählung von gesellschaftlicher Einheit und Stärke: Wir wissen, wo es lang geht – bei uns ziehen alle an einem Strang – und wer nicht mag, dem werden wir schon helfen.
Bei vielen Bürgern kommt diese rhetorische Kraftmeierei offenbar gut an. Ist der Gemeinschaftsgedanke erst einmal etabliert, wirkt eine einheitlich und entschlossen handelnde Gemeinschaft, wie der Rechtspopulismus sie als Lösungsmöglichkeit vorgaukelt, natürlich erst einmal attraktiv. Zumal man als infantilisierter „Bürger“ dann die unbequeme Lösungsverantwortung an jemand anderen, nämlich Vater Staat, delegieren darf.
Aspekt 2: Der Kritiker weiß, wie es besser geht
Ein weit verbreiteter Fehlschluss erklärt zu einem weiteren Teil die aktuellen Wahlerfolge der Rechtspopulisten. Selbst wenn deren Kritik stimmen und die aufgezeigten Schwachstellen tatsächlich existieren sollten, dann folgt daraus ja eigentlich nicht, dass die Lösungsansätze der Kritiker funktionieren oder besser sind als andere. Leider liegt die Betonung im letzten Satz auf eigentlich – denn immer wieder begehen Menschen genau diesen Fehlschluss:
- A hat mit seiner Kritik an Zustand Z Recht. Also weiß A, wie Z verbessert werden kann.
Beispiele für diesen Denkfehler gibt es in Hülle und Fülle:
- Die Brexiteers haben Recht mit ihrer Kritik an der EU: Die ist viel zu bürokratisch und langsam. Also sollten wir die EU verlassen – am besten gleich ohne Abkommen.
- Die FPÖ hat Recht mit ihrer Kritik an der jahrzehntelangen Koalition aus ÖVP und SPÖ in Österreich: Keine Ideen, keine Durchsetzungskraft, zu viel Postengeschacher. Also wählen wir jetzt die FPÖ – die wissen wie es besser geht.1)Das war tatsächlich Haiders Erfolgsgeheimnis zur Etablierung der FPÖ: Er hat sehr lange sehr hartnäckig und oft genug überzeugend bestehende Missstände klar und deutlich angesprochen und so Glaubwürdigkeit aufgebaut. „Sein“ Bundesland Kärnten hat er dann allerdings in die Pleite gewirtschaftet.
- Die AfD hat Recht mit ihrer Kritik am Management der Flüchtlingsthematik: Viel zu viel Bürokratie, Unklarheit und Unentschlossenheit. Also: Schotten dicht!
- Marktwirtschaftliche Lösungen funktionieren oft nicht perfekt. Also muss der Staat die Dinge in die Hand nehmen.
Warum sind das Kurz- bzw. Fehlschlüsse? Das ist ganz einfach mit Hilfe der folgenden Überlegungen zu erkennen. Es könnte ja sein, dass
- die kritisierte Situation tatsächlich nicht verbessert werden kann – wer sagt denn, dass es immer eine perfekte Lösung gibt?
- bereits die Erklärung für die vom Kritiker erkannten Schwachstellen ganz oder teilweise unzutreffend ist;
- des Kritikers Lösungsideen gar nicht funktionieren oder die Situation sogar noch weiter verschlimmern würden.
Anders ausgedrückt: Die Glaubwürdigkeit, die der Kritiker durch sein Aufzeigen der Schwachstellen gewinnt, wird sehr oft ohne guten Grund bzw. viel zu leichtfertig auf seine Kompetenzbehauptung bezüglich einer Lösung übertragen.2)Im Grunde haben wir es hier mit einem ganzen Bündel an Denkfehlern bzw. Manipulationstaktiken zu tun. Fachlektüre dazu: Andreas Edmüller und Thomas Wilhelm: Manipulationstechniken – So wehren Sie sich. Freiburg, München, Stuttgart, 4. Auflage, 2016. Nikil Mukerji: Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstandes. Berlin, Heidelberg, 2017.
