Kopftuch und Liberalismus: Die Diskussion

BuchtitelZu keinem meiner Blogeinträge habe ich zeitnah so viele kritische und zustimmende Kommentare erhalten wie zu Kopftuch und Liberalismus. Die meisten Einwände bezogen sich – für mich sehr überraschend – auf meine These, der liberale Staat dürfe eine strikt neutrale Dienstkleidung von Beamten und Angestellen fordern. Hier sind meine Antworten; ich habe versucht, ähnliche Einwände zusammenzufassen.

Einwand 1: Gesinnung kann man nicht an der Kleidung festmachen!

Der Grund dafür ist prima facie nachvollziehbar: Kleidung und Symbolik sind mehrdeutig und genau deshalb ist der Schluss von einer bestimmten Kleidungsform auf eine Gesinnung kein eindeutiger. Wer sagt denn, dass z.B. eine Kopftuchträgerin sich nicht untadelig neutral verhalten wird? Deshalb sollte man Verbote mit großer Vorsicht handhaben.

Meine Argumentation für ein Kopftuchverbot beruht auf der Prämisse, der liberale Staat dürfe seinen Beamten und Angestellten das Tragen von politischen, weltanschaulichen, religiösen Symbolen verbieten, weil der Staat den Bürgern gegenüber zu strikter Neutralität bezüglich dieser Aspekte verpflichtet ist. Diese Prämisse wird ihrerseits durch folgende Überlegungen gestützt: Der liberale Staat verfügt über das Gewaltmonopol. Wesentlicher Bestandteil der liberalen Staatsphilosophie ist deshalb die Frage nach der Kontrolle dieser enormen Machtfülle. Diese Frage wiederum hat zwei Aspekte. Erstens, wie kann Machtmissbrauch wirkungsvoll verhindert werden? Zweitens, wie kann dem Bürger klar und deutlich signalisiert werden, dass diese Machtkontrolle funktioniert, nicht nur auf dem Papier steht und er sich darauf verlassen kann, dass der Staat und seine Institutionen sie sehr ernst nehmen?

Der zweite Punkt ist in unserem Zusammenhang sehr wichtig. Eine neutrale Dienst- bzw. Berufskleidung ist eine von mehreren Möglichkeiten, diese Neutralität bzw. die Wirksamkeit der Machtkontrolle zum Ausdruck zu bringen. Deshalb darf der Staat das Tragen von Symbolen verbieten, die geeignet sind, diese Neutralität zu verletzen bzw. in Frage zu stellen. Beispiele dafür gibt es sehr viele: Lehrer dürfen im Unterricht keine Parteiabzeichen tragen, auch nicht solche verfassungskonformer Parteien oder Gruppierungen. Uniformen sind grundsätzlich als Ausdruck einer neutral auftretenden und handelnden Staatsmacht zu verstehen. Parteiaufkleber haben am Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei oder auf einem Gummiknüppel nichts verloren. Normierte Kleidung vor Gericht dient dem selben Zweck: Die Roben von Richter, Staatsanwalt und Verteidiger sind auch Symbole der Verpflichtung auf den neutralen Umgang mit der durch den Staat verliehenen Macht. Immer daran denken: Urteile werden im Namen des Volkes (!) gesprochen!

