Die Islamisierung gesellschaftlicher Probleme

_20160823_150747Seit vielen Jahren lesen wir in der Presse regelmäßig über „muslimische Gewalt“ 1)Beispielsweise: www.zeit.de/online/2008/03/jugendgewalt-kroenig, gesichtet Februar 2018, „muslimische Parallelgesellschaften“, „gescheiterte muslimische Integration“, „muslimische Kriminalität“. Probleme wie mangelnde Integration oder Kriminalität scheinen direkt den Islam zu betreffen.

Es ist nicht zu leugnen, dass viele Muslime an eine problematische Interpretation ihrer Religion glauben. Genauso wenig kann man leugnen, dass das Weltbild religiöser Menschen wesentlich durch ihre Religion geprägt wird und somit ihr Handeln bestimmt. Oder dass terroristische Anschläge und selbst Ehrenmorde häufig im Namen des Islams begangen werden – der Islam somit den Tätern selbst als alleinige erwähnenswerte Motivation gilt.

Auf der anderen Seite kann man ziemlich sicher sein, dass all diese Probleme mehrere Ursachen haben: soziale, wirtschaftliche, politische oder kulturelle. Zu Recht verweisen zahlreiche Studien, Fachliteratur und Presseartikel auf die Bedeutung von Bildung, gesellschaftlicher Teilhabe und beruflicher Perspektiven, etwa bei Jugendkriminalität und gescheiterter Integration.

Leider soll der Verweis auf diese anderen Ursachen häufig vom „Problem Islam“ ablenken und ist teilweise durch die Angst motiviert, Islamfeindlichkeit zu schüren, also durch wohlgemeinte, aber falsche Rücksichtnahme auf „die Muslime“. Gläubige Muslime dagegen wollen meist ihren Glauben „reinhalten“ vom Makel unschöner Aspekte.

Dabei gibt es mindestens drei gute Gründe, das staatliche Augenmerk auf die anderen Ursachen zu konzentrieren:

Erstens: Fokussiert sich der Staat auf den Islam als Ursache eines Problems, stärkt er paradoxerweise die Rolle des Islams.

Manche Probleme werden so erst recht zu islamischen, bzw. religiösen Problemen uminterpretiert und gemacht. Das führt zu einer ungewollten Religionisierung im Allgemeinen und einer Islamisierung im Besonderen.

Ob Integration oder Kriminalität – wird einseitig der Islam als Ursache genannt, bläht man den Islam zu einem mächtigen Gegner auf und übersieht andere Ursachen.

Zweitens: Um diese vermeintlich islamischen Probleme zu bekämpfen, verletzt der Staat das Neutralitätsgebot. 

Dies führt langfristig zu einer Erosion des säkularen Staates. Die unschöne Folge wäre ein Rückschritt in eine vormoderne Vergangenheit.

Was darf der neutrale Staat?

Unser Staat ist theologisch neutral (oder sollte es zumindest sein) und maßt sich keine Einmischung in Religionen an. Es ist auch nicht Aufgabe des Staates Positivlisten, Unbedenklichkeitsscheine und Anständigkeitsbescheinigungen zu erstellen oder zu beurteilen, wessen Islamauslegung richtig oder falsch ist. Sobald es Menschen gibt, die eine Auslegung vertreten, ist diese als gegeben zu nehmen. Religion ist für den Staat nichts, ohne die Menschen, die sie dazu machen. Der Staat hat grundsätzlich nicht zu urteilen, ob eine Religion richtig oder falsch ausgelegt wird. Ein wegweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat das im Jahr 2000 noch einmal verdeutlicht: Der Staat darf weder Lehre noch Schriften einer Religion beurteilen, sondern lediglich die Auslegung konkreter Gläubiger anhand weltlicher Kriterien bewerten:

  • „Der Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität (…) verwehrt es dem Staat, Glaube und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten. Mangels Einsicht und geeigneter Kriterien darf der neutrale Staat im Bereich genuin religiöser Fragen nichts regeln und bestimmen (…). Das hindert ihn freilich nicht daran, das tatsächliche Verhalten einer Religionsgemeinschaft oder ihrer Mitglieder nach weltlichen Kriterien zu beurteilen, auch wenn dieses Verhalten letztlich religiös motiviert ist.“ 2)Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 2BvR1500/97, 19. Dezember 2000. Zur Verfassungsbeschwerde der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland e.V., Randnotiz 89

Es geht also nicht darum, zu beurteilen, ob jemand ein guter oder schlechter Muslim ist, ob er seine Religion richtig oder falsch interpretiert, ob er sie gar „missbraucht“ – das wäre eine theologische Anmaßung des Staates. Der Staat darf nur beurteilen, ob eine Meinung verfassungswidrig ist oder nicht.