Das Problem: Um über die Qualität von Lösungsvorschlägen Klarheit zu gewinnen, ist bei politischen Fragestellungen in der Regel eine Menge an Wissen und analytischen Fähigkeiten nötig. Man müsste sich also sehr oft auf Experten verlassen bzw. auf Politiker, die sich auf deren Expertise berufen. Dummerweise gibt es quer durch alle Lager genügend Pseudo-Experten und Politiker, die gerne auf deren Pseudo-Expertise zurückgreifen, um ihre Agenda umzusetzen.3)https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/wissenschaftliche-integritaet/ Es wäre also eine ausführliche und kompetente Debatte nötig – gerade das Charakteristikum einer offenen Gesellschaft und des Liberalismus.
Unabhängig davon lassen rechtspopulistische „Lösungen“ sich oft genug schon mit einfachen Mitteln als Unfug erkennen – wenn man sich in Ruhe die oben skizzierten Fragen vornimmt und beantwortet. Ich muss kein Experte sein, um Rassismus oder das Ideal einer einheitlichen Nationalkultur als Hirngespinste und wirtschaftliche Abschottung als schädlich für die allermeisten Beteiligten zu erkennen.
Also: Diese Debatte bzw. nüchterne Prüfung würde eine rechtspopulistische Agenda mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überleben. Das wissen oder ahnen die meisten rechtspopulistischen „Politiker“ auch – und genau das führt uns zum nächsten Aspekt ihrer bis heute recht erfolgreichen Strategie.
Aspekt 3: Die Enttabuisierung des Primitiven
Ich komme jetzt zu einem Thema, dessen diverse Facetten von vielen Beobachtern und Kommentatoren gerne als das Kernelement rechtspopulistischer Bewegungen gesehen werden: Zu deren unerschöpflichem Reservoir an Manipulationstaktiken. In meiner Analyse ist das lediglich einer von mehreren Bausteinen der Erklärung des rechtspopulistischen Erfolgs – wenn auch ein wichtiger. Worum geht es genau?
Völlig zu Recht wird immer wieder auf die Manipulationstaktiken und rhetorischen Tricks der Rechtspopulisten hingewiesen: Hirnrissige Verschwörungstheorien wie die von der Umvolkung, kapitale Fehleinschätzungen wie die einer abgeschotteten, nationalen Binnenwirtschaft mit Strafzöllen und Subventionen als Erfolgsmodell, normativ und empirisch unhaltbare Konzepte wie das des Rassismus, dreiste Verdrehungen der Wahrheit bis hin zur offenen Lüge in Dauerwiederholung, skrupellose persönliche Diffamierungen der politischen Gegner, Verharmlosung von und Aufstachelung zur Gewalt …. das alles und noch viel mehr gehört zweifelsfrei zum rechtspopulistischen Werkzeugkasten.
Nur, seien wir ehrlich: In abgemilderter, weniger gehäufter und abgeschwächter Form lassen diese Elemente sich auch bei den anderen Parteien nachweisen. Sie gehören leider zum politischen Geschäft. Diese bereits bekannten Beispiele zeigen das in aller Klarheit:
- Das Märchen vom bösen Neo-Liberalismus;
- die Idee der Enteignung von Wohnraum zur Senkung von Mieten;
- die Vorstellung, man könne „unsere Kultur“ durch Aufhängen von Kreuzen an den Wänden von Amtsstuben stärken;
- die Behauptung, unsere Bundeswehr sei gemäß ihrem Auftrag einsatzfähig;
- die jahrzehntelange Verhinderung einer angemessenen Gesetzgebung zum Themenkomplex Asyl-Einwanderung-Anwerbung durch ideologische Borniertheit;
- das Märchen von den sicheren Renten;
- das zähe Vertuschen von Lügen und Fehlschlägen;
- formelhafte Rücktrittsforderungen, wenn ein Politiker einen Fehler macht;
- der Glaube an Konjunkturprogramme zur Ankurbelung der Wirtschaft;
- die Duldung rechtsfreier Räume bzw. die Beschönigung politischer Gewalt wie in Teil 3 skizziert;
- …
Wo liegt also der Unterschied zum Rechtspopulismus? Dessen Alleinstellungsmerkmal ist in diesem Zusammenhang ein anderes. Ich nenne es die Befreiung der Primitivität aus den Fesseln der Anständigkeit. Paradebeispiele für meine These liefern jeden Tag „Politiker“ wie Trump, Johnson, Gauland oder Orban. Wie ist das zu verstehen?