Dieses Neutralitätssignal kann aber auch in wesentlich alltagsnäheren bzw. alltäglicheren Interaktionen zwischen Bürger und Staat wichtig werden. Sehr oft haben Staatsbeamte einen Ermessensspielraum für ihre Entscheidungen zu Anliegen der Bürger. Ich habe das gerade bei der Autozulassung erlebt – da kann ein Vertreter der Obrigkeit jederzeit seine bürokratischen Erbsenzählergelüste (oder ganz einfach seinen Frust) gegenüber den weitgehend wehrlosen Bürgern intensiv ausleben. Und wir bezahlen ihn dafür auch noch. Außer Zähneknirschen hat man nicht viele realistische Reaktionsmöglichkeiten. Gleiches gilt für zahlreiche Ermessensentscheidungen der Finanzbehörden, der Gewerbeaufsicht usw. Als Bürger habe ich selbstverständlich Anspruch darauf, neutral und professionell behandelt zu werden und der Staat sollte alles tun, um klarzustellen, dass dieser Ermessensspielraum ausschließlich und zuverlässig neutral genutzt wird. Und genau deshalb ist eine konsequent neutrale Dienstkleidung sinnvoll und geboten. Übrigens ist das auch im Interesse der Staatsbeamten: Unmissverständlich neutrale Kleidung schaltet eine mögliche Quelle für Vorwürfe der Parteilichkeit aus. Auch deshalb dürfen bestimmte Kleidungsformen im Zweifelsfall verboten werden.

Einwand 2: Neutrale Kleidung schafft Ungleichheiten bzw. Bevorzugungen!

Was heißt das? Stellen wir uns einen Beamten und Hardliner der Religion A vor: Er ordnet sein gesamtes Leben, Denken und Fühlen den Geboten seiner Gotttheiten unter, betet oft und geißelt sich gerne, folgt strikten und einschränkenden Trink- und Essgewohnheiten. Bestimmten Bevölkerungsgruppen steht er aus religiösen Gründen sehr ablehnend gegenüber. Seine Kleidung ist allerdings konsequent neutral, seine Religion stellt diesbezüglich keine Forderungen. Stellen wir uns im Vergleich dazu eine stark säkularisierte verbeamtete Gläubige der Religion B vor: Sie pflegt einen ausgesprochen weltlichen Lebensstil, betrachtet ihre Mitmenschen in erster Linie als Mitmenschen und Mitbürger und distanziert sich in ihrem ganzen Wesen von jeder Form von Vorurteil und Diskriminierung. Aus Gründen der Familientradition bzw. aus Gewohnheit trägt sie aber sehr gerne ein religiöses Symbol, z.B. ein Kreuz oder ein Kopftuch. Würde in derartigen Fällen ein Verbot von Kopftuch oder Kreuz nicht zu einer Ungleichbehandlung führen bzw. am Kern des Problems vorbeigehen? Und ist es deshalb nicht unzumutbar?

Meine Antwort auf diesen Einwand dürfte mittlerweile klar sein. Die Forderung nach neutraler Dienstkleidung bedeutet sicher für die davon Betroffenen Unbequemlichkeit bzw. Zähneknirschen in unterschiedlichen Härtegraden. Damit umzugehen obliegt aber den Betroffenen selbst bzw. ihrem Erwartungsmanagement und ihrer Impulskontrolle als erwachsene Bürger. Ihr Bürgersinn ist gefragt. Sie wissen ja, auf was sie sich bei der Bewerbung für den Staatsdienst einlassen. Die damit verknüpfte emotionale Herausforderung ist bekannt und zumutbar. Deshalb sollte man davon ausgehen, dass sie vollumfänglich akzeptiert wird. Anders ausgedrückt: Die Zumutung einer neutralen Dienstkleidung ist legitim, da transparent und begründet.

Das gilt übrigens ganz allgemein: Jedes Gesetz eines liberalen Staates wird sich auf unterschiedliche Personen und deren konkrete Erwartungen und Gefühle unterschiedlich auswirken. Beispiele:

  • Dem einen Staatsdiener fällt es leicht, eine Frau als Vorgesetzte zu akzeptieren, dem andern nicht – spricht das gegen Frauen als Vorgesetzte bzw. die normative Gleichstellung der Frau?
  • Dem einen Bürger fällt es leicht, die marktwirtschaftlichen Freiheiten zu seinen Gunsten zu nutzen, der andere kommt auf keinen grünen Zweig – spricht das für eine Einschränkung der Vertrags- oder Gewerbefreiheit?
  • Selbst wenn nur wenige Bürger regelmäßig von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen – spricht das dafür, dieses Recht einzuschränken, weil es der Mehrheit der Bürger „eh wurscht“ ist und sich dadurch Geld sparen ließe?