Säkularisierung ist keine Errungenschaft des Christentums

Angesichts des vermehrten Auftretens von Personen, die radikalen und antidemokratischen Versionen ihrer Religion (nicht nur des Islams) anhängen, sollte man daran erinnern, dass die Säkularisierung weder im Christentum angelegt war, noch widerstandslos von den Kirchen angenommen wurde. 3)Andreas Edmüller: Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist. Marburg, 2015. Die Einführung des französischen Laizismus führte auch nicht geradewegs in die heutige Praxis der friedlichen Trennung und Koexistenz von Kirche und Staat. 1905 wurde die Religion nicht nur in die Privatsphäre verbannt, sondern auch der Verfassung unterworfen. So mussten Priester, die weiterhin predigen wollten, einen Eid auf die Verfassung leisten. Wir erinnern uns kaum daran, denn die meisten Christen sind heute stark ansäkularisiert und die Kirchen im Vergleich zu früher eher zahm. Aber im Falle eines religiösen Aufbegehrens muss der Souverän sich wieder entschlossen behaupten. Innerhalb des vom Grundgesetz abgesteckten Rahmens ist jeder frei, seine Religion auszuüben. Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, aber die freiheitliche Grundordnung darf deshalb selbstverständlich nicht zur Debatte gestellt werden.

Die Säkularisierung ist noch nicht vollendet

Dennoch geriert sich der Staat gelegentlich als Theologe. Häufig genug mischt er sich in die Auslegung des Islams ein; Vertreter des Staates reden auf einmal von „missbrauchter Religion“ oder von „falscher Auslegung“. Um den Islamismus zu bekämpfen, greift der Staat z.B. punktuell auf die Hilfe von Imamen zurück, womit er das Problem erst recht islamisiert. (In einigen Städten sollen Imame zu kompetenten Schlüsselfiguren ihrer Gemeinden und zu Partnern des Staates ausgebildet werden. Zugleich sind natürlich gut integrierte und engagierte Imame zu begrüßen. Aber das muss anders erwirkt werden) Damit verleiht er den Imamen eine staatliche Autorität, die in einem säkularen Staat eigentlich nicht vorgesehen ist und nicht vorkommen sollte. Selbst wenn der damit bezweckte Idealfall (sinkende Kriminalitätsrate unter Jugendlichen, bessere Integration, Verhinderung von Radikalisierungen) einträte, würde der Staat seine eigenen Prinzipien damit beschädigen. Abgesehen davon, dass der Staat den muslimischen Gemeinden die meisten Muslime erst zuführen müsste und die zuständigen Imame mit staatlicher Macht ausgestattet wären – Ziel des Staates kann nicht sein, gute Muslime zu erziehen, sondern verfassungstreue Bürger. Der Staat hat im Übrigen nichts dagegen, wenn letztere zugleich gute Muslime sind.

Drittens: Der Staat trägt damit zu einer Konsolidierung islamischer Gemeinschaften bei. Langfristig verfestigt und verstärkt er sogar kommunitaristische Weltbilder, hier mit dem Kollektiv „die Muslime“. 

Für Adorno war die „blinde Vormacht aller Kollektive“ eine der Bedingungen der „Barbarei“, womit er den Holocaust meinte.

  • „Die Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen fortdauern.“ 4)Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft I/II, Gesammelte Schriften, ab S. 674, 1966

In der vielbeschworenen Abgrenzung „Wir“ und „die Muslime“ kommt regelmäßig zum Ausdruck, Muslime gehörten doch nicht wirklich zu „uns“. Dabei sollten wir uns daran gewöhnen, Muslime in Deutschland zuerst als Bürger und erst dann als Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft anzusehen. Vielen deutschen Muslimen geht es derzeit wahrscheinlich wie dem Journalisten, Literatur- und Theaterkritiker Ludwig Börne, der 1832 beklagte:

  • „Die einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sei; die andern verzeihen mir es; der dritte lobt mich gar dafür; aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.“ 5)74. Brief aus Paris vom 7. Februar 1832, gutenberg.spiegel.de/buch/briefe-aus-paris-1678/74

Beobachtungen über die deutsche Öffentlichkeit und die Muslime

Gegenüber Muslimen verhält sich die Öffentlichkeit in der Tat etwas widersprüchlich. Wir verlangen eine vollständige individuelle Integration: Sie sollen Bürger dieses Landes sein. Gleichzeitig nehmen wir sie in Kollektivhaft als Mitglieder einer muslimischen Gemeinschaft. Diesen Widerspruch spüren nicht nur die Muslime selbst. Die Reaktionen sind aber teilweise genauso widersprüchlich.