Betrachten wir im ersten Schritt den erklärten Feind aller Rechtspopulisten. Der Liberalismus ist nicht nur eine Konzeption der Gerechtigkeit oder ein Gesellschaftsmodell. Er bringt auch geschriebene und ungeschriebene Normen der politischen Vernunft und Anständigkeit mit sich. Es geht darum, über kompetente und rationale Diskussion zu belastbaren Argumenten und funktionierenden Lösungen zu kommen, um einen Wettbewerb der Ideen. Und es geht darum, dass diese Diskussionen und das daraus resultierende Handeln sich an einem Werterahmen orientieren: Streben nach Wahrheit, Toleranz gegenüber anderen Ansichten und Menschen, Skepsis gegen Patentlösungsversprechen, Mut zum Meinungswechsel, Selbstverständnis als freier und eigenverantwortlicher Bürger, Respekt vor den Individualrechten. Man kann das kurz und prägnant so zusammenfassen: Der Liberalismus ist die gesellschaftliche und politische Seite der Aufklärung.
Von diesem Ideal sind wir in der Praxis natürlich sehr oft sehr weit entfernt. Aber: Bis vor kurzem hatte es beachtliche normative Kraft. Das heißt, wir haben immer wieder versucht, unser politisches Miteinander daran auszurichten und weiter zu entwickeln: Promotionsbetrug, rassistische Äußerungen, Belügen des Parlamentes, Gewaltverherrlichung führen zu massiver öffentlicher Kritik und oft genug zu einem Rücktritt. Die öffentliche Meinung in Politik und Gesellschaft hat sich immer wieder an diesem liberalen Ideal orientiert.
Betrachten wir jetzt im zweiten Schritt den erklärten Feind des Liberalismus. Der Rechtspopulismus arbeitet mit hoher Energie und beachtlichem Erfolg daran, genau dieses Ideal für unseren Umgang miteinander bzw. dessen normierende Kraft zu zerstören. Die Mittel dazu sind so plump, rabiat und dreist wie erfolgreich:
- Ständige gezielte Verstöße gegen gesellschaftliche Konsenspositionen wie der Ächtung von Rassismus oder Gewalt;
- respektfreies Trommelfeuer von persönlichen Diffamierungen der politischen „Feinde“;
- massive Lügen-Lawinen zu allen möglichen Themen;
- Weigerung, eigene Behauptungen auch nur ansatzweise zu begründen;
- Weigerung, entlarvte Lügen zurückzunehmen;
- ständiger Appell an alle möglichen Verschwörungstheorien und andere primitive Vorstellungen;
- skrupelloser Umgang mit politischer Macht;
- …
Konkrete Beispiele dazu kann ich mir unerfreulicherweise sparen: Schauen Sie einfach in die Tagespresse, was Donald Trump, Boris Johnson und ihre Kollegen die letzten Tage so alles abgeliefert haben. Auch das Ibiza-Video um die Herren Strache und Gudenus liefert beeindruckendes Anschauungsmaterial.4)https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/strache-ibiza-und-das-eigentliche-problem/
Wichtig: Wir sollten das nicht (nur) als persönliche Unzulänglichkeiten dubioser Polit-Abenteurer abtun. Nicht jeder Rechtspopulist ist so dumm, ungebildet und durchgeknallt wie Trump. Dahinter steckt strategisches Kalkül:
- Man schafft in schneller Folge immer neue Präzedenzfälle, in denen klare Verstöße gegen die liberale politische Kultur bzw. deren Normen und Werte ohne wirkungsvolle Sanktionen bleiben. Das ermutigt natürlich die eigenen Anhänger, sich ähnlich zu verhalten und hat über diesen Multiplikatoreffekt einen zersetzenden Effekt auf die Kultur des gesellschaftlichen Miteinanders. Deren geschriebene und ungeschriebene Regeln werden einfach in diesem Dauerfeuer zerschossen und verlieren dadurch rapide ihre normierende Kraft. Die sozialen Medien sind der optimale Verstärker dieser Strategie.