Also: Die Frage, ob ein Gesetz, eine Erlaubnis oder ein Verbot gerecht ist, ist unabhängig davon zu beurteilen, wie leicht oder schwer es Einzelnen fallen mag, sich daran zu orientieren, wie gerne sie das tun und wie oft sie dadurch tangiert werden. Genauer: Die im Einwand skizzierte unterschiedliche „emotionale Belastung“ ist irrelevant für die Frage nach der Legitimität der Forderung nach neutraler Dienstkleidung.

Einwand 3: Das Verhalten ist wichtig, nicht die Einstellung!

Ein sehr geschätzter Leser hat diesen Einwand so erläutert: Man kann vom Staat Neutralität erwarten. Aber individuelle Personen bzw. Beamte haben nun mal eine Weltanschauung. Von denen kann ich nur erwarten, dass sie sich neutral verhalten. Die Frage wäre, ob ein Kopftuch wirklich die Annahme begründet, dass sich eine Muslima mit Kopftuch nicht neutral verhalten würde.

Meine Antwort umfasst 2 Teile. Zum einen verweise ich noch einmal auf die oben entwickelten Überlegungen: Es geht um die Signalwirkung der Kleidung, nicht um das konkrete Verhalten im Einzelfall. Zum anderen greife ich auf inhaltliche Aspekte von Christentum und Islam zurück. Was heißt das? Sowohl Christentum als auch Islam stehen in weiten Teilen bzw. einflussreichen Interpretationslinien für eine Werteordnung, die in Kernbereichen inhaltlich und begründungstheoretisch im Widerspruch zu der des liberalen Rechtsstaates steht (aus dessen Perspektive ich ja auch argumentiere). Die Beispiele sind bekannt: Die Gleichberechtigung der Frau ist kein Bestandteil der Mehrheitsauffassung dieser Religionen, Homosexualität gilt ihnen weithin als Sünde bzw. als moralisch verwerflich, Atheismus als moralischer Makel, Abtreibung als Mord, das religiöse Gesetz steht über dem weltlichen des liberalen Rechtsstaates usw.1)Andreas Edmüller: Die Legende von der christlichen Moral. Marburg 2015. Ufuk Özbe: Kritik der liberalen Auslegungen des Islam. Aufklärung und Kritik, Ausgabe 1/2016.

Als Bürger und Steuerzahler habe ich selbstverständlich Anspruch auf Interaktionen mit dem Staat bzw. dessen Vertretern, die sich im liberalen Werterahmen bewegen. Religiöse Symbole wie Kreuz oder Kopftuch erzeugen aber sofort und völlig nachvollziehbar begründete Zweifel an der Verlässlichkeit des Staatsvertreters, diesen normativen liberalen Rahmen zu akzeptieren und zu respektieren. Ich sehe mich ja einer (mir unbekannten) Person gegenüber, die mir durch das offene Tragen religiöser Symbole prima facie signalisiert, dass sie in zwei nicht kompatiblen Wertesystemen verhaftet ist – und das ist nicht das, was der Staat mir als Bürger, der diesen Staat ja finanziert, zumuten darf. Also: Wenn der betreffende Staatsdiener sich kompromisslos der liberalen Rechtsordnung verpflichtet fühlt – warum möchte oder muss er dann ein Symbol tragen, das ein gegenteiliges Signal aussendet? Kein Unternehmen wird es akzeptieren, dass die eigenen Mitarbeiter mit Logos der Konkurrenz herumlaufen – während der Arbeitszeit. Möchten Sie sich auf der Demo gegen Kirchensteuer einem Einsatzleiter der Polizei mit Kreuz um den Hals gegenübersehen, als Homosexueller vor Gericht einer Staatsanwältin mit Kopftuch oder als atheistischer Abiturient einer Prüfungskommission im Fach Geschichte, in der ein Mitglied Kopftuch trägt und das andere ein 20 cm großes Kreuz um den Hals hängen hat? Eben.