  • „Als ob es einen vernünftigen Muslim geben könnte, der die Mordtaten in Paris gutheißen würde. Schon die Forderung, sich davon zu distanzieren, hat etwas Beleidigendes. Und die allermeisten Nichtmuslime wissen das auch.“ 6)Giovanni di Lorenzo: Mut ist schnell gesagt, in DIE ZEIT Nr. 3, 15. Januar 2015, S. 1

urteilt die ZEIT ungewöhnlich scharf und unterschlägt dabei die erschreckend zahlreichen, demnach „unvernünftigen“ Muslime. Die persönliche Kränkung, in Zusammenhang mit den Attentätern gebracht zu werden, scheint gerade bei religiösen Muslimen so schwer zu wiegen, dass sie das Entsetzen über Anschläge bei den Betroffenen in den Schatten zu stellen vermag. Exemplarisch dafür bringt die muslimische Journalistin Kübra Gümüsay ihr Gefühl der Hilflosigkeit zum Ausdruck:

  • „Immer wieder musste ich mich [seit dem 11. September] von vermeintlichen Glaubensbrüdern distanzieren und das Selbstverständlichste beteuern: dass ich natürlich nicht mit diesen Irren von al-Kaida, dem ,Islamischen Staat‘ oder sonstigen Hasspredigern sympathisiere. […] Doch auch Muslime blicken hilflos auf die islamistischen Terroristen. Sie fallen deren Attentaten genauso zum Opfer wie andere Bürger auch. […] International betrachtet sind Muslime gar die Mehrheit der Opfer von islamistischem Terror. […] Diese Bedrohung ist [für die muslimischen Gemeinden] nicht abstrakt oder fern; sie ist nah, sie ist persönlich und sie schmerzt.“ 7)Kübra Gümüsay: Und jetzt Hoffnung, in DIE ZEIT Nr. 3, 15. Januar 2015, S. 5.

Wie um ihr beizupflichten, erklärte Claus Kleber in den Abendnachrichten nach dem Attentat auf Charlie Hebdo, dass man nicht von Millionen Muslimen verlangen könne, sich ausdrücklich von fanatischen Mördern zu distanzieren. Er könne verstehen, wenn Muslime dies als Zumutung empfänden. Seine muslimischen Kollegen hätten von ihm auch nicht verlangt, dass er sich von Anders Breivik distanziere. Den Widerspruch und das Unwohlsein, welche die bisher Zitierten nur gefühlt und gespürt haben, diagnostizierte der französische Sozialwissenschaftler Michel Wieviorka präziser:

  • „Genauso schlimm ist aber der in sich widersprüchliche Bekenntniszwang, der allen Muslimen auferlegt wird: Sie sollen schwören, dass sie in erster Linie Bürger sind, nicht Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft. Gleichzeitig soll jeder von ihnen im Namen des Islam und seiner Gemeinde erklären, dass er gegen Gewalt ist. Das typische Double-Bind: Tun Sie das, was ich Ihnen verbiete zu tun. Ich sage das als Jude: Wenn ich Muslim wäre, wäre ich sehr wütend. Warum muss ich mich als Bürger nach jedem Anschlag rechtfertigen? Das ist Rassismus und zeigt, wie heruntergekommen unser republikanisches Modell ist. Als Muslim bin ich nie ,gleich‘, sondern a priori verdächtig.“8)Eine emanzipatorische Katastrophe? Interview mit Michel Wieviorka, SZ 19. Januar 2014, S 9.

Jede dieser Positionen hat teilweise Recht. Aber alle übersehen den dahinterstehenden Konflikt zwischen individueller und kollektiver Wahrnehmung. Die Negierung des Individuums kann durch verschiedene Formen der „blinden Vormacht aller Kollektive“ geschehen: Also vom Rassismus bis hin zu linker Identitätspolitik, welche auch von Betroffenen in Anspruch genommen wird.

Die deutsche Öffentlichkeit und die Muslime. Was könnte sie besser machen?