- Man entzieht so die eigenen Meinungen und Positionen dem rationalen Diskurs mit seinen Mechanismen der kritischen Überprüfung: Wie will man denn überhaupt noch mit einem Trump, Johnson oder Höcke bzw. deren Anhängern argumentieren? Es gelten ja offensichtlich keine Regeln mehr für vernünftige Argumentation. Fakten? Ungültig! Logik? Ungültig! Erfahrungswerte? Ach was! Damit wird dem Liberalismus natürlich eine seiner wirkungsvollsten Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten genommen: Die offene, anständige und rationale Diskussion.
- In Summe verändert man dadurch die vom Liberalismus geprägte politische Kultur hin zu einer Art von Faustrecht, in dem Machtmittel wie Lüge, Diffamierung, Verleumdung, Appell an Emotionen und Wahnideen ihre ganze Wirkmächtigkeit ungebremst entfalten können.5)Sie wissen ja schon, was jetzt kommt. Falls diese Taktiken sie an bestimmte religiöse Phänomene erinnern sollten: Stimmt!
Auch in diesem Zusammenhang erfährt die rechtspopulistische Strategie wirkungsvolle Unterstützung durch die Vertreter des Universalstaates: Seit Jahren zeitigt die im Kern illiberale und entmündigend-bevormundende Diskussion zum Thema politisch korrekte Ausdrucksweise immer wieder groteske und lächerliche Ergebnisse – und schwächt genau damit eine robuste liberale Argumentations- und Diskussionskultur.6)https://blog.projekt-philosophie.de/argumente-check/feministische-sprachkritik/
Vor diesem ganzen Hintergrund wirkt die rechtspopulistische Enttabuisierungsstrategie auf viele Bürger tatsächlich befreiend. Sie haben sicher selbst schon, z.B. bei Sympathisanten der AfD oder Pegida, diese oder ähnliche Aussagen gehört oder gelesen:
- Endlich hat mal jemand den Mut zu sagen, wie es ist!
- Endlich darf man wieder seine Meinung sagen!
- Die sind gut – die lassen sich nicht einschüchtern und den Mund verbieten!
Aspekt 4: Aktivierung des rechtsextremen Meinungs- und Überzeugungspotentials
Dieser Aspekt ist so unkompliziert zu beschreiben wie erklärstark: Es gibt ganz einfach ziemlich viele Leute, die das rechtspopulistische Gebräu von Haus aus und ganz grundsätzlich inhaltlich attraktiv finden – und die gleichzeitig den Liberalismus verachten und ablehnen. Ansonsten würden sie ihre Stimme nicht den Rechtspopulisten geben. Wir sollten uns in diesem Zusammenhang immer vor Augen halten, dass Strache wenige Tage nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos genügend direkte Stimmen bekam, um ins EU-Parlament einzuziehen, dass es überhaupt keinen Zweifel daran geben kann, dass Trump, Farage oder Johnson dreiste Dauerlügner ohne Respekt für politischen Anstand sind, dass beachtlichen Teilen der AfD liberale Individualrechte ein Dorn im Auge bzw. ein Hindernis sind. Trotzdem – besser: deswegen – werden sie gewählt.
Die Erklärung dafür ist nicht besonders schwierig: Auch zu den besten Zeiten der sich am Ideal des Liberalismus orientierenden Staaten gab es immer ein beachtliches Element an rechts-kommunitaristischem Denken und vor allem Fühlen:
- Nationalismus: Ohne Nationalflagge und Absingen der zugehörigen Hymne kommt anscheinend immer noch kein Staat aus; ein Appell an die nationale Solidarität war und ist eine gern benutzte Argumenthülse. Gleiches gilt für das nationale Wohl, dem es sich in bestimmten Situationen unterzuordnen gelte.