Die religiöse Extrawurst

In letzter Analyse setzen alle diese Einwände implizit eine normative Prämisse voraus, die der Liberalismus nicht akzeptieren kann. Es wird nämlich von einer besonderen (!) Schutzwürdigkeit religiöser Motive bzw. Einstellungen ausgegangen. Diesen wird z.B. im Vergleich zu politischen Motiven stillschweigend eine Sonderstellung eingeräumt.

Das wird über eine Analogiebetrachtung deutlich. Sogar in der BRD, einem nicht klassisch liberalen Staat, ist es selbstverständlich, dass wir Staatsdienern das Tragen politischer (!) Symbole im Dienst nicht gestatten: Lehrer/Richter/Polizisten laufen im Dienst nicht mit Parteiabzeichen am Revers herum. Nicht einmal mit den Abzeichen der Parteien, die unsere Werteordnung klar und unmissverständlich vertreten. Worauf es mir ankommt: Keiner der 3 oben diskutierten Einwände wäre vorgebracht worden, ginge es um das Verbot politischer Symbole an der Dienstkleidung.

Warum also den Religionen eine Extrawurst braten? Eine belastbare Begründung dafür gibt es natürlich nicht. Im Liberalismus werden religiöse Überzeugungen genau so wie moralische, politische, esoterische etc. geschützt – nicht mehr und nicht weniger. Brian Leiter hat dazu ein so lesenswertes wie argumentativ solides Buch verfasst: Why Tolerate Religion?2)Princeton und Oxford, 2013.Das heißt konkret, dass religiöse Motive selbstverständlich nicht dazu berechtigen, die Sicherheit und die Freiheit der Mitbürger in unzumutbarer Weise zu beeinträchtigen. Noch konkreter: Beschneidung ist und bleibt Körperverletzung; Kinderehen sind nicht akzeptabel – es geht dabei um Sex mit Minderjährigen und oft genug um Pädophilie; Schächtung ist und bleibt Tierquälerei; unser Arbeitsrecht sollte selbstverständlich für alle Arbeitnehmer gelten – und religiöse Symbole haben während der Dienstzeit, genau wie politische Abzeichen, nichts an der Kleidung verloren.

Eine Erklärung für diesen Sonderstatus religiöser Motive gibt es allerdings schon: Es handelt sich dabei um ein Relikt vergangener Kirchenmacht. Es gibt bekanntlich mehrere dieser Privilegien-Überbleibsel: Lehrstühle für Theologie an unseren Universitäten und Konkordatslehrstühle an diversen Fakultäten, Erhebung der Kirchensteuer durch den Staat, verschiedene Kanäle der offenen und verdeckten Religionsfinanzierung etc. Ja, es stimmt: Diese Extrawurst haben sich die christlichen Konfessionen bei uns verschaffen können. Damit haben sie erfolgreich das Toleranzgebot bzw. das Recht auf Religionsfreiheit zu ihren Gunsten auf unzulässige Weise verschoben. Das heißt aber nicht, dass wir das akzeptieren müssen. Im Gegenteil: Wir sollten diese Privilegien so schnell und so gründlich wie möglich abschaffen – im Namen der Gerechtigkeit.

Zum Schluss noch ein Angebot: Ich bin gerne bereit, das Thema religiöse Extrawurst ausführlicher zu behandeln – ich freue mich auf Einwände und Anregungen der Leser.

PD Dr. Andreas Edmüller, 6. November 2016

References   [ + ]

1. Andreas Edmüller: Die Legende von der christlichen Moral. Marburg 2015. Ufuk Özbe: Kritik der liberalen Auslegungen des Islam. Aufklärung und Kritik, Ausgabe 1/2016.
2. Princeton und Oxford, 2013.

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