Kann man dem entkommen? Ich meine, ja: Wir sollten Muslime zunächst als Individuen und als Bürger ansehen und sie entsprechend behandeln. Eine zweite Diskussion um doppelte Loyalitäten, wie im 19. Jh. in den USA bezüglich der jüdischen Einwanderer ist unnötig, bzw. würde wohl auf das gleiche Ergebnis hinauslaufen – man könne Amerikaner und Jude sein, lautete der Befund. Man kann selbstverständlich deutscher Bürger, Demokrat und Muslim sein. Wer sich allerdings in der Öffentlichkeit als Muslim zeigt, beispielsweise, indem er typische Insignien der Religion wie das Kopftuch trägt, der gibt diese republikanische Neutralität von sich aus auf. Wer bewusst als Muslim wahrgenommen werden will, stellt diese Identität über die bürgerliche 9)Siehe zu dem Thema beispielsweise blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/kopftuch-und-liberalismus/. und muss dann aber auch in Kauf nehmen, sich dafür zu rechtfertigen. Bei öffentlichen Blumenniederlegungen nach Anschlägen sieht man denn auch immer wieder, ob in Sidney oder in Paris, Bilder kopftuchtragender Frauen, die damit zum Ausdruck bringen: Seht her, wir sind Muslime, trauern aber mit euch.

Erst recht kann man von (selbsternannten oder gewählten) Vertretern der Muslime eine Positionierung, wenn nicht gar eine Rechtfertigung erwarten. Wer für sich in Anspruch nimmt, für eine Gemeinschaft, gar für die Muslime zu sprechen, muss sich auch Fragen gefallen lassen nach unangenehmen Erscheinungen des Islams. Schließlich erwarten wir auch von den christlichen Kirchen eine Positionierung zu Kindesmissbrauch, Kreuzzügen, Luthers Judenhass etc. In der Tat reagieren die meisten islamischen Gemeinden inzwischen schnell mit Verlautbarungen auf ihren Homepages nach Terroranschlägen. Teilweise auch mit eher kläglich besuchten Demonstrationen.

Eine kollektivistische und kommunitaristische Sichtweise spielt letztendlich Islamisten in die Hände. Sie stärkt nebenbei auch andere Extremisten, etwa Rechtsextremisten, denen damit ein leicht abgrenzbares Feindbild geboten wird. Das haben inzwischen viele eingesehen. Auch die Medien haben nach jedem Terroranschlag dazugelernt. Sie tendieren nun weniger zu Pauschalisierungen. Erwünscht ist eine Normalisierung: Muslime sind Individuen, gute wie schlechte. Feindbilder gehören demontiert, genauso wenig sollte man ihnen romantische Illusionen entgegensetzen. Diese sind genauso stereotyp und realitätsfern wie Feindbilder.

Es gibt auch Muslime außerhalb Deutschlands. Das macht die Lage komplexer.

Wir haben gesehen: Der Staat kann die Maßstäbe einer liberalen Demokratie an seine muslimischen Bürger anlegen. Schwieriger wird es, wenn wie so häufig die Öffentlichkeit dies auf Muslime außerhalb Deutschlands überträgt. Und umgekehrt: Muslime in Deutschland befinden sich unter Rechtfertigungszwang für Geschehnisse im Ausland. Dabei sind sie nicht Botschafter Saudi-Arabiens oder des IS. Wir vergessen allzu häufig, wenn es um Muslime im Ausland geht, den anderen Umständen Rechnung zu tragen: Der Großteil der Muslime weltweit kann nicht unter freiheitlichen Bedingungen leben, arbeiten und sich äußern. Erschwerend kommt hinzu, dass der Islamismus in vielen Ländern als Waffe gegen Diktaturen dient und gedient hat. Hier wird die vermeintlich höchste Autorität, Gott, gegen die höchste irdische Autorität, den Herrscher, bzw. den Diktator bemüht. Das ist und war häufig die einzige Möglichkeit, sich einigermaßen frei zu äußern. Naheliegend ist auch, dass die Diktatoren sich wiederum Gott zu Eigen machen, um Islamisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das hat zur Radikalisierungsspirale beigetragen. Viele muslimische Länder kennen die absurde Situation, dass neben todesmutigen und hierzulande viel zu wenig beachteten Atheisten und Säkularisten, zahlreiche Bewegungen mit dem Islam argumentieren: Die Feministen (Gender Jihad), die Konservativen, die Progressiven, selbst die Liberalen,…

Konsequenzen können diese Entwicklungen wiederum für die muslimischen Mitbürger in Deutschland haben. Aber die Fixierung auf ausländische Diskurse geht nicht nur von den islamischen Gemeinden in Deutschland aus, sondern auch von der nach wie vor ausschließenden Haltung des Staates und der Mehrheitsgesellschaft. Eine Emanzipation von den Diskursen der Herkunftsländer (teilweise der Großeltern) könnte in einem säkularen Diskurs von Muslimen in Deutschland münden, bzw. diesen derzeit nur von einigen wenigen geführten Diskurs verstärken. Es sollte kein Thema sein, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Das Grundgesetz fragt nicht danach. Grundrechtsträger sind nur Menschen, keine Religionen. Es ist eine kontraproduktive Alibi-Diskussion.