- Rassismus: Schaut man genauer hin, so ist unschwer zu erkennen, dass die allermeisten Nationalismen eine Wurzel im Rassismus haben. Der deutsche Nationalismus ist z.B. eine Konstruktion, die Anfang des 19. Jahrhunderts den Germanenwahn mit dem Hass auf die Franzosen kombiniert hat. Und dass der englische Jingoismus und der US-amerikanische Nationalismus weiß sind, kann auch niemand bestreiten.
- Autoritätsgläubigkeit: Es ist kein Zufall, dass viele rechtspopulistische Bewegungen einen starken Rückhalt in der christlichen Religion bzw. deren Kirchen haben. Polen, Ungarn und vor allem der evangelikale Kern der Wählerschaft Trumps veranschaulichen das in aller Klarheit. Dazu kommt, dass die ehemals sozialistischen Staaten des Ostblocks oder die Militärdiktaturen Südeuropas lange Jahrzehnte an potentieller Entwicklung hin zum Liberalismus nicht durchlaufen konnten.
- Irrationalismus: Mittlerweile ist es ein Gemeinplatz, dass die Welt immer unübersichtlicher und komplexer wird. Auf diese Herausforderung reagieren sehr viele Menschen nicht – wie der grundsätzlich optimistische Liberalismus das mit einer gewissen Blauäugigkeit annimmt – mit vermehrten Bildungsanstrengungen. Sie machen sich vielmehr auf die Suche nach einfachen und umfassenden Erklärungsansätzen. Diese versprechen, mit wenig geistigem Aufwand sehr vieles, vielleicht sogar alles Wichtige verständlich machen zu können. Das erklärt zum einen die enorme Attraktivität der zeitgenössischen Esoterik-Industrie und vieler religiöser Strömungen, zum anderen die florierende Branche der Verschwörungstheorien. Kombiniert man diese Flucht in die Irrationalität mit den Möglichkeiten des Internets, ergibt sich eine sehr dynamische Mischung.7)https://blog.projekt-philosophie.de/argumente-check/gesucht-und-gefunden-die-bestaetigungsfalle-und-das-internet/
Es ist tatsächlich ganz einfach: Die Rechtspopulisten haben dieses kommunitaristische Potential erkannt und verstanden, wie man es für ihre politischen Zwecke nutzbar machen kann: In erster Linie galt es, die Ideale des Liberalismus, das Gegengewicht bzw. Korrektiv zu diesen kommunitaristischen Elementen, zu diskreditieren und in ihrer Funktion als gesellschaftliches Ideal zu schwächen. Diese Strategie habe ich weiter oben ausführlich erläutert.
Dazu kommt noch ein Baustein, der selten genannt wird, aber um so herausfordernder für den Liberalismus und sehr wichtig für den Rechtspopulismus ist.
- Demokratische Wahlverfahren: Empirische Untersuchungen in den USA zeigen erschreckend deutlich, dass die allermeisten Wähler in Bezug auf die Belange der Politik völlig uninformiert sind, häufig populären Irrtümern unterliegen und systematisch irrational sind.8)Bryan Caplan: The Myth of the Rational Voter: Why Democracies Choose Bad Policies. Princeton, 2007. Jason Brennan: Against Democracy. Princeton, 2016. Anders ausgedrückt: Wir haben hier ein optimales Betätigungsfeld für geschickte und skrupellose Manipulatoren und Demagogen! Ich sehe keinen Grund, warum das in Europa anders sein sollte – meine Erfahrung in zahlreichen Diskussionen über Jahrzehnte hinweg macht diese Annahme sogar ungemein plausibel. Meiner Ansicht nach kann man einen weiteren Eintrag auf diese Liste setzen: Die allerwenigsten Zeitgenossen können im Bereich des Normativen, also von Moral und Gerechtigkeit, eine belastbare Argumentation aufbauen oder verstehen. Hier dominieren ohne jede ernsthafte Konkurrenz Wunschdenken und irrationale bzw. emotionale Wirrnis. Das Problem: Die Rechtspopulisten haben das in aller Klarheit erkannt und nutzen es in aller Konsequenz für ihre Zwecke.