Unabhängig davon, wie Entwicklungen bewertet werden oder wie sich Entwicklungen aus dem Ausland auf inländische Gemeinschaften auswirken, haben Muslime das gleiche Recht wie Christen, in erster Linie als Mitbürger zu gelten. Dies konsequent umzusetzen wird langfristig der gesamten Gesellschaft zugutekommen. Eine konstruierte Dichotomie „Wir/Muslime“ ist kontraproduktiv. In einem neutralen Staat steht allen alles zu, was der Einzelne für sich in Anspruch nimmt. Das ist das Wesen von Grundrechten. Man hört immer wieder die absurde Behauptung, der Islam sei mit der Demokratie nicht vereinbar, weil die Werte der Aufklärung angeblich aus dem Christentum stammten. Abgesehen davon, dass dann der Anspruch der Menschenrechte, universell zu sein, obsolet wäre, 10)Siehe Abdullahi An-Nai’m: Islam and Human Rights, New York 2010 ist dies eine äußerst geschichtsblinde und bildungsferne Sichtweise. 11)Andreas Edmüller: Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist. Marburg, 2015.

Was können wir gegen eine Religionisierung tun?

Bürger sind Individuen! Zunächst einmal sollten wir muslimische Mitbürger in erster Linie als Mitbürger, nicht als Muslime sehen. Das Aufzwingen einer muslimischen Identität führt geradewegs zur gesellschaftlichen Segregation und in eine kommunitaristische, vormoderne Gesellschaft.

Die Erhaltung der Säkularisierung geht einher mit dem Schutz der Grundrechte. Davon unbenommen dürfen Muslime von sich aus diese Identität in den Vordergrund stellen und freiwillig die republikanische Neutralität aufkündigen. Religionsfreiheit ist ein wichtiges Gut. Aber die Vorherrschaft des säkularen Staates darf dadurch nicht in Frage gestellt werden. Dies gereicht nicht nur religiösen Minderheiten zum Vorteil.

Der Staat sollte sich nicht in theologische Fragen einmischen. Der Staat müsste aufhören, vielschichtige Probleme zu islamisieren. Der Islamismus sollte für ihn hauptsächlich ein Extremismus- und ein Sicherheitsproblem sein. Das Integrationsproblem hat auch mit Weltbildern, Sprache, Bildung, sozialer Herkunft und Kultur zu tun. Hieraus ergeben sich zahlreiche Ansätze. Wenn möglich, sollte der Staat gar die Finger von der Religion lassen und sich nicht als Theologe gerieren. Das bleibt den Gläubigen überlassen.

Theologische Herausforderungen zu meistern ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft. Selbstverständlich kann man und sollte man sogar problematische Islamauslegungen thematisieren: Das bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sowohl der Nichtmuslime, als auch insbesondere der Muslime selbst.

Judith Faessler, 31. März 2018

 

Über mich

Ich wurde 1971 in Genf (Schweiz) geboren, besuchte den Kindergarten in Kalifornien, verbrachte meine gesamte Schulzeit in Frankreich und studierte Orientalistik in München. Seit vielen Jahren habe ich nun zwei Hauptaufgaben, denen ich fast meine gesamte Wachzeit widme: Die Befassung mit Extremismus und der Versuch, zwei Kinder (männlich) großzuziehen.

References   [ + ]

1. Beispielsweise: www.zeit.de/online/2008/03/jugendgewalt-kroenig, gesichtet Februar 2018
2. Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 2BvR1500/97, 19. Dezember 2000. Zur Verfassungsbeschwerde der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland e.V., Randnotiz 89
3, 11. Andreas Edmüller: Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist. Marburg, 2015.
4. Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft I/II, Gesammelte Schriften, ab S. 674, 1966
5. 74. Brief aus Paris vom 7. Februar 1832, gutenberg.spiegel.de/buch/briefe-aus-paris-1678/74
6. Giovanni di Lorenzo: Mut ist schnell gesagt, in DIE ZEIT Nr. 3, 15. Januar 2015, S. 1
7. Kübra Gümüsay: Und jetzt Hoffnung, in DIE ZEIT Nr. 3, 15. Januar 2015, S. 5.
8. Eine emanzipatorische Katastrophe? Interview mit Michel Wieviorka, SZ 19. Januar 2014, S 9.
9. Siehe zu dem Thema beispielsweise blog.projekt-philosophie.de/liberalismus/kopftuch-und-liberalismus/.
10. Siehe Abdullahi An-Nai’m: Islam and Human Rights, New York 2010

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