Gerade der letzte Punkt, also der Verweis auf die demokratische Wahl als Werkzeug des Rechtspopulismus, wird bei einigen Lesern Zweifel hervorrufen. Diese sollten schnell und dauerhaft in Nachdenklichkeit überführt werden: Trump, Johnson, Farage, Le Pen, Höcke, die FPÖ, die AfD, Bolsonaro, Salvini, Brexit, Orban … das alles sind Politiker, Parteien und Phänomene, die demokratisch gewollt und legitimiert sind. Diese Nachdenklichkeit sollte vor allem jene ergreifen, die die repräsentativ-parlamentarische Demokratie abbauen und die plebiszitäre Demokratie stärken möchten. Der Rechtspopulismus sieht darin eine große Chance, ich eine enorme Gefahr.
Mein Fazit
Es gab in den westlich-liberal geprägten Gesellschaften und Staaten immer einen Bestand an rechts-kommunitaristischen Meinungsbildern und Überzeugungen. Der klare Gegenentwurf zu diesem Gebräu ist natürlich die „offizielle Verfassungsphilosophie“ des Liberalismus mit seiner normativen Gleichstellung aller Personen, seiner offenen Gesellschaft, die immer wieder Altes und Bewährtes in Frage stellt und durch Neues, Vielversprechendes ersetzt, bisweilen natürlich auch Fehlschläge erzeugt, den Bürgern ein hohes Maß an Mündigkeit, Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Toleranz zumutet und zutraut.
Der Rechtspopulismus hat es im Zusammenspiel mit dem Universalstaat verstanden, den Liberalismus zu diskreditieren und als normatives Ideal stark zu schwächen, das rechts-kommunitaristische Gebräu zu aktivieren und politisch salonfähig zu machen. Und jetzt haben wir den Salat.
Zieht man in Betracht, dass der Liberalismus die normative Philosophie der Aufklärung ist, dann lässt sich die rechtspopulistische Bewegung klar und überzeugend als sehr gefährlicher Frontalangriff auf die Aufklärung kategorisieren. Viele meiner Kollegen in Philosophie und Geisteswissenschaften sehen in der Aufklärung eine historische Epoche, die irgendwann ihren Höhepunkt durchlaufen hat und von anderen Entwicklungsphasen abgelöst wurde. Ich halte das für eine Fehleinschätzung: Die Aufklärung hat gerade erst begonnen, ist immer noch ein Anfang und dementsprechend angreifbar und verletzlich.
Zum Schluss noch eine Bitte in eigener Sache
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PD Dr. Andreas Edmüller, 21. September 2019
References
1. | ↑ | Das war tatsächlich Haiders Erfolgsgeheimnis zur Etablierung der FPÖ: Er hat sehr lange sehr hartnäckig und oft genug überzeugend bestehende Missstände klar und deutlich angesprochen und so Glaubwürdigkeit aufgebaut. „Sein“ Bundesland Kärnten hat er dann allerdings in die Pleite gewirtschaftet. |
2. | ↑ | Im Grunde haben wir es hier mit einem ganzen Bündel an Denkfehlern bzw. Manipulationstaktiken zu tun. Fachlektüre dazu: Andreas Edmüller und Thomas Wilhelm: Manipulationstechniken – So wehren Sie sich. Freiburg, München, Stuttgart, 4. Auflage, 2016. Nikil Mukerji: Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstandes. Berlin, Heidelberg, 2017. |
3. | ↑ | https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/wissenschaftliche-integritaet/ |
4. | ↑ | https://blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/strache-ibiza-und-das-eigentliche-problem/ |
5. | ↑ | Sie wissen ja schon, was jetzt kommt. Falls diese Taktiken sie an bestimmte religiöse Phänomene erinnern sollten: Stimmt! |
6. | ↑ | https://blog.projekt-philosophie.de/argumente-check/feministische-sprachkritik/ |
7. | ↑ | https://blog.projekt-philosophie.de/argumente-check/gesucht-und-gefunden-die-bestaetigungsfalle-und-das-internet/ |
8. | ↑ | Bryan Caplan: The Myth of the Rational Voter: Why Democracies Choose Bad Policies. Princeton, 2007. Jason Brennan: Against Democracy. Princeton, 2016